Ich stelle mir vor, wie es ist, zwei Kulturen in sich zu haben. Das heißt für mich: Ich erinnere mich. Es ist nicht ganz dasselbe, wenn wir im Zusammenhang mit MeTwo von den Problemen reden, die bikulturell aufgewachsene Menschen heute in Deutschland haben, und zwar vor allem dann, wenn eine der Kulturen, der sie sich verbunden fühlen, eine islamische ist. Die Rede ist von den „Deutsch-TürkInnen“. Aber auf eine gewisse Weise habe ich diese Bikulturalität ebenfalls erlebt. Als junger Mann, der sein Schwulsein entdeckte, erfuhr ich in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehr schnell und eindrucksvoll, dass es ein überliefertes Wissen der Völker gibt, das flott herangezogen und zitiert wird, wenn es darum geht, jemanden auszugrenzen. Es gab eine Kultur der Liberalität und Gleichberechtigung, die gerade heranwuchs, und es gab eine Kultur der Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, die aus früheren Jahrhunderten überliefert war und noch immer wirkte. Für mich war damals keine Frage, welcher dieser Kulturen ich mich anschloss. Im übertragenen Sinn: welche Staatsbürgerschaft ich annahm. Wer dies am eigenen Leib erlebt hat, dürfte für den Rest seines Lebens sensibilisiert sein, wenn es darum geht, schnell über andere Menschen zu urteilen.
Zwei Kulturen – ein Mensch. Im Zusammenhang mit Nationalspieler Mesut Özil haben wir schon über dieses Thema diskutiert. Daraus folgte die #MeTwo-Kampagne, die vor allem darauf aufmerksam machte, dass es viele Menschen gibt, die sich außer mit der bundesrepublikanischen Kultur, in der sie aufgewachsen sind, auch mit der Herkunftskultur ihrer Eltern und auch deren Herkunftsland verbunden fühlen: mit der Türkei. Diese Verbundenheit ist keineswegs zwangsläufig gleichzusetzen mit Zustimmung zum türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan, auch wenn dieser Aspekt in den Diskussionen im Vordergrund stand und auch wenn Mesut Özil dem mit seinem Fotoshooting Vorschub leistete. Sie bedeutet zunächst einfach nur: Hier ist ein Teil meiner Wurzeln. Der andere Teil ist woanders. Die Spreizung zwischen den Wurzeln wird zum Problem.
Diese Debatte will zum sensiblen und respektvollen Umgang miteinander und mit Menschen anderer Kulturen auffordern und beitragen. Ich bitte alle, die sich an dieser Debatte beteiligen, um Respekt und Sensibilität nicht nur im Ton. Wagen Sie ein kleines Experiment: Versuchen Sie, sich zu erinnern! Ich bin überzeugt davon, dass es in jeder Biografie jedes Menschen Aspekte gibt, da er oder sie sich bewusst wurde, dass sie oder er anders war oder ist als die anderen. Schließlich ist kein Mensch wie der andere. „Normal“ wird so zum Schimpfwort. Es ist immer das andere, die andere Position, die Diskussionen beflügelt. Wir sollten das Andere daher hoch schätzen.
Wenn man Debatten als Teil lebendiger Demokratie hoch schätzt, muss natürlich auch Kritik erlaubt sein. Vielleicht haben sich die „Deutsch-TürkInnen“ bisher nicht genug in den Diskurs eingebracht? Vielleicht waren sie ja – es mag da verschiedene Lager geben – vor allem damit beschäftigt, sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu beweisen und Erfolg zu haben, weil sie ihren Wert beweisen wollten? Während andere aus derselben Community aus so etwas wie Heimatliebe heraus alles gutheißen, was ihr „verehrter Herr Präsident“ in der Türkei macht?
Die FR hat ihre Leserinnen und Leser dazu aufgerufen, ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus im Zuge von #MeTwo zu dokumentieren. Ich habe drei Zuschriften bekommen, davon eine von einem Leser griechischer Abstammung. Diese geringe Zahl sagt vielleicht etwas darüber aus, wie dazugehörig sich die „Deutsch-TürkInnen“ fühlen. Oder wie wichtig Ihnen diese Debatte wirklich ist. Hier kommen diese Zuschriften zum Thema Alltagsrassismus.
