Politik könnte so einfach sein … könnte man meinen, wenn man darüber verzweifelt, dass Politik heute vielfach wie die Interessenvertretung der Wirtschaft auftritt. Warum scheint es in diesem Land unmöglich zu sein, eine relativ einfache Maßnahme wie das Tempolimit auf Autobahnen durchzusetzen, das viele positive Wirkungen hätte? Stattdessen verhakt sich die Politik in Prestigeprojekte einzelner politischer Akteure wie die Pkw-Maut, vermutlich um den Koalitionsfrieden zu wahren. Aber kann dies das Ziel und der Sinn von Politik sein: dass die Regierung in Ruhe regieren kan? Das sind Fragen, welche die FR-Leser (diesmal nur Männer) im aktuellen Leserforum umtreiben.
Unter folgenden Links sind pdf-Dokumente der Leserforum-Zeitungsseiten zu finden: Seite 1, Seite 2. Hier nun die vollständigen Zuschriften in ihren ungekürzten Versionen. Achtung: Der Leserbrief „Die Büchse der Pandora“ wurde im Thread über den Mordfall Lübcke veröffentlicht, und der Zeitzeugenbericht „Wir gründeten einen anitautoritären Kinderladen in Frankfurt“ hat natürlich einen eigenen Thread in der Reihe „Mein 1968“ bekommen.
Alle in diesen Leserbriefen angesprochenen Themen können in diesem Thread diskutiert werden. Bitte nennen Sie zu Beginn Ihres Kommentars das Thema, zu dem Sie sich äußern.
Schizophrene Politik
Maut-Desaster: „Unglaubliches Fiasko“, FR-Wirtschaft vom 27. Juni
Eine alte Redewendung lautet: „Die Suppe, die man sich einbrockt, muss man auch auslöffeln.“ Wer aber meint, dass das auch für die horrenden Kosten der höchstrichterlich verworfenen PKW-Maut der Bundesregierung, einem besonderen Steckenpferd der CSU, gilt, wird sich wieder einmal getäuscht sehen. Der Schuss mit der sogenannten Ausländermaut ging zwar in einem Rahmen nach hinten los, dass man es eigentlich noch auf dem Zugspitzgipfel knallen hören müsste. Aber nach dem für die Politik andere Regeln als für normal sterbliche Bürger gelten, wird wieder einmal der deutsche Steuerzahler die besagte Suppe auslöffeln müssen. Das führt im Ergebnis zu einer sich weiter steigernden Politikverdrossenheit. Und was das bedeutet kann man ja seit längerer Zeit aus den Wahlergebnissen herauslesen. Das wiederum bejammert wieder die etablierte Politik. Eigentlich ein schon schizophrenes Verhalten, das ebenfalls an eine alte Redewendung erinnert: Das was man offenen Auges selbst verschuldet, soll man hinterher nicht lauthals beklagen!
Claus Reis, Schwabach
Scheuer muss schnellstens weg
Dieser junge CSU-Minister weiß nicht, was jeder Häusles-Bauherr weiß: kein Auftrag an Firmen, bevor die Baugenehmigung incl. das „Ja“ des Nachbarn vorliegt. Er hat ein tolles Vorbild:: Flughafen Berlin. Dort wurde gar ohne Teilbau-Genehmigung, z. B. der Brandschutzbehörde, geplant und gebaut.
Hat Herr Scheuer daraus nichts gelernt, also Aufträge erst zu erteilen, wenn alle Rechts-fragen und Genehmigungen zweifelsfrei vorliegen? Der Eid zum Wohle der Bürger und des Staates? – statt Parteipropaganda!
Aufträge mit insgesamt 2300000000 Euro hat er gegen Nachbareinsprüche, gegen EU-Recht, vergeben lassen. Davon sind schon fast 55 Millionen Euro weg, Wofür? Für Nix und wieder Nix, in den Sand gesetzt, ohne Grund und Boden!
Weiterhin: Schadenersatz wird wohl von den geprellten Auftragnehmern berechtigt gefordert, als da sind: entgangener Gewinn, Stillstandskosten, Entlassung langfristig dafür verpflichteter Mitarbeiter, Sozial-Entschädigungen, Betriebskosten usw. Das wird für uns teuer, insgesamt über mind. 600 Mio. Euro. Hoffentlich ist Herr Scheuer und sein Amt gegen derart krasses, leichtsinniges, mind. grob fahrlässiges Fehlverhalten versichert.
„Wenn wir in der Politik abwarten wollen, bis alles rechtlich geklärt ist, können wir keine Entscheidungen rechtzeitig treffen!“ Originalton Scheuer – will heißen: ihm geht Politik vor unser und EU-Recht! Wer so handelt und redet, darf nicht über Politikverdrossenheit klagen, muss sich stattdessen hinterfragen. Mit dieser Ansicht von Recht und Politik hat er den „christ-lichen“ und den sozialen Parteien wahrlich einen Bärendienst erwiesen und geschadet; denn: „Die Regierung in Berlin ist doch unfähig, vergeudet unser Geld“ Gerade vor den östlichen Landtagswahlen gibt das noch mehr Stimmung und Zulauf, nach rechts- wie links-außen
Dieser Scheuer muss endlich und schnellstens weg! – sogar zweimal: wegen leichtfertiger Steuervergeudung und seiner Ansicht über Politik vor Recht.
Hans-Karl Ortmann, Hofheim-Wildsachsen
Als leichter erster Schritt sollte ein Tempolimit kommen
Habermas-Vortrag über das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit: „Maulwurfsarbeit im Irrealis“, FR-Feuilleton v. 21.6.
