Der Vorsitzende der hessischen SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, macht in der Landespolitik eine recht gute Figur. Was er wohl für eine Politik machen würde, wenn er Landesvater wäre? Wer will, kann ja mal das Regierungsprogramm lesen — oder den Gastbeitrag „Der Mangel wird umverteilt„, der vor einigen Tagen in der FR erschien. Über das Glaubwürdigkeitsproblem der SPD, für das Schäfer-Gümbel allerdings kaum verantwortlich gemacht werden kann, haben wir gerade erst hier im FR-Blog anlässlich der 25-Prozent-Marke gesprochen, um die herum die SPD in allen Umfragen seit langem dümpelt. Auf diesen Gastbeitrag erhielt ich folgenden langen Leserbrief von Heidger Brandt aus Emkendorf. In guter Tradition erscheint eine gekürzte Fassung davon im Print-Leserforum am 9. April und der gesamte Leserbrief als Gastbeitrag hier im FR-Blog.
Das tatsächliche Problem der ganzen Misere
von Heidger Brandt
„Der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft hat sein Fundament in unseren Städten, Gemeinden und Landkreisen,“ erklärt Thorsten Schäfer-Gümbel den Lesern in seiner Antwort auf den Gastbeitrag von CDU-Finanzminister Thomas Schäfer. Dort entscheide sich „im Kern, welche Mittel in Bildungs-, Sozial- und Kultureinrichtungen fließen.“ Das Problem ist jedoch, dass immer weniger Geld da ist. Der Chef der Hessen-SPD weiß auch, woran es liegt, dass „die Handlungsfähigkeit“ der Kommunen „in den letzten Jahren drastisch eingeschränkt“ worden ist. „Schuld“ ist die CDU-Landesregierung mit ihrem „ungerechten Finanzausgleich“ und insbesondere CDU-Finanzminister Schäfer, der den „tatsächlichen Finanzbedarf der Kommunen bei seinen Zuweisungen nicht berücksichtigt“. Will sagen: Diese ungerechte CDU-Regierung muss sofort abgewählt und durch die „gute“ SPD mit Schäfer-Gümbel an der Spitze ersetzt werden. Dann wird endlich Gerechtigkeit Einzug halten und alle Probleme sind gelöst.
Glaubt irgendjemand wirklich, dass sich an der gegenwärtigen Politik auch nur ein Deut ändern würde? Tatsächlich handelt es sich um eine dreiste Täuschung der Wähler. Denn der „Kern“ des Problems der „drastisch“ unterfinanzierten öffentlichen Haushalte, des Sozialabbaus und des Kaputtsparens u.a. des Bildungssystems, der Kultureinrichtungen und der Infrastruktur, liegt ganz woanders. Er wurde in Bonn und Berlin mit Unterstützung der Regierungen der Länder durch sämtliche derzeit regierenden Parteien geschaffen, mit der systematischen Zerstörung der Einnahmeseite des Staates zum Vorteil der Einkommens- und Vermögenssteigerung der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung. Und dies unter maßgeblicher Beteiligung der SPD: Seit der drastischen Steuerentlastung der hohen Einkommen durch die rot-grüne Schröder-Fischer-Regierung wird den Ländern und Kommunen jährlich ein zweistelliger Milliardenbetrag entzogen.
Die Verluste bei der Einkommenssteuer, die zu 42,5 Prozent den Ländern und zu 15 Prozent den Kommunen zusteht, wurden durch das „Jobwunder“ der Agenda 10 noch einmal „drastisch“ erhöht, durch die Umwandlung von Millionen Vollzeit- und regulär bezahlten Teilzeitarbeitsplätzen in eine noch größere Zahl deutlich schlechter bezahlter Leiharbeiterstellen und steuer- und abgabenbefreiter Minijobs. Gleichzeitig wurden die Sozialausgaben „drastisch“ in die Höhe getrieben und die Investitionsfähigkeit von Bund, Ländern und Kommunen zusätzlich „drastisch“ abgesenkt. Die parteiübergreifend organisierte Umverteilung aus der Staatskasse und den Einkommen der Arbeitnehmer in die Gewinne der Unternehmen und die Privatvermögen der ohnehin Wohlhabenden wurde durch die nachfolgende schwarz-rote Merkel-Steinbrück-Regierung noch einmal „drastisch“ gesteigert. U.a. mit der verfassungswidrigen und mit erfundenen Argumenten begründeten Abschaffung der Erbschaftssteuer für Unternehmenserben. Diese Steuer stand – ebenso wie die Einnahmen aus der bereits von der schwarz-gelben Kohl-Genscher-Regierung ausgesetzten Vermögenssteuer – ausschließlich den Ländern zu und damit über den Finanzausgleich auch den Kommunen für die Finanzierung der staatlichen Aufgaben der Daseinsvorsorge und Zukunftssicherung.
