Zwölf Tage nach den Übergriffen auf der Kölner Domplatte, in Hamburg, Frankfurt und anderswo ist das Erwartbare eingetreten: Die Politik reagiert mit den gewohnten Reflexen auf eine Situation, wie wir sie in Deutschland noch nie hatten. Verschärfung von Gesetzen, Erleichterung von Abschiebung, immerhin auch besserer Schutz für Frauen vor sexualisierter Gewalt. Letzteres ist ein Lichtblick; die unerträglichen Übergriffe auf Frauen und die Vergewaltigungen in Köln scheinen die Entscheidung über das neue, lange geplante Gesetz kräftig anzuschieben. Aber sonst fällt der Politik offenkundig nichts Neues ein als der Versuch, die Öffentlichkeit mit überzogenen Forderungen bedienen zu wollen.
Wir brauchen keine schärferen Gesetze. Unsere Gesetze sind gerade erst verschärft worden. Und auch die Sache mit der Erleichterung der Abschiebung von straffällig gewordenen Asylbewerbern stößt rasch an ihre Grenzen, denn dies setzt voraus, dass Abzuschiebende von ihren Herkunftsstaaten quasi zurückgenommen werden. Doch wenn die Nein sagen — nein, dieser Mann, diese Frau ist bei uns unbekannt? Hinzu kommt, dass Asylbewerber selbstverständlich nicht in Herkunftsstaaten abgeschoben werden dürfen, in denen ihnen Gefahr für Leib und Leben droht. Auch jene Staaten fallen weg, in denen es die Todesstrafe gibt oder in denen gefoltert wird. So sind unsere Rechtsnormen, so will es das Völkerrecht, und so ist es auch gut. Jedenfalls von der idealistischen Warte aus.
Das bedeutet jedoch, dass wir uns mit diesen aggressiven Mentalitäten, wie sie in Köln in dr Silvesternacht manifest wurden, auseinandersetzen müssen. Dazu ist zuallererst vor allem eines nötig: eine schlagkräftige Polizei als Exekutive eines funktionierenden Rechtsstaats. All das Gerede über schärfere Gesetze ist eine Gespensterdebatte, die zu nichts führt — weiße Salbe für Wutbürger. Wenn ich bei „Hart aber fair“ aber höre, dass deutsche Sicherheitsbehörden für die Erfassung und Archivierung der Daten von Flüchtlinge drei verschiedene Softwares benutzen, die untereinander nicht kompatibel sind, ist das nicht gerade geeignet, mein Vertrauen in den Rechtsstaat zu erhöhen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge kann seine Daten also nicht mit denen der Länderbehörden abgleichen? Oh Deutschland, Du Bananenrepublik!
Ja, ich weiß — der Föderalismus und seine Schattenseiten. Solche Zustände müssen natürlich abgeschafft werden. Deutschland muss Geld in die Hand nehmen. Für Deutschkurse, für mehr Lehrerinnen und Lehrer, für Wohnungsbau und viele andere Maßnahmen zur Integration. Aber auch für die personelle Aufstockung der Polizeien sowie für die Stärkung des Justizapparats, damit der Rechtsstaat dort machtvoll auftreten kann, wo dies augenscheinlich dringend nötig ist. Denn wer wird von einem Straftäter, egal welcher Herkunft, erwarten können, dass er Respekt vor einem Rechtsstaat hat — und damit vor dem Staat, den dieser repräsentiert –, wenn weit und breit keine Polizisten zu sehen sind und wenn er zwei Jahre und mehr auf seinen Prozess warten kann? Viele haben dann schon längst vergessen, was sie damals angestellt hatten, und haben möglicherweise weitere Straftaten begangen. Die Forderung nach Beschleunigung der Abläufe in der Justiz ist daher eine der wenigen sinnvollen Forderungen, die jetzt erhoben werden. Das war sie übrigens auch schon vor der vergangenen Silvesternacht, denn es handelt sich um eine alte Forderung, die immer wieder scheiterte. Unter anderem an den Sparzwängen.