#MeTwo
Panagiotis Christodoulopoulos aus Wiesbaden schreibt:
„Sie haben ihre Leser aufgefordert Erfahrungen zum Thema Alltagsrassismus und Diskriminierung mitzuteilen. Als Kind griechischer Arbeitsmigranten (den Begriff „Gastarbeiter“ empfinde ich als zutiefst irreführend bzw politisch gelenkt, weswegen er meines Wissens in der Migrationsforschung auch nicht verwendet wird) fühlte ich mich sogleich angesprochen. Und da ich ganz bewusst keinen Twitter- oder Facebook-Account habe, um mich über #metwo zu äußern, nehme ich Ihr Angebot gerne wahr.
Was mir spontan in den Sinn kam sind alltägliche Szenen mit Deutschen wenn ich mich vorstelle. Früher hieß es oft überrascht: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“, und bis heute schallt mir ein verwundertes: „Du siehst aber garnicht Griechisch aus!“ entgegen. Interessanterweise habe ich auf die Gegenfrage „Wie sieht denn ein typischer Grieche aus?“ bis heute kein einheitliches Bild zusammenbekommen. Okay, das ist jetzt eher harmlos und geht eher in Richtung ‚Vorurteil besteht nicht den Realitycheck‘. Außerdem gehe ich mal davon aus, dass es die Leute nicht böse meinen.
In der aktuellen Debatte wird bislang eher selten darauf hingewiesen, dass innerhalb der Migrantencommunity nicht immer nur Blümchen verteilt werden. Das wurde mir bewusst, als Verwandte seinerzeit über Spätaussiedler herzogen, die aus Osteuropa nach Deutschland kamen. Die damaligen Argumente waren klar rassistisch geprägt. ME wiederholt sich dieses Schema in der aktuellen Situation.
Etwas unvorbereitet traf mich die Griechenlandkrise. Nicht materiell. Vielmehr wurde ich von Freunden und Kollegen darauf angesprochen, weil ich als Grieche ja wohl vom Fach bin. Mit dem Argument, dass ich für die Verfehlungen der politisch Verantwortlichen in Athen der falsche Ansprechpartner bin, kam ich nicht weit. Also entspannen sich Diskussionen, die fast immer sehr schnell das Bild des faulen Südländers stressten, der auf Kosten deutscher Steuerzahler in Saus und Braus lebt. Waren mitunter anstrengende Debatten. Witzigerweise gab es die hitzigsten Gespräche mit Freunden die aus Ostdeutschland kommen bzw mit einer Brasilianerin verheiratet sind, deren Vorfahren vor über 100 Jahren aus dem Hunsrück auswanderten.
Als ich meine Frau kennenlernte kam die für mich neue Dimension der Binnenmigration hinzu. Meine Frau kommt aus Thüringen und zog nach Mainz, weil sie nach ihrer Ausbildung keine Stelle als Erzieherin in der Region um Erfurt fand. Ihre Familie nahm mich zwar etwas skeptisch auf, aber das legte sich bald. Dasselbe galt übrigens im umgekehrten Fall für meine Familie.
Das hatte und hat den spannenden Effekt, dass ich mich seitdem in Situationen wiederfinde, wo ich mich genötigt fühle, den Osten gegen dumme und, ja, rassistische Sprüche zu verteidigen. Fühlt sich etwas strange an, aber ich hätte ein schlechtes Gewissen meiner Frau und der angeheirateten Verwandschaft gegenüber, wenn ich in solchen Momenten die Klappe halten würde.
Ups, ist ja doch ne Menge Zeugs geworden. Ich hoffe Sie nicht zugebabbelt zu haben und wünsche Ihnen und allen in der Redaktion ein schönes Wochenende!
