Wir dürfen erstaunt ein Wunder erblicken. Ein Wunder unserer Alltagskultur: Die deutsche Nationalelf hat sich in Südafrika ins Herz der Welt gespielt. Mit an Bord: jede Menge Migrationshintergrund.
Man reibt sich die Augen angesichts des Lobs der Weltpresse für die deutsche Spielweise. Ich persönlich verstehe nicht viel von Fußball und bin keinesfalls Fan. Trotzdem konnte ich mich dem Zauber nicht entziehen, den die deutsche Mannschaft ausstrahlt. Es ist eigentlich eine einfache Idee, die Joachim Löw da hatte: Spielfreude und Disziplin sind keine Antagonisten mehr, wie es bei früheren deutschen Mannschaften war, sondern sie ergänzen sich. Löw hat aus dem früheren Verwaltungsfußball etwas Mitreißendes gemacht. Und so wurden unsere Fußballer Botschafter Deutschlands in der Welt, die plötzlich sieht: Die Deutschen können nicht nur feiern – das hatte die Welt schon 2006 gesehen -, die Deutschen können sogar begeistern. Wie sie spielen, das passt so gar nicht mit dem Bild überein, dass die Welt von den Deutschen hat?
Wie kommts? Ich sehe mehrere Gründe. Einer ist der Überraschungseffekt: Niemand hatte Löws Jungs so richtig auf dem Sender, denn diese junge Truppe war so noch nie bei einem großen Turnier aufgetreten. Der Bundestrainer hat es geschafft, seine Spieler, darunter mehrere unbeschriebene Blätter, zu einem Team zu machen, das mehr ist als die Summe der Einzelspieler. Schon das erste Vorrundenspiel gegen Australien war in dieser Hinsicht ein Paukenschlag. „Blitzkrieg“ titelte eine südafrikanische Sportzeitung. Da war es noch, das Schema, das die Welt von Deutschland im Kopf hat. (Oder hatte.) Mit dem 4:1 gegen uninspirierte Engländer und vor allem dem 4:0 im Viertelfinale gegen den WM-Favoriten Argentinien, dessen fußballerischer Mythos förmlich pulverisiert wurde, verstummten solche Stimmen. Rund um die Welt stellten Medien überrascht fest, dass es Spaß mache, diesen Deutschen zuzuschauen. Selbst die Engländer mögen das. Die Zeiten, da ein Gary Linneker sinngemäß sagte: 90 Minuten jagen 20 Männer den Ball, und am Ende siegt Deutschland, diese Zeiten scheinen vorbei. Gegen eine Mannschaft, die so spielt, kann, ja darf man verlieren. (Man darf natürlich nicht, aber wenn es doch passiert, kennt man jetzt einen Grund!) Der Überraschungseffekt hielt bis zum Halbfinale. Gegen eine spanische Mannschaft wie diese dürfen dann auch die Deutschen verlieren.
Der zweite Grund: die gute Jugendarbeit des DFB. Es gibt in Deutschland 20 Fußball-Eliteschulen, und acht Spieler des aktuellen Kaders hatten eine davon besucht. Fünf weitere Spieler hatten am Stützpunkttraining teilgenommen, für das der DFB jährlich 16 Millionen Euro ausgibt, um 14000 zehn- bis 14jährige Nachwuchsspieler gezielt zu trainieren. (Mehr hier.) Die Talentsichtung beginnt also sehr früh, sie ist breit gestreut. Die Talentförderung schließt sich an. Absolventen der Eliteschulen: Manuel Neuer, Dennis Aogo, Jerome Boateng, Per Mertesacker, Serdar Tasci, Toni Kroos, Mesut Özil und Mario Gomez. Fällt was auf? Die Förderung selektiert nicht nach Deutsch und Nicht-Deutsch. Talente mit Migrationshintergrund haben die gleichen Chancen wie solche ohne. Ergebnis: Etwa die Hälfte der Spieler in Löws Kader haben Migrationshintergrund. (Das ist auch in Israel aufgefallen: Gastkommentar von Yossi Sarid.) Entweder sie oder ihre Eltern sind in einem anderen Land geboren oder ein Elternteil ist Ausländer. Das geht Querbeet. Klose, Podolski und Trochowski haben polnische Wurzeln. Aogo hat einen nigerianischen Vater, Khedira einen tunesischen, Baoteng einen ghanaischen. Cacau ist gewesener Brasilianer. Und so weiter. Khedira ist sogar Moslem. Özil auch. Die Gräben, die die deutsche Gesellschaft durchziehen – Migranten hier, Deutsche da, Muslime hier, Christen da – gibt es im Auftreten der deutschen Elf nicht. Sie arbeiten als Team. Und das viel erfolgreicher als vorausgesagt: Am kommenden Samstag können sie WM-Dritter werden.