Das ist die Debatte, die jetzt geführt werden muss, und zwar ruhig, sachlich und konstruktiv. Es geht nicht um die Profilierung von populistischen Politikern mit Mega-Ego, sondern es geht um die Gestaltung unserer Zukunft. Diese Zukunft wird nach meinem Dafürhalten eine gemeinsame Zukunft mit diesen Frauenverächtern sein, es sei denn, sie gehen irgendwann freiwillig. Das bedeutet: Wir müssen uns wappnen.
Die Flüchtlinge haben begonnen, Deutschland zu verändern. Das kommt für mich schneller als erwartet. Wenn wir den Stier bei den Hörnern nehmen, kann dieser Prozess vielleicht sogar einiges anschieben — sinnvolle Reformen etwa, die bisher an finanziellen Hürden scheiterten. Unter anderem halte ich es sogar für möglich, dass das Wohnungsbauprogramm, das nun nötig werden wird, zusammen mit anderen Maßnahmen wie ein Konjunkturprogramm wirken könnte, das Deutschland helfen könnte, die nächste Wirtschaftskrise zu überstehen. Denn die wird, wie kürzlich der Ökonom Stefan Schulmeister in der FR überzeugend darlegte (pdf wird noch verlinkt), in wenigen Jahren kommen.
Daher hat FR-Autorin Nadja Erb völlig recht, wenn sie auf der Titelseite der FR vom 9.1.16 die bisherige Debatte als verkehrt bezeichnete. Online heißt derselbe Kommentar „Grenze zu, Affe tot„.
Die FR-Leserinnen und -Leser sehen das naturgemäß nicht alle so. Jürgen Malyssek aus Wiesbaden schreibt zwar:
„Um es mit paar Sätzen zu sagen: Nadja Erb hat völlig recht. Nach Köln, Hamburg und anderswo bitte keine tobende Asyldebatte! Gute Titelseite! Es ist schon genug Hass und Rassismus in unserer Gesellschaft angekommen.
Mehr Inhalte und Konzepte mit Hand und Fuß! Die einfachen Lösungen gibt es wirklich nicht. Aber gerade jetzt ist unser aller Vernunft gefragt. Und die Politik in Deutschland ist wirklich richtig gefordert. Dabei geht es nicht um Härte und Wegsperren-Parolen. Viel zu oft wird das Wort Integration in den Mund genommen – ohne Konzepte, ohne Willen und Wollen. Der kurze Kommentar von Peter Rutkowski vom 8. Januar „Das deutsche Talent“ (unangenehme Wahrheiten und schwere Aufgaben zu verdrängen) kann zum Nachdenken und Innehalten empfohlen werden.“
Herbert Winter aus Eppertshausen hingegen:
„Die Debatte ist alles andere als verkehrt. Ein Rechtssystem, das vor diesen Horden kapituliert, bedarf dringender Anpassung. Die völlige Respektlosigkeit gegenüber der Polizei ist doch dadurch begründet, dass es an durchgreifenden Möglichkeiten fehlt. Diese Möglichkeiten müssen gesetzgeberisch geschaffen und dann endlich von unseren Richtern auch genutzt werden. Nicht erst zwei Jahre nach einer Tat, sondern sofort. Wir brauchen die Möglichkeit von Schnellverfahren, auch auf die Gefahr hin, Fehler zu machen (die machen wir auch, wenn wir uns mehr Zeit lassen). Und selbstverständlich muss Wegsperren, besser noch Abschieben eine Option sein. Schluss mit der Toleranz gegenüber diesen Menschenverächtern, die unsere Freiheit mit Füßen treten. Das sind wir den vielen anständigen Flüchtlingen schuldig, die wirklich unsere Hilfe brauchen.
Ein erschreckender Kommentar. Wenn uns nichts anderes zum Befingern und Vergewaltigen unserer Frauen und Töchter einfällt als „wir müssen unsere Integrationsbemühungen verstärken“, dann gute Nacht.“
Susanne Alpers aus Frankfurt:
In der Silvesternacht sammeln sich junge, alkoholisierte, migrante Männer zuhauf am Kölner Hauptbahnhof, grölen, schießen Feuerwerkskörper auf die Anwesenden, bestehlen Passanten und belästigen Frauen. Am Samstag, den 9. Januar 2016 sammeln sich junge, alkoholisierte biodeutsche Männer zuhauf in Köln zur Pegida-Demonstration, grölen, beleidigen Passanten und attackieren die anwesenden Polizisten mit Feuerwehrskörpern, bis diese die Veranstaltung auflösen.