Yasmin Alinaghi aus Frankfurt:
„Die von Ihnen zusammengestellten Erfahrungsberichte zu Alltagsrassismus unter dem Hashtag „MeTwo“ finde ich sehr gelungen. Sie suchen für Ihren nächsten Bericht zwar Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber ich lasse Ihnen meine folgende Erfahrung trotzdem zukommen, da sie aus meiner Sicht ebenso eklatant wie anschaulich ist:
Der Vorfall ereignete sich vor einigen Jahren in der Kanzlei eines Notars, der den Kaufvertrag einer Immobilie beurkunden sollte. Als ich zum Termin erschien, wurde ich vor Verlesung des Vertrags gebeten, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem ich bestätigte, dass ich der deutschen Sprache mächtig und in der Lage sei, den Inhalt des Vertragswerks zu verstehen. Der Notar beharrte drauf, obwohl er im anschließenden Streitgespräch einen lebhaften Eindruck von meinen Deutschkenntnissen erlangt haben dürfte und ich ihm zudem meinen deutschen Personalausweis vorlegte, aus dem ersichtlich ist, dass ich in Deutschland geboren bin. Der Vertrag wurde im zweiten Anlauf „ohne Sprachprüfung“ bei einen anderen Notar unterzeichnet.“
Eine Leserin, die nur anonym veröffentlicht werden möchte (Identität ist der Redaktion bekannt), schreibt ausführlich:
„Es hat mich gefreut, dass sie sich auf diese Weise mit dem Thema Alltagsrassismus auseinandersetzen und Menschen zu Wort kommen lassen, die für unsere Stadt, für unser Land gutes tun, ein normales Leben führen, Berufe ausüben, die in der Regel jede/ e in unserem Land erreichen kann. Es hat mich gefreut, dass hier nicht (wieder) der Arme, ungebildete Ausländer aufgegriffen wurde sondern Menschen, die mitten in der Gesellschaft stehen, die wir brauchen. Es hat mich gefreut, dass sie Menschen zu Wort kommen lassen, die etwas erreicht haben. Menschen, mit denen man sich identifizieren kann. Menschen, die ein gutes und vielleicht nachzuahmenendes Leben führen, die sich junge Menschen vielleicht als Vorbild nehmen können, die Ihnen Mut machen es auch schaffen zu können, obwohl sie einen Migrationshintergrund haben. Von solch einer Darstellung in der Presse fehlt es meiner Auffassung nach. Denn über negatives, gerade im Zusammenhang mit Menschen mit Migrationserfahrungen, wird zu häufig in einem negativen Zusammenhang berichtet. All die positiven gehen dabei oft unter. Das ärgert mich zutiefst. In meiner Realität gibt es viel mehr positive Migrationsbiographien. Davon sollte mehr berichtet werden.
Nun zu meiner eigenen Biographie und meinen Erfahrungen zum Alltagsrassismus:
Ich bin in Deutschland geboren, habe eine deutsche Mutter, einen türkischen Vater. Bin seit mehreren Jahren im Bildungsbereich als Führungskraft tätig. Als Kind habe ich mich als Kind gefühlt. Nicht mehr, nicht weniger. In der Grundschulzeit wurde ich aber schon von meiner Lehrerin gefragt, woher ich käme. Da ich schüchtern und zurückhaltend war, konnte ich auf diese Frage nicht antworten und war etwas zerstört. Zuhause fragte ich meine Mutter, woher ich denn eigentlich käme. Meine Mutter war über meine Frage verdutzt und wollte wissen, wie ich auf diese Frage käme. Sie sagte mir, wenn noch einmal jemand fragt, du bist aus Deutschland, du bist deutsch. Meine Eltern hatten uns Kinder türkischklingende Namen verpasst, das fanden sie schön. Somit wurden wir aber immer wieder mit dieser Frage konfrontiert. Eigentlich kein Problem, doch wenn man Kind ist, will man so sein, wie alle anderen und nicht solch eine Frage gestellt bekommen, wenn man eh