Dieser Erfolg beruht also zumindest zum Teil auf einer Chancengleichheit in der Fußballwelt, die in der gesellschaftlichen Realität Deutschlands nicht existiert. Gerade hat Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, ihren neuen Integrationsbericht vorgelegt. 13,3 Prozent der Migrantenkinder verlassen die Schule ohne Abschluss. In der Tagesschau sagte sie, die Jugendlichen wüssten, dass sie mit einem Hauptschulabschluss ohnehin nichts erreichen könnten, entsprechend sei ihr Einsatz. Das Gefühl dahinter dürfte Resignation sein. Diese Jugendlichen beginnen ihre Ausbildung mit Mutlosigkeit. Sie werden nicht gefördert. Insgesamt kommt der Bericht zu dem Schluss, dass Kinder von Einwanderern im Vergleich zu ihren Altersgenossen mit deutschen Wurzeln meist einen schlechteren Schulabschluss und geringere Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben. Die FR schrieb dazu: „Kein Interesse an Talenten„. Genau so ist es. In der gesellschaftlichen Realität. Im Fußball nicht.
Die Nachwuchsarbeit des DFB könnte auch gerade wegen ihrer Vorbehaltlosigkeit als vorbildlich bezeichnet werden. Das Ergebnis dieser Nachwuchsarbeit ist die deutsche Nationalelf. Sie hat der Welt und uns viel Freude gemacht und wird uns sicher spätestens bei der EM in zwei Jahren wieder Spaß machen. Sie hat das Bild von den Deutschen in der Welt verändert. Sie war Botschafterin Deutschlands. Ironischerweise eines Deutschlands, das in der gesellschaftlichen Realität anders ist als in der Realität des Fußballs. Diese deutsche Elf taugt zum Vorbild. Für Deutschland.
@ Gastkommentar „Klose-Jubel in Jerusalem“ aus der israelischen Tageszeitung Ha’aretz (FR, 6.7.2010, S.10)
Fußball als Chance
„Klose-Jubel in Jerusalem“ – dieser Gastkommentar aus der israelischen Tageszeitung Ha’aretz (FR, 6.7.2010, S.10) bestätigt, was ich selbst mit französischen Freunden erlebt habe. Und er wird abgerundet durch Meldungen, dass NPD-Zentralen kleinlaut ihre Fahne verstecken, während Menschen mit „Immigrationshintergrund“, auch mit anderer Hautfarbe, die deutsche Flagge hissen: stolz auf einen Mesut Özil, einen Boateng, Cacau, Aogo, Khedira, Marin, Gomez, Podolski oder Trochowski – hervorragende Fußballspieler und dennoch ohne Anwandlungen von Überheblichkeit oder nationalistischen Tönen. – Was will man mehr?
Freilich (man schaue sich unter diesem Aspekt den FR-Blog „Schiri, der war drin“ einmal durch): Die Erkenntnis des israelischen Kommentators, dass diese Mannschaft Vertrauen verdient und weltweit erringt, weil sie „anders ist als alle anderen in der deutschen Geschichte“, dass sie mit einem überlieferten – und gefürchteten – Bild „des Deutschen“ nichts zu tun hat, dass Fussball entkrampfend und sehr wohl völkerverbindend wirken kann, diese Erkenntnis ist hierzulande noch keineswegs Allgemeingut – der ermutigenden Erfahrung auch des „Sommermärchens“ von 2006 zum Trotz.
Geschichtsbewusstsein und Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden erweist sich eben nicht in einer ach so „moralischen“ Gesinnungsethik, die immer nur beschwörend das schlimme Gestern vor sich herträgt, Unterwerfungsgestik verlangt und die Augen vor den Chancen des Heute verschließt. Sie zeigt sich vielmehr in einer Verantwortungsethik, welche keiner „moralischen“ Beschwörungsformeln bedarf, die ihrer selbst bewusst die ausgestreckte Hand ergreift.