Sind die Männlichkeitsnormen der einen schlimmer als die der anderen? Sind die einen weniger aggressiv als die anderen? Was treiben junge Nazis mit den Frauen in ihrem Umfeld, was junge Migranten? Beide Männergruppen verhalten sich in großen Ansammlungen und unter Alkoholeinfluß unerträglich für den Rest der Gesellschaft. Es gibt kaum positive männliche Vorbilder für junge Männer, so orientieren sie sich mehrheitlich an aggressiv-archaischen Vorlagen, hier wie da.
Sexismus findet sich bei beiden Gruppen (siehe soziale Netzwerke). Auch die aktuellen Titelbilder von Fokus und SZ drücken einen tief verinnerlichten Sexismus aus. Sexismus ist nach wie vor ein Problem in Deutschland und wird von Männern aller Couleur und aus allen Schichten praktiziert.
Attacken aller Art, die aus Gruppen von betrunkenen, gewaltbereiten Männern heraus begangen werden, sind eine Zumutung, die alle betrifft. Wir sehen uns derzeit mit einer Krise der Männlichkeit konfrontiert und weniger mit ethnischen Problemen. Sollte diese Entwicklung nicht verstanden werden und weiterhin nur Stereotypen bedient werden, ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese – sich doch so ähnlichen – Gruppierungen direkt aufeinander losgehen.“
Jana Ahrens und Ilona Böhm-Ahrens aus Bremen:
„In der Silvesternacht verzauberten nicht nur Millionen Feuerwerkskörper den Nachthimmel, gleichzeitig entzauberte die Realität, dass Frauen und Männer verschiedener Kulturen einfach friedlich neben- und miteinander auf öffentlichen Plätzen, im öffentlichen Raum feiern und ihren Gefühlen Ausdruck geben können. Zur Debatte der letzten Tage:
Wie kann es sein, dass in Deutschland vor den Augen der Polizei – ganz egal über welchen Personalmangel die Polizei jammert – Frauen von Gruppen von Männern angegriffen, sexuell gedemütigt, vergewaltigt, ausgeraubt, in Angst und Panik versetzt werden, und keinerlei Schutz erfahren. Wie kann es sein, dass jedem Fußballspiel, jeder Demonstration polizeilich mehr Sicherheit geboten wird als Frauen, die sich alleine in diesem Land bewegen?
Inwiefern tangieren diese Ereignisse und die vielen kleinen Begebenheiten in Straßen- und U-Bahnen, gesehen, aber nicht beachtet, die Errungenschaften der Frauenbewegung der letzten 140 Jahre in Deutschland. Mit einem einzigen Böllerschlag hat sich „Frau“ in der Silvesternacht in Saudi-Arabien oder Ägypten wiedergefunden und mehr als nur die Augen gerieben. Es ist völlig egal, ob es Migranten sind oder Kriegsflüchtlinge (die vor Folter und Tod nach Europa flohen) und wie viel Gewalt sie selbst erfahren haben, keinem einzigen dieser Männer, kann es nachgesehen werden, wenn sie Frauen mit Gewalt daran hindern ihre Freiheitsrechte zu nutzen, die ihnen per Verfassung zugesichert sind, erst Recht im eigenen Land.