von hier ist. Man will dazu gehören, nicht anders sein, Kind sein. Als ich älter wurde und es um die Entscheidung des weiteren schulischen Werdegangs ging, war klar, wir gingen auf die Hauptschule. Unsere Halbschwester, die blondes Haar und einen deutschen Namen trug, wurde auf eine sehr gute Mädchen Realschule zugelassen. Ich wollte auch auf diese besondere Schule, meine Grundschullehrerin musste eine Beurteilung schreiben, nur so wurde man aufgenommen. Bei mir hatte es nicht mit der Aufnahme geklappt. Ich ging, so wie auch meine beiden Brüder auf die Hauptschule. Während dieser Zeit musste ich nie lernen, konnte viel spielen, alles war sehr leicht. Ich hatte gute Noten und wollte auf die Realschule. Ich fragte meinen Lehrer. Er sagte, dass dies gehen würde. Nach den Sommerferien fragte ich ihn, was denn nun mit der Realschule sei. Er meinte, ich solle doch erst noch einmal in der Klasse bleiben. Ein weiteres Jahr verharrte ich in der Hauptschule. Wir bekamen eine neue Klassenlehrerin, ich hatte schon fast meinen Wunsch, die Realschule zu besuchen, aufgegeben. Sie kam auf mich zu und fragte mich, ob ich nicht auf die Realschule gehen wolle. Meine Noten wären gut. Sie kümmerte sich darum und ich konnte die Realschule besuchen. Dort blieb ich 2 Jahre und bewarb mich dann für ein Oberstufengymnasium. Dort machte ich mein Abitur und studierte. Meine Schwester brach ihr Studium ab, mein ältester Bruder wurde Lehrer, mein jüngerer Bruder Pastor. Ich frage mich oft, hätte man uns besser fördern sollen? Meine Brüder und ich hatten immer das Gefühl, dass man es uns nicht zutraut. Als ich noch in der Hauptschule saß und die Berufsberaterin da war und uns fragte, was wir beruflich machen möchten, bekam ich Hohn ab, als ich sagte, dass ich studieren möchte. Es glaubte niemand daran, es nahm mich niemand ernst. Auch heute noch gibt es Lehrkräfte, die die Schüler/innen auslachen, wenn Sie sagen, dass sie auf das Gymnasium gehen möchten. Das ist falsch. Was benötigt denn ein junger Mensch? Menschen, die an ihn glauben, Zuversicht, Ichstärkung, Unterstützung. Natürlich gibt es Schüler/innen die sich nicht richtig einschätzen, aber dürfen sie nicht den Wunsch haben, einen guten Schulabschluss zu erreichen? Darüber lachen sollte man nicht. Mich hatte es zum Glück bestärkt meinen Weg zu verfolgen.
Bei der Wohnungssuche habe ich am Telefon zu hören bekommen, das der Vermieter nicht an Türken vermiete. Ich sagte, ich bin Deutsche. „Ja, ja, aber ihr Name, das nimmt ihnen de Vermieter nicht ab.“
Mit diesen Erfahrungen wirst zum Ausländer gemacht, ob du dich so fühlst oder nicht. Auch bei meinen deutschen Freunden heißt es manchmal, ich treffe mich mit der türkischen…
.Als ich im Krankenhaus lag, völlig geschafft von der Geburt, fragte mich die Krankenschwester sehr deutlich, sehr langsam und laut sprechend, ob ich noch etwas benötige. Da ich so geschafft war, brauchte ich eine Weile und wollte ihr antworten, sie kam mir zuvor und fragte mich, ebenso deutlich und ganz klar artikuliert, ob ich deutsch spreche und sie verstehen könne. Leider konnte ich nicht schnell genug reagieren, nickte nur ab. Bis heute ärgere ich mich darüber. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, das mein Sprachgebrauch sich wahrscheinlich von ihrem abhebe. Sie hatte es bestimmt nicht böse gemeint, doch hat sie sich von einem Namen, der eindeutig türkisch klingt, zu der Annahme verleiten lassen, dass ich Türkin bin, Kinder bekomme, kein Deutsch verstehe.