Den Verlust aus der Erbschaftssteuerreform bezifferte das Bundesverfassungsgericht jüngst mit 40 Milliarden Euro jährlich. Auch mit diesen Milliarden werden die Privatvermögen der Vorteilsempfänger der sogenannten Modernisierung der Steuergesetze weiter aufgepumpt. Bezeichnenderweise verschweigt Herr Schäfer-Gümbel diese tatsächlichen Ursachen für die „leeren Kassen“ und die beklagte „Gefährdung“ für den „sozialen Zusammenhalt“. Was „wir brauchen“ ist nicht ein „gerechter Finanzausgleich für die hessischen Kommunen“, wie Schäfer-Gümbel vorgibt. Diesen kann es aufgrund fehlender Einnahmen nicht geben. Was wir, die Bürger, zur Wiederherstellung der Finanzierbarkeit des Gemeinwesens tatsächlich brauchen, ist eine Rückabwicklung der Steuergeschenke bzw. die Wiederherstellung der Einnahmeseite des Staates.
Die Verlogenheit auch der derzeitigen SPD-Politik hatte bereits SPD-Chef Gabriel nach der Bundestagswahl 2013 unter Beweis gestellt, als er die vor der Wahl versprochene (Wieder-) Anhebung des Spitzensteuersatzes (um lächerliche 4 Prozent) und die ebenfalls versprochene Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer als „Quatsch“ bezeichnete.
Ach Goddsche, was soll mer zu dem ganze Elend noch saache? Ob iwwerhaubd dadezu noch aaner was saache duht? Also, isch saach nix!
Auch ich kann nur meiner Ratlosigkeit Ausdruck verleihen. Vor allem weiß ich eigentlich längst nicht mehr, welche Partei ich noch wählen soll. Die Linke mit ihrer unklaren Haltung zur DDR und ihrer Verteidigung Putins, offenbar nur, weil er sich gegen den Westen stellt und weil sein früheres Land, die Sowjetunion, sich mal sozialistisch nannte? Eine Partei, die nicht zu merken scheint, dass Putin und seine Anhänger längst alle sozialistischen Grundsätze verraten haben und in einen extrem rechten Nationalismus abgedriftet sind, ist für mich keine Alternative.
Irgendwie hat man mit einer Orientierung, die ich als kritisch links bezeichnen würde, keine politische Heimat mehr.
Nehmen wir mal an, dass die SPD in den nächsten Wahlkampf mit dem Versprechen der Einführung einer Reichensteuer geht. Wird sie Stimmen verlieren oder gewinnen? Mit einer Politik der Umverteilung von unten nach oben erzielt man wohl bedauerlicherweise die meisten Stimmen.
Zur Situation der SPD sage ich nichts. Statt für diesen korrumpierten Haufen stimmte ich fortan bei allen Wahlen für die Grünen, nachdem sie sich als ernstzunehmende Partei zusammengerauft hatten. Damit war nach der Schröder-Fischer-Episode auch Schluß.
Es folgte eine Durststrecke, bis sich DIE LINKE aus WASG und PDS konstituierte, die aufgrund ihrer Stärke in den neuen Bundesländern erstmals eine reale Chance hatte, in den Bundestag einzuziehen.
Seitdem wähle ich wieder links. Und sollte uns das Linkswählen irgendwann in den Untergang des Abendlandes führen, dann: Bingo!