Es muss noch einmal deutlich gesagt werden: hier geht es gewiss nicht in erster Linie um Handtaschendiebstahl, hier sollen Frauen mit allen Mitteln aus dem öffentlichen Raum getrieben (negiert) werden. Keine Frau in Deutschland und Europa darf die Befürchtung haben müssen, dass Männer mit einem mittelalterlichen Frauenbild 140 Jahre Frauenbewegung und -Kampf, vor den Augen einer kapitulierenden Polizei, einfach durch ihre Präsenz als „Opfer“ auslöschen können. Niemandem kann Asyl gewährt werden, der nicht bereit ist, die Verfassung des hilfebietenden Landes anzuerkennen. Um es nochmal ganz deutlich zu sagen, jeder frauenfeindliche Angriff ist ein Angriff auf unsere Verfassung. Und jeder frauenfeindliche Angriff darf nicht verharmlost und kleingeredet werden; z.B. aus Angst, es könnte eine zu starke Kritik die Rechten stärken. Gefährlich ist es, die jetzt losgetretene Debatte eine „verkehrte Debatte“ zu nennen, da die systematischen sexuellen Angriffe nicht geschehen, weil man die Asyl suchenden Männer noch nicht in unser Wertesystem eingeführt hat, sondern weil ihre Motive in einem fast rassistischen Frauenhaß zu suchen sind. Zum anderen dürfen Frauen nicht wieder das Gefühl bekommen, dass sexuelle Übergriffe harmlos und verniedlicht werden, und sie dann lieber doch nicht den Übergriff zur Anzeige bringen. Ein gutes Beispiel hierfür ist ganz aktuell, dass sich in der Schweiz, wo es ganz ähnliche Vorfälle gab, Frauen, erst nachdem sie über die Debatte in Deutschland aus den Medien erfuhren, sich bei der Polizei meldeten, um Anzeige zu erstatten.“
Insbesondere zu den Hochzeiten des tayloristisch-fordistischen Akkumulationsregimes, dem beschönigend noch heute als „Goldene Jahre“ bezeichneten Zeitalter der 1950er und 1960er Jahre gab es unzählige Praktiken vonseiten Dritter, die einzig darauf gerichtet waren, die Subjektivität des Einzelnen, die eine unerlässliche Voraussetzung für menschliches Handeln bildet, zu zerstören. Insofern ahmten nicht wenige unter der Bevölkerung in der wenige Tage zurückliegenden Silvesternacht zu Köln lediglich nach, was in hiesigen Gefilden noch vor kurzem ohnehin weit verbreitete Übung war und Anlass für die so genannten „Septemberstreiks“ des Jahres 1969 als den Beginn einer neuen Ära und eines gesellschaftlich tiefgreifenden Umbruchs. Ohne weiteres Federlesen können somit die Übergriffe unabhängig von der Herkunft der Täter als das Werk Ewiggestriger bezeichnet werden. Fraglich somit, weshalb in der Öffentlichkeit angesichts dessen auf deren nordafrikanischem bzw. arabischem Aussehen bestanden wird, wenn solch ein Merkmal für die politische Analyse der Vorkommnisse belangloser nicht sein könnte und infolge dessen bloß in die Irre führt.
Zu Susanne Alpers:
Wenn man zynisch wäre, könnte man zu Ihrem letzten Satz sagen: Sollen sie doch aufeinander losgehen und sich blutige Nasen holen! Man sollte ihnen einen Kampfplatz zuweisen, wo sie ungestört ihrem hirnlosen Macho-Wahn frönen können. In der Zwischenzeit können Frauen und friedliche Männer wenigstens in Ruhe den öffentlichen Raum nutzen.
Die Regierung scheint von den Ereignissen der der letzten Monate überrollt und auch überfordert zu sein. Die angegangenen Maßnahmen wirken hilflos und unausgegoren.
Unser Grundgesetz wurde unter dem Eindruck der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges geschaffen. Beim Asylrecht wurde bestimmt nicht an Massenfluchten von millionen Menschen aus fernen Kriegsgebieten gedacht.
Daraus entstehen für uns hier unverhältnismäßige Zustände. Diesen dürfte auch durch unverhältnismäßige Mittel begegnet werden.
Die Hinweise auf Abschiebungen für überführte Strafträter sind doch nur Beruhigungspillen für die Bevölkerung. Die Hürden für eine Abschiebung sind sehr hoch und müssen in jedem Einzelfall Hieb und Stichfest sein.
In der Zeit, bis ein Urteil für eine Abschiebung gefällt ist, strömen hunderte neue Flüchtlinge ins Land.
Auch ist eine Abschiebung sehr umständlich und teuer. Erst vor kurzem hörte ich im Radio, dass für eine Person immer ein Beamter – in manchen Fällen sogar zwei – mitfliegen muss, um diese Person im Rückführland zu übergeben.
Wie ich mich irren konnte ! Hatte ich doch befürchtet, für meine im Mittelteil gemachte Äußerung (unter # 3)kräftig gescholten zu werden…
Oder sollte es etwa sein, dass ich Recht habe damit ? Das bräuchte dann gar nicht mehr diskutiert zu werden ?