Selbstvertrauen und Freude über eigene Leistung und von Menschen, die einem nahe stehen – ungeachtet dessen, ob sie mit einem Titel gekrönt wird oder nicht – sind eben kein Zeichen von „Verdrängung“, stehen dem Geschichtsbewusstsein nicht im Wege – im Gegenteil: Sie ermöglichen erst die notwendigen praktischen Konsequenzen.
Holland ist Weltmeister der Fouls. Spanien ist Weltmeister im Fußball und Deutschland hat gegen den Weltmeister verloren!
Wann zuletzt hat eine deutsche Mannschaft durch ihre offensive Spielweise gleichzeitig soviel Emotion im Inland wie internationale Sympathie auslösen können?
Weder Losglück, leichte Zwischenrunde, taktisch dominierter Ergebnisfußball noch schwer ansehnliche Rumpelei hatte der Fan beim Weiterkommen der Mannschaft zu schlucken. Einer leidenschaftlich engagierten, kreativen, bunten und gleichzeitig homogenen Mannschaft haben wir es zu verdanken, dass Deutschland verdientermaßen zu den 4 besten Teams dieses Turnier gehört. Es wäre schön und hoffnungsvoll, wenn wir die Potentiale der Migranten auch im Alltag ähnlich begeistert und erfolgreich einbinden und bewerten könnten. Alle, die hier leben, machen schließlich das volle Potential unseres Landes aus. Die WM war nicht nur für den Fußball ein hoffnungsvolles Signal für die Entwicklungsmöglichkeiten der nächsten Jahre.
Das, also das, das also konnte die FR-Redaktion nun wirklich nicht ahnen, als sie die „Drei & Eins“-Fassung für die WM-Ausgabe des 10.7. ausheckte und „drei gute Gründe und einen besonders guten Grund“ anführte, warum ein dritter Platz besser als ein erster sei, dass nämlich der neue Bundespräsident sich anschicken würde, Jogi und seine Jungs zu adeln.
Nein, Herr Bundespräsident, das geht gar nicht, sich dermaßen plump beim fußballinteressierten Volk anschleimen. Sie hätten ein Zeichen gesetzt, wären Sie nicht nach Südafrika geflogen und hätten Sie nicht verlauten lassen, Herrn Löw und die Nationalspieler mit „offiziellen“ Auszeichnungen zu bedenken.
Es war schon toll, die die deutschen Buben gespielt haben – aber: Fußballer wollen nach großen Taten von ihren Fans gefeiert und nicht von der Politik vereinnahmt werden. Sie sind halt doch bloß Merkels Mann, Herr Wulff.
Ich persöhnlich habe mich sehr über die Leistung der Deutschen Manschaft gefreut. Aber die Jungs haben nur Fußball gespielt alles was man sonst da hinein interpretieren will halte ich für Unsinn. Als Gegenbeispiel nenne ich Boris Becker, im hat es auch nicht geschadet das er seinen Wohnsitz ins Ausland verlegt hat.
Der zusammengesetzte Begriff „Nationalmannschaft “ ist völlig überholt.
Ich schlage vor, per Wahlverfahren die besten Spieler und Spielerinnen der Welt zu bestimmen und diese per Losverfahren zu Teams (50/50 Männer und Frauen)zusammenzustellen, aus einem Pool von gewählten TrainerInnen eine(n) per Losverfahren einem Team zuzuordnen und mit ausreichend Zeit und Geld ein Training zu ermöglichen.
Nichts anderes verdient den Namen Weltmeister(innen)schaft.
Im Vorfeld von Spielen der deutschen Nationalmannschaft diskutierten viele deutsche Fußballfans gerne darüber, wie „wir“ uns wohl auf dem Platz präsentieren werden. Während der Spiele war dann meistens schnell klar, dass „wir“ bei dieser WM wieder mal Weltklasse-Fußball spielen, und vielleicht ist „uns“ ja, nachdem „wir“ wieder nur den dritten Platz geholt haben, bei der nächsten WM der Pokal vergönnt.