So lange die Grenzbelastung eines zusätzlich verdienten Euro bereits bei einem halbwegs gut bezahlten Facharbeiter incl. Sozialabgaben deutlich über 50% liegt, während Toppverdiener gerade mal mit 45% besteuert werden, so lange die Einnahmen aus der Erbschaftsteuer gerade mal ein Drittel der Tabaksteuer ausmachen (bei ca. 250,- Mrd. Erbmasse jährlich), so lange die ungerechte Kapitalertragssteuer Bestand hat, so lange ist die SPD nicht mehr von ihrer früheren Klientel, den so genannten kleinen Leuten, wählbar. Und so lange wird es die SPD bestenfalls weiterhin zum Juniorpartner der Union bringen. Das hat auch Schäfer-Gümbel anscheinend noch nicht begriffen.
Danke, #4 M.Petersmark und #5, Napez, für die Stellungnahmen. Schön, daß ich mich mit meiner Meinung zu dieser weiteren neoliberalen Partei, welche keiner braucht und die sich auf Dauer überflüssig machen wird, nicht allein stehe.
Was alle Parteien wohl übersehen, ist die Tatsache, daß die „Mitte“ nicht wächst, sondern schrumpft. Wenige schaffen den Aufstieg in die Oberschicht, viele gleiten ab zu den 40% unten, die sich mühsam von Job zu Hartz IV und zurück hangeln. Und um den Rest balgen sich CDU-CSU- FDP-SPD-Grüne und wohl auch Teile der AfD.
Gestandene Politiker aus Erhard- und Brandt-Zeiten, wie Blüm, Katzer, Baum, Hirsch und Andere würden mit ihren Vorstellungen einer „sozialen“ Politik wohl heute in die linke Ecke gestellt.
Ich sehe allerdings keine Rettung in einer rosa-grün-roten Dreier-Koalition – da wäre ein sehr unflotter Dreier. Was versprechen sich Gysi & Co. von so etwas? Das der Schwanz mit dem Hund wedelt? Ich befürchte da eher aufgrund fauler Kompromisse auch das Wachsen von Polit-Verdrossenheit auf der Linken und zum Ende Wahlergebnisse bei Bundestagswahlen wie bei Landtagswahlen: um die 50%.
Helfen könnte da nur eine neue Bewegung a la PODEMOS oder SYRIZA, die einen sehr steinigen Weg zu gehen hätte. Aber vielleicht gäbe es ja noch einige alte WASG’ler mehr wie mich, die dann noch einmal ins linkssoziale Segel pusten würden?
Wer sollte auch 2017 gegen Merkel antreten – Gabriel? Über diesen Clown lachen nicht einmal mehr die Hühner.
Zur SPD auch interessant dieser Kommentar hier:
http://www.wirtschaftundgesellschaft.de/2015/04/spd-meinungsforschung-insa-chef-liegt-so-daneben-wie-die-spd/
Nun auch noch die Vorratsdatenspeicherung… Es gibt kaum noch ein politisches Thema bei dem die SPD nicht mit der CDU ins Bett steigt. Wo gibt es eigentlich noch einen Unterschied zwischen Konservativen und Sozialdemokraten?
Wo hat die SPD noch ein Alleinstellungsmerkmal geschweige denn einen sozialdemokratische Vision? Wo gibt es in der SPD noch einen führenden Politiker, der für seine frühere Überzeugung eintritt? Dass Justizminister Maas von Gabriel platt gemacht würde, war zu erwarten. Er hängt an seinem Amt eben mehr als an seiner (jedenfalls früher geäußerten) Überzeugung.
Der Staat erhebt gegen Sie einen Generalverdacht. Welches Vertrauen sollten eigentlich Sie gegenüber einem Staat aufbringen, der Sie ohne jeglichen Anlass 10 Wochen überwacht, weil er Ihnen zutraut, dass Sie eine Straftat begehen könnten? Oder umgekehrt: Warum sollten Sie einem Staat mehr vertrauen, als er Ihnen vertraut? Der Gesellschaftsvertrag zwischen Bürgern und Bürgerinnen und ihrem Staat wird einseitig vom Staat aufgekündigt.
Hallo Herr Fladung,
es geht eben immer noch eins doller! Nicht nur das die fortgesetzte Untergrabung des Gewaltmonopols auch unter Billigung, gar Beteiligung, der SPD stattfindet.
Nun auch noch die praktisch nutzlose VDS. Die natürlich nichts verhindert, oder verhindern kann. Auch für die Aufklärung ist mir diese Datensammlung eher unzweckmäßig. Auch wenn immer wieder eingewendet wird, wie bitter nötig die VDS für ex-post Maßnahmen sei.