Als ich mein Kind im Kindergarten anmelden wollte, hatte ich mit der Leiterin einen Termin am Telefon vereinbart. Meinen Namen hatte sie sich notiert. Als ich dort ankam, fragte mich die Leiterin, was ich möchte. Ich sagte ihr, dass wir doch telefoniert und einen Termin vereinbart hatten. Dann sagte sie erleichtert, ach ich habe eine türkische Mutter erwartet. Mein Kind meldete ich dort nicht an. Lange habe ich darüber nachgedacht, wie wohl diese türkische Mutter auszusehen hat.
Ich habe mich mit der Zeit an solche Begebenheiten gewöhnt, bin manchmal müde das aufzugreifen und zu diskutieren. Natürlich es ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Doch, was mich an dieser Sache am meisten aufregt, was mich wahnsinnig macht, ist folgender Sachverhalt. Ich habe mich nie freiwillig mit meiner doppelten Identität beschäftigt, doch durch viele Erfahrungen musste ich mich mit meiner doppelten Identität beschäftigen. Ich habe mich nicht freiwillig dafür entschieden 2 Kulturen in mir zu tragen. Ich war im Laufe der Zeit eher gezwungen dazu Stellung zu nehmen, mich damit auseinanderzusetzen. Also tue ich dies. Am schlimmsten finde ich die Debatte um die beiden Staatsbürgerschaften. Was mich am meisten daran ärgert ist, das es Menschen gibt, die über mein ICH bestimmen möchten. Die behaupten, es darf keine doppelte Staatsbürgerschaft geben. Was soll das? Niemand hat das Recht über mein ICH, über meine Identität zu urteilen. Vor allem nicht diese Personen, die überhaupt keine Ahnung von dem Thema haben. Ich setze mich schon mehr als 35 Jahre mit diesem Thema auseinander. Da kommen da irgendwelche Monobiographien daher und wollen uns sagen, dass wir einen Teil von uns ablegen sollen. Welch eine Arroganz, wie vermessen. Manchmal habe ich auch das Gefühl, dass diese Menschen ein bisschen neidisch sind, mache vielleicht. Ich kann es mir sonst gar nicht erklären, warum sie sich das Recht herausnehmen über etwas zu urteilen, was sie nicht einmal im Ansatz versehen. Das ist ein Teil von mir, 2 Staatsbürgerschafren, 2 Identitäten, 2 Kulturen. Und glaubt mir, das war nicht einfach die ersten 30 Jahre damit klar zu kommen. Immer wieder musste ich mich legitimieren, rechtfertigen, erklären, . Ich habe viel darüber nachgedacht, mit meinem Bruder reflektiert, diskutiert,… aber ich weiß heute dafür ganz genau, das darf mir niemand nehmen, das bin ICH, das macht mich aus. Niemand hat das Recht mir meine Identität zu nehmen.“
„Niemand hat das Recht mir meine Identität zu nehmen.“
Diesen Satz der anonymen Leserin wird man nur voll unterstreichen können.
Der Zusammenhang mit sehr wohl aggressiven Äußerungen gegenüber „doppelter Staatsbürgerschaft“ ist auch nachvollziehbar. Die kommen seit der demagogischen Koch-CDU-Kampagne („Wo kann man hier gegen Ausländer unterschreiben?“) in regelmäßigen Abständen immer wieder vor.
Allerdings ist es ein Fehler, solches immer nur klagend aus einer Opferperspektive (ob berechtigt oder unberechtigt) vorzutragen.
Man muss es schon in einem breiteren Zusammenhang sehen und der Sache auf den Grund gehen.
Hier ein solcher Versuch in Form begründeter Thesen.
(1) Der „Zwischenmensch“ als Grundproblem menschlicher Existenz.
Jeder Mensch ist von Natur aus als Folge eines Zeugungsakts per se ein „Zwischenmensch“, auch, aber nicht nur, im biologischen Sinn. Nicht nur trägt er/sie männliche wie weibliche Erbteile in sich, Auseinandersetzung mit beiden Erbteilen und deren kulturellen Hintergründen ist eines der Grundprobleme menschlicher Existenz.