Jedes Staatsvolk hat die Regierung, die es verdient, heißt es. So wundere ich mich nicht, dass das deutsche „Autofahrervolk“ seit Jahren seine Verkehrspolitik von Menschen organisieren lässt, die offensichtlich ganz im Zeichen der Autolobby handeln. Ramsauer, Dobrindt, Scheuer, alle CSU, der Regionalpartei aus München und Umgebung. Alle kennen dort das berühmte Hochhaus, dem Firmensitz von BMW, nahe dem Olympiagelände. Aber nicht nur sie haben eine zukunftsfähige Verkehrspolitik hintertrieben, sondern auch der Autokanzler Schröder, dessen Gesetz heute noch den Namen eines VW-Managers trägt. Und fast alle Bürger haben es jahrelang hingenommen.
Erst die jungen Leute rütteln uns wach und fordern, dass endlich etwas Zählbares gegen den Klimawandel getan wird. Wie viele andere meine ich, dass es ein leicht begehbarer erster Schritt wäre, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen wie bereits in ganz Europa üblich! Aber an der derzeit utopisch erscheinenden „einfachen“ Forderung kann man ablesen, dass Habermas‘ Hoffnung mindestens so utopisch ist, wenn er „im Irrealis“ meint, dass „die moralische Empörung über soziale und politische Ungerechtigkeiten als Schrittmacher“ dienen könnte und der „Maulwurf der Vernunft“ könne den Widerstand eines ungelösten Problems erkennen. Wissen wir nicht längst, wer die Widerstände hervorbringt, die wirtschaftlichen Interessen – wenigstens in dieser einen Frage der Verkehrspolitik, also das Tempolimit verhindert, den Irrweg der Elektromobilität favorisiert statt eine viel umweltverträglichere Wasserstofftechnik einzuführen. Dieser Schritt wäre vernünftig, vor allem auch, weil die Technik seit Jahrzehnten bekannt ist. Ich fürchte, die Ungeduld der Jugend wird ausgesessen, wie schon so viele Proteste vorher. Ob das dann auch wieder zu gewaltsamen Protesten führt, die dann Anlass werden, die ganze Bewegung zu diskretitieren und weiterhin nichts oder nur rudimentär etwas zu ändern? Habermas ist eben auch „nur“ ein Philosoph, der interpretiert und nicht verändert. Ob man die Anspielung noch versteht?
Thomas Kuhn, Rödermark
Konstruierte Vergangenheit
Zu: „Afrika in Berlin“ und „Sorry“, FR-Meinung v. 14.6. und -Leserforum v. 26.6.
Korrigiert wurde am 26.06. der Hinweis in der Kolumne, dass auch in Bad Hersfeld, wie in anderen Städten eine Straße nach dem deutschen Kolonialverbrecher Adolf Lüderitz benannt wird. Wie von Inge Günther in der Kolumne „Afrika in Berlin“ hierbei richtigerweise angemerkt wurde, „kann die Ameisenperspektive auf vermeintlich Belangloses durchaus den kosmopolitischen Blick schärfen“. Auf die Helikopterperspektive von Google-Maps ist offensichtlich kein Verlass. Deswegen dieser Hinweis aus Karlsruhe, wo Straßennamen nach Adolf Lüderitz und Hermann von Wissmann noch aktuell benannt sind. Doch ist diese Richtigstellung für mich nur Anlass einen bedeutenderen Aspekt hervorzuheben.
Der Gemeinderat der Stadt Karlsruhe hat auf Empfehlung des Kulturamts diesen Straßenschildern u.a. als Zusatz hinzugefügt: „Sein Handeln wird aus heutiger Sicht verurteilt“. Dieser Vermerk ist in zweierlei Hinsicht manipulativ und falsch.
Ignoriert und damit in den Staub der Vergessenheit getreten werden mit diesem Zusatz diejenigen, die sich dem damaligen Zeitgeist entgegenstellten. Die Chance wird nicht genutzt, diese ZeitgenossInnen, die Lüderitz bereits als „Lügenfritz“ bezeichnet hatten, durch eine ehrende Erinnerung zu würdigen. Die Karlsruher Stadtverwaltung u.a.m. könnten ein Zeichen setzen, indem sie stattdessen beispielsweise durch die Benennung einer Straße an den Abgeordneten der linksliberalen Deutschen Freisinnigen Partei Eugen Richter erinnerten. Dieser beklagte im Oktober 1889 mit seiner Rede vor dem Reichstag die Zustände in Ostafrika: „Wir lasen neulich, dass Herr Wissmann schon 700 Araber und Aufständische, wie sie genannt werden, hätte erschießen lassen. Wir hören, dass bald dieses, bald jenes Dorf in Flammen aufgeht. Seine Truppen ziehen sengend und brennend umher, und die Aufständischen tun dergleichen, und das ganze nennt man in der Sprache der vorjährigen Thronrede `Kultur und Gesittung nach Afrika tragen!`“ Aus Niederlagen lernen, Achtung denjenigen erweisen, die den Mut hatten, sich dem vermeintlichen Zeitgeist entgegenzustellen!
Manipulativ und falsch ist der Vermerk an Karlsruher Straßennamen außerdem durch die Behauptung, dass diese heutige Sicht als Zeitgeist essentiell existiere. Die Beschwörung einer Stadtgesellschaft als eine Gemeinschaft geht der konkreten notwendigen Auseinandersetzung mit den Dämonen der Vergangenheit aus dem Wege. Verständnislos reiben sich die AnhängerInnen dieser imaginären Stadtgesellschaft heute verwundert die Augen, gehen doch immer größere Teile der Herde Wege in eine eigens konstruierte Vergangenheit. Für AfD und andere gilt dabei Kolonialismus wieder als Träger abendländischer `Kultur und Gesittung`. Festzuhalten bleibt: Die kulturalistische Sicht fördert geradezu das Vergessen, – Gegenteil von beschworener Erinnerungskultur.