Natürlich Unfug, womit sich der Kreis zum auflösenden Gewaltmonopol schließt. Unfug nicht zulett weil entsprechende „Gefährder“ nahezu immer die „üblichen Verdächtigen“ sind denn mit der TKÜ eigentlich gut beizukommen wäre. Wäre, denn das Personal für Observation und Auswertung ist schlicht weggespart oder war nie eingeplant. Böse Zungen vergleichen diese Entwicklung mit dem bewußten Kleinhalten der Dezernate für Wirtschaftskriminalität durch Inneminister aller Parteien in Raum und Zeit.
Die SPD-Vertreter haben in einer bemerkenswerten Lügenkampagne versucht mit abenteuerlichen Beispielen Begründungen für die VDS dem dumemn Wähler anzutragen. Gibt offensichtlich genug „Bürger2 welche diesen Unsinn schlucken, schlimmer noch…die wählen dann auch noch SPD!
Wolfgang Fladung, gründen Sie eine Partei à la PODEMOS oder SYRIZA, und ich bin die Erste, die Sie wählt. Vielleicht klebe ich auch ab und zu ein paar Plakate :).
# 10, Brigitte Ernst: Ich bin Ansprechpartner für den Nachdenker-Gesprächskreis Kreis Limburg. Wenn Sie auf diesen Link gehen: http://www.nachdenkseiten.de/?page_id=3921
erhalten Sie eine Aufstellung aller Gesprächskreise in D. mit Ansprechpartnern, Tel.- und E-Mail. Die Diskussion ist im Gange, ob ggf. eine Gründung erfolgversprechend wäre oder doch eher die Mitwirkung in einer etablierten Partei. Wenn Sie interessiert sind, suchen Sie sich den für Ihre Region passenden Gesprächskreis aus.
Aber Sie wissen, jenseits Ihres Humors, das es mit Plakate-kleben nicht getan ist.
Die AfD hat es inzwischen bei der Bevölkerung auf Zustimmungsraten von 5 – 7% gebracht, ein Zeichen, das es geht.
@W.Fladung (#11),
natürlich wäre eine Gründung erfolgversprechend. Eine Blamage ist auch ein Erfolg. Podemos totalis hessiensis. Edersee leerlaufen lassen und das versunkenen Dorf zum Widerstandsnest ausbauen. Und dann gegen die Sperrmauer von ganz unten agitieren. Die Welt ist sooo schlecht, da muß man sich gleich den Grundstein vornehmen, oder man knackt Deutschland nicht. Pardon, die hessische Gümbel-EsPehDee. Podemos jammern, podemos plärren. Uns geht es ja sooo schlecht – wenn auch auf weltweit höchstem Niveau.
No Podemos Infrastruktur. Haben Sie auch ein Loch in der Schwarzdecke vor Ihrem Haus und tun nichts dagegen ? Podemos Zeit totschlagen in Jammerzirkeln ? Usted puede nada, Senor !
Die neue spanische Hausfrau:
„Nos encanta dar, pero concedemos nada ….“
Auf schwäbisch dann:
„Wir lieben es zu geben, aber wir geben nichts ….“
…. oder so ähnlich ….. 🙂
Der Leserbrief von Heidger Brandt trifft so was von zu. Die SPD wird so lange sie sich nicht offen von der Schröder Wirtschaftspolitik distanziert in ihrem 20% Gefängnis bleiben. Da muss man gar nicht mehr viel hinzu fügen. Was mit dem Spitzensteuersatz mit der Erbschaftssteuer oder der Vermögenssteuer passiert ist, ist ein Skandal für eine Arbeitnehmerpartei. Das Thema Transaktionssteuer werden sie wohl auch nicht auf die Reihe bekommen obwohl sie zu einer Vermeidung der nächsten Finanzkrise einen großen Beitrag leisten könnte.
In den letzten Tagen hatte die FR als Leitthema das Thema Arbeit. Dazu möchte ich die FR beglückwünschen. Besonders auch das man endlich mal klar dargelegt hat wie der Facharbeitermangel für Ältere wirklich aussieht. Das was da geschrieben worden ist kann ich aus eigenem erleben nur bestätigen. Ich hätte mir gewünscht das Bronski das Thema auch hier im Bloog mal aufgreift.