(2) „Zwischenmenschen“ als Abkömmlinge aus verschiedenen Kulturen.
Abstammung von Elternteilen aus unterschiedlichen Kulturen ändert diesen Sachverhalt nicht prinzipiell. Dies macht diese Auseinandersetzung mit Urgründen der eigenen Existenz lediglich bewusster. Zugleich erhält diese Auseinandersetzung eine größere Breite und Tiefe. Dies insofern, als vermeintliche Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden müssen.
Durch Ausgrenzung von außen wird eine solche Auseinandersetzung freilich erheblich erschwert. Dies gilt in ähnlicher Weise etwa für Homosexuelle.
(3) Patriarchat und Nationalismus als Formen geistiger Kastration.
Das Patriarchat steuert menschliche Entwicklung – bei Männern und Frauen unterschiedlich – in höchst rigider Form. Es behindert zugleich erheblich die Herausbildung einer eigenen Ich-Identität.
Nationalismus versucht – ähnlich wie das Patriarchat – Ich-Schwäche durch Steuerung mittels äußerer „Mächte“ (scheinbar) zu kompensieren. In Wahrheit formiert und schwächt es das „Ich“ noch mehr.
(4) Klischees von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ als entfremdende kulturelle Prägung.
Klischees von „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ (in Europa stark im 19. Jahrhundert, heute noch in islamisch sowie orthodox geprägten Ländern) treiben, während sie Sexualität zu unterbinden oder zu „regeln“ vorgeben, ihre Dämonisierung und die Sexualisierung in Wirklichkeit voran. Sie machen entartete Formen des Menschseins zur „Norm“ und führen zu Selbstentfremdung.
(Beispiel: Selbstkastration, etwa in Lenz: „Der Hofmeister“.)
(5) Aggressivität gegen andere Kulturen als Ausdruck eigener Selbstentfremdung.
Die Unfähigkeit einer schwachen Ich-Identität, zwischen (nicht hinterfragten) gesellschaftlichen Normen („Über-Ich“) und unkontrolliertem Verlangen („Es“) zu vermitteln, führt
– einerseits zu scharfer Abgrenzung von anderen Kulturen (aus dem Zwang heraus, sich selbst zu bestätigen, Fremdenfeindlichkeit),
– andererseits zu Aggressivität gegenüber Menschen, die (meist gefühlsmäßig) als „überlegen“ erkannt werden (z.B. Intellektuellenhass).
(6) Aggressivität gegenüber Menschen mit doppeltem kulturellem Hintergrund (doppelter Staatsangehörigkeit) als Ausdruck eigener Minderwertigkeitskomplexe.
Menschen mit doppeltem kulturellem Hintergrund werden – von Menschen, die patriarchale Verhaltensweisen verinnerlicht haben – mit Vorliebe zu Hassobjekten, weil sie als Person eben das verkörpern und in sich vereinen, was unbewusst als eigenes Defizit wahrgenommen, aber nicht akzeptiert (verdrängt) wird. Sie rufen sowohl Unterlegenheitsgefühle (breiteres kulturelles Bewusstsein, vgl. These 2) als auch Gefühle der Bedrohung (Fremdheit) hervor.
Die Aggressivität äußert sich in der Form, dass diese Menschen auf ihre (als bedrohlich empfundene) Fremdheit reduziert werden, ihnen das Gemeinsame mit der eigenen „Kultur“ abgesprochen wird.
(7) Umschwenken binational geprägter Menschen in Opferattitüde als Form nationalistischer Regression.
Unter dem verheerenden Einfluss von Islamismus und der Erdogan-Clique auf die türkischstämmige Community steigern sich Teile derselben (teils aus Hilflosigkeit, teils aus Trotz) in eine Opfer-Rolle hinein und antworten auf Ausgrenzungsversuche von Teilen der (ur-)deutschen Gesellschaft mit übersteigertem (türkischen) Anti-Nationalismus.