Als die deutsche Mannschaft Südafrika hinter sich gelassen hatte und am Flughafen in Frankfurt am Main ankam, reagierten zahlreiche dort wartende Fans enttäuscht, weil sie keinen einzigen Spieler zu Gesicht bekamen. Manche waren so desilusioniert, dass es sogar wieder „die“ und nicht „wir“ waren, die da aus Südafrika zurückgekehrt waren. Ich wünsche mir mehr solche Enttäuschungen für Fußballfans, die Deutschlands Bevölkerung und die deutsche Nationalmannschaft nicht trennen können.
# 6, BvG,
das ist wieder mal ein typischer, (spontaner?) BvG-Gedanke !
Ja, wem sollen wir denn dann am Ende zujubeln, am Bahnhof, am Flugplatz, am Brandenburger Tor ?
Und vor allem : welches Fähnlein soll denn am Auto und im Vorgarten flattern ?
Nein,nein, so wird das nicht gehen… :-).
@maderholz
Ja, ach so, hab‘ ich vergessen zu erwähnen, dass auch die Fangemeinde ausgelost wird?
🙂
Ja, der Löwsche Fußball hat uns begeistert. Endlich wird wieder offensiv gespielt. Und unsere Spieler haben keine Angst, mal ein Tor mehr zu schießen. Dabei fällt auf, dass sie alle auf einem technisch sehr hohen Niveau spielen. All diejenigen, die früher immer so schön behauptet haben, dass den Deutschen ein elegantes Kombinationsspiel nicht liege, wurden eines besseren belehrt. Auch ist falsch, dass deutsche Spieler in der Vergangenheit nur „Panzerfußball“ gespielt hätten.
In den 70ern hatten wir wohl den bisher spielstärksten Fußball in Deutschland gesehen. Mit Protagonisten wie Netzer, Beckenbauer, Overath und später Schuster.
Aber in den 50er Jahren war bereits, so ist es in der Fachliteratur zu lesen, das wirbelnde Kurzpassspiel zu erleben gewesen: nämlich auf Schalke. Dort nannte man diese Spielweise den Schalker Kreisel.
Ich freue mich darüber, dass der Diätfußball der 90er endlich ein Ende hat. Auch ist es wunderbar zu erleben, dass sich Einwanderer immer stärker auch mit diesem Land identifizieren.
Der Zwang von Links her, alle möglichen Phänomene über „Diskriminierung“ zu erklären, ist hier wieder schön zu erkennen. Als Linker darf man ja das überdurchschnittliche Engagement der Menschen mit Migrationshintergrund in Sportvereinen bloß nicht, um Gottes Willen nicht, mit einem unterdurchschnittlich oft aufs Geistige gerichteten Interesse erklären. Nein, da wird der Sportverein lieber doch zum Refugium vor der allgegenwärtigen gesellschaftlichen Diskriminierung erklärt (Anweisungen einiger netter Herren aus der Führung des DFB an das Personal, bloß niemanden zu diskriminieren, die dann auch allseits befolgt werden… oder wie soll das gehen, wenn sich das Personal der Vereine eben auch aus der ach so diskriminierenden Gesellschaft rekrutiert?).
Da würde mich mal interessieren, wie man von Links her es fertigbringt, die Tatsache zu erklären, daß Menschen OHNE Migrationshintergrund unterdurchschnittlich oft in vielen Vereinen aktiv und erfolgreich sind (wie es ja auch der Anteil von 50% im WM-Kader bei einem Bevölkerungsanteil von 20% zeigt… das sind nämlich NICHT die gleichen Chancen für Deutschstämmige, wie Bronski behauptet, sondern SCHLECHTERE). Folgt man da etwa auch der Zwangshandlung „Diskriminierungsdiagnose“: Deutschstämmige werden bei der Talentauswahl bzw. -förderung benachteiligt oder meiden wegen dortiger Diskriminierung gegen Deutschstämmige die Fußballvereine? Na das würde mich aber überraschen, wenn zu dieser Erklärung gegriffen würde.
P.S. es muß natürlich heißen: …wie es ja auch der Anteil von 50% im WM-Kader bei einem Bevölkerungsanteil von 80% zeigt…
Wobei ich die 50% jetzt erstmal nur von Bronski übernommen habe… wird schon stimmen, hoffe ich.