Dies ist nicht nur der völlig falsche Weg. In politischer wie psychologischer Hinsicht stellt dies eine Regression dar, welche Lösungsansätze erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich macht. Dies ist weder von dieser Community (welche gespalten und zerrissen wird) noch von der übrigen deutschen Gesellschaft hinnehmbar.
(Der Imam von Paris spricht in ähnlicher Weise von Islamismus als Rückfall in Formen des Infantilismus.)
(8) Selbstbewusstsein als einzig erfolgversprechende Gegenstrategie.
Der Hauptfehler des unter (7) genannten Verhaltens liegt im Hineinsteigern in Opfer-Attitüden. Dies macht anfällig für nationalistische Demagogie und islamistische Strategie vom Schlage des Erdogan-Clans.
Dem kann nur mit selbstbewusstem Bekenntnis zur eigenen Identität, mithin der Herkunft wie auch der eigenen gegenwärtigen Lebensform begegnet werden. Dies setzt die Auseinandersetzung mit beiden Teilen wie auch deren Verinnerlichung (im Sinne der These 2) voraus.
@ anonym
Zunächst möchte ich Sie darin unterstützen genauer hinzusehen, welchen Menschen man gegenübersteht und die stereotypischen Vorurteile ad Acta zu legen.
Es tut mir leid, dass Sie darunter zu leiden hatten oder noch haben.
Was mir anhand Ihrer Schilderung mit der Krankenschwester durch den Kopf zog ist, dass diese wohl häufiger die Erfahrung gemacht hat, schlecht oder gar nicht verstanden zu werden und sich bemüht hat, Ihnen entgegenzukommen.
So wird etwas wie Zuwendung und Bemühung in das Gegenteil verkehrt.
Hier wäre es hilfreich, die Doppelstaatler anzusprechen um den Vorwurf dort anzubringen, wo er hingehört.
Ich habe beide Erfahrungen gemacht. Privat eher die, dass die Menschen mit zwei Nationalitäten oder auch „nur“ der deutschen, deren Grosseltern gebürtige Türken sind, die deutsche Sprache wie ich sprechen.
Beruflich aber auch die schulischen Belange meines Sohnes betreffend, sind die Erfahrungen von anderer Art. Dort begegnen mir immer wieder Menschen, die Deutsch schlecht bis gar nicht sprechen. Die an Schulen verlangen, dass auf ihre Kinder mehr Rücksicht genommen werden muss, da sie die Sprache nicht gut beherrschen. Es sind Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben!
Was ich sagen möchte, das Bild der Doppelstaatler ist nicht einheitlich und es ist sicher hilfreich die Menschen einzeln zu betrachten. Ihren Wunsch, auch vermehrt ein Bewusstsein für die zu stärken, die wie jeder andere hier sein und leben zu wollen, verstehe ich, sehe ich, unterstütze ich. Die Augen vor dem zu verschließen, was nicht läuft, kann ich nicht.
@ Frau Anonyma,
eines möchte ich vorausschicken: LehrerInnen, die ein Kind, das einen Karrierewunsch äußert, auslachen, fehlt es sowohl an Professionalität als auch an Empathiefähigkeit. So etwas ist schärfstens zu verurteilen.
Dass GrundschullehrerInnen die dauerhafte Leistungsfähikeit ihrer Schützlinge falsch einschätzen, passiert, deshalb gibt es ja die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen. Ich selbst habe 29 Jahre lang an einem sehr gemischtkulturellen Gymnasium unterrichtet und habe häufiger die Erfahrung gemacht, dass GrundschullehrerInnen mit der Empfehlung für weiterführende Schulen eher großzügig umgegangen sind.
Ich erinnere mich an eine Klasse, deren Klassenlehrerin ich Ende der 90er Jahre war, in der bei einer Schülerzahl von ca. 28 nur zehn Kinder nicht wenigstens einen Elternteil mit nichtdeutscher Herkunft hatten. Multikulti war und ist dort Alltag. Die Kinder ärgerten sich durchaus ab und zu gegenseitig wegen ihrer Herkunft, aber eine Benachteiligung aufgrund nicht deutscher Wurzeln habe ich bei Kolleginnen und Kollegen nicht wahrgenommen, wohl aber ab und zu Klagen von Eltern, ihr Kind habe nur deswegen schlechte Noten, weil die LehrerInnen voreingenommen gegen Ausländer seien.
Ihre Erfahrung, liebe Anonyma, verkannt und nicht genug gefördert worden zu sein, ist zu bedauern, umso erfreulicher ist es, dass Sie dennoch Ihren Weg entsprechend Ihren Begabungen gegangen sind.
Sie berichten von einer entspannten, stressarmen Kindheit, und das ist etwas, das Sie vielleicht in der Rückschau auch schätzen sollten. Ich kenne eher den umgekehrten Fall: dass Eltern ihre Kinder unbedingt auf eine weiterführende Schule schicken wollen und es damit (in Hessen haben die Eltern das Recht auf eine Probezeit auf der Schulform ihrer Wahl auch gegen die Empfehlung der Grundschule) überfordern und regelrecht quälen. Manche dieser Kinder hatten bereits in der Grundschule Fünfen in den Hauptfächern, und trotzdem bestehen die Eltern auf der Aufnahme ihres Sprösslings auf einem Gymnasium. Das Kind erlebt sich dann oft leistungsmäßig als Schlusslicht der Klasse, bringt nur Fünfen und Sechsen nach Hause, das Familienklima ist vergiftet, das Kind frustriert und todunglücklich. Wenn die Probezeit (früher in Hessen zwei Jahre, später mindestens ein halbes Jahr) um ist, muss es die Klasse, in der es gerade heimisch geworden ist, verlassen und erlebt sich als Versager. Und in der aufnehmenden Schule spricht sich das Scheitern des Kindes herum, weshalb es nicht selten gehänselt wird. Ein Kind, das so etwas erleben muss, verliert die Lust am Lernen und zieht sich in sich selbst zurück oder wird verhaltensauffällig.
Ich persönlich plädiere eher dafür, einem Kind seine individuelle Entwicklungszeit zuzugestehen und es nicht unter Druck zu setzen. Ihr eigener Werdegang hat gezeigt, dass Erfolgserlebnisse und wenig Druck förderlicher sein können als Striezen und Zwang.
Was die Menschen anbetrifft, die bei Ihnen aufgrund ihres Namens wenig Sprachkompetenz erwarte(te)n, so möcht ich mich den Ausführungen Frau Hartls anschließen. Woher soll Ihr Gegenüber wissen, wie lange Sie schon in Deutschland leben? Auch wenn es heute bei uns Menschen mit türkischen Wurzeln gibt, die bereits in der dritten Generation hier leben, so kennen wir doch auch das Phänomen der sogenannten Importbräute, (oder auch von nach Deutschland geholten Ehemännern) oder auch die Fälle von erst kürzlich vor Erdogans Verfolgung geflohenen Migranten.
Kurz möchte ich noch Bronskis Anregung folgen, mich in meiner eigenen Vergangeneit an Phasen zu erinnern, in denen ich mich „anders“ als meine Umgebung fühlte.
Als Kind und Jugendliche war ich auffällig dünn und musste mir deswegen einige nicht immer lustige Bemerkungen anhören; zudem war ich Katholikin in einer eher protestantisch geprägten Schule. Was ich da so alles an Unverständnis und Boshaftigkeiten gegen meine Kirche zu hören bekam hat mich auch nicht immer gefreut. Meine leidvollste Lebensphase waren allerdings die Jahre, in denen ich an Angststörungen litt. Da fühlte ich mich wirklich als nicht normal. Zwar konnte ich meine Probleme im Beruf mit riesigem Kraftaufwand weitgehend verbergen, aber im Freundes- und Familienkreis begegnete man mir häufig mit Unwillen und Unverständnis. Da bekam ich auch mal zu hören: „Stell dich nicht so an!“
Mich unter diesen Umständen nicht unterkriegen zu lassen, erforderte schon einiges Durchhaltevermögen.