Wieder einmal hat das Verfassungsgericht die Arbeit der Politik gemacht und eine langgeübte Rechtspraxis kassiert: Die Sanktionen, die gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt werden können, wenn sie beispielsweise Maßnahmen verweigern, sind teilweise verfassungswidrig. Ein wichtiges Urteil, aber kein überraschendes. Dass eine Sozialleistung, die als Existenzminimum gilt, gekürzt werden konnte, war schon immer ein Skandal. Die Politik hätte das wissen können. Sie hat jedoch nicht gehandelt. Die Vermutung, dass sie diese Sanktionspraxis nicht nur hingenommen, sondern wohl sogar gewollt hat, ist mindestens unappetitlich. Hier ist das Misstrauen des Gesetzgebers gegen die Sozialhilfeempfänger offenbar voll durchgeschlagen: Man muss nur, so der dahinterstehende Gedanke, möglichst viel Druck auf die Leistungsempfänger ausüben, damit ihre Bereitschaft steigt, auch unzumutbare Jobs anzunehmen. Und dahinter wiederum steht der Gedanke: Die sind alle faul, die wollen es sich nur bequem machen in der berühmten „sozialen Hängematte“.
Nun muss die Sanktionspraxis neu gedacht werden. Am besten sollte auch gleich das ganze Hartz-IV-System umgebaut werden, weg von der entwürdigenden, demütigenden Alltagspraxis. Wie wär’s stattdessen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, das als Existenzminimum gezahlt würde. Das würde natürlich kosten, wäre allerdings auch unbürokratisch und würde auf der anderen Seite Kosten einsparen. Steuerfreibeträge wären in der Konsequenz zu streichen, damit die Menschen trotzdem Arbeit aufnehmen – nicht auf Androhung von Strafen, wie es bisher ist, sondern durch den Anreiz, die eigene Situation deutlich zu verbessern.
Es muss Schluss sein mit „Fordern und fordern“. Denn mal ehrlich: Mit „Fordern und fördern“ war es nie sonderlich weit her. Der Staat hat ein schlechtes Bild von seinen Staatsbürgern. Er hält sie offenbar alle für Abzocker und Schmarotzer, die man an die Kandarre nehmen muss. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass die eigentlichen Abzocker diejenigen sind, die unseren Staat um seine Steuern prellen. Im Jahr 2015 wurden die Staaten der EU nach einem Bericht des Spiegel um Steuereinnahmen in der sagenhaften Höhe von 825 MILLIARDEN Euro geprellt.Wie wäre es, liebe Politik, wenn Ihr dagegen endlich etwas unternehmen würdet?
Eine ganze Reihe von unschönen Effekten
Die niedrigen Sätze von Hartz IV sind schon allein Anreiz genug, um der stark eingeschränkten und bedrückenden persönlichen Lage zu entkommen. Menschen, die Hartz-IV-Leistungen erhalten daher als „leistungslose Einkommensbezieher“ abzuqualifizieren, übersieht die Möglichkeit hierzulande Einnahmen ohne jegliche eigene körperliche Arbeit zu erzielen, wie das beim Besitz von Großaktienpaketen oder anderen Vermögenswerten üblich ist. Die öffentliche oder veröffentlichte Meinung nimmt wenig bis gar keinen Anstoß an solch leistungslosen Einkommen.
Eine Antwort lässt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zudem auf die Frage offen:nämlich, nach der Aufnahme jeglicher Arbeit. Hier steht die grundgesetzlich garantierte Berufswahl zur Disposition. Ferner erschweren staatliche Zuschußhöhen für Unterkunft die freie Wahl des Wohnsitzes, wenn er auf diese Weise begrenzt oder gar eingeschränkt wird. Weitere unschöne Nebeneffekte im Gefolge der Hartz-IV-Gesetze sind beispielsweise die Abwesenheitsdauer vom Wohnort für Rentner, die Grundsicherung beziehen. Länger als vier Wochen dürfen sie sich nicht von ihm entfernt anderswo aufhalten. Europäische Freizügigkeit sieht anders aus.
Jede Menge gesetzgeberische Arbeit steht an, damit die Bundesrepublik ihren Verpflichtungen aus der UN-Sozialcharta oder der Europäischen Menschenrechtscharta nachkommen kann.
Michael Fettig, Neu-Ulm
Gezwungen durch das Verfassungsgericht
Es ist schon erstaunlich, mit wie wenig Selbstkritk und mit welcher Überheblichkeit Politiker das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November kommentierten. So bezeichnete Bundesminister Heil (SPD) die Entscheidung als „weise und ausgewogen“. Das Urteil des höchsten deutschen Gerichts bezeichnete die bisher geltende Bestimmung als „mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar“. Da frage ich mich, welches Verständnis von Menschenrecht und Sozialstaat die für diese Bestimmung verantwortlichen Politiker haben, die erst durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen werden mussten, dieses Gesetz zu ändern.
Warum musste das Gericht die dem Grundgesetz verpflichteten Politiker auf die Bedeutung der Menschenrechte mit dem Satz „Die zentralen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung staatlicher Grundsicherungsleistungen ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG). Gesichert werden muss einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren.“ hingewiesen werden?
Peter Friedl, Darmstadt
Ein Minimum an Existenzsicherung
Ich lebe seit zwanzig Jahren vom Regelsatz, weil ich selber das Opfer einer Sanktion geworden bin, da ich vom Arbeitsamt vor zwanzig Jahren attestiert bekommen habe, erwerbsunfähig zu sein. Abzüge oder Sanktionen führen in grosse Not, weil der Regelsatz bereits das Minimum an Existenzsicherung ist. Es muß ja auch noch Strom, Internet, Telefon, Mobilität bezahlt werden, bei mir kommt noch ein Haustier hinzu. Alkohol, Tabak, Haustiere sind wiederum im Regelsatz nicht vorgesehen.
Der Fehler im Agenda System ist die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe. Bei der Arbeitslosigkeit geht es um einen überschaubaren Zeitraum, in der Sozialhilfe ist es dauerhaft und längerfristig. Verliert man die Arbeit und findet nicht kurzfristig einen neue Stelle, wird das Arbeitslosengeld mit der Sozialhilfe zusammengelegt, das bekannte Hartz IV. Das ist demütigend.
Leistungen, die bei Alter und Krankheiten gewährt wurden, entfallen dagegen bei Hartz IV in der Sozialhilfe, wie das frühere Kleidergeld zweimal im Jahr, oder das Weihnachtsgeld. Es ist tagein und tagaus, derselbe Betrag, ob Sommer oder Winter ist. Es sollten daher als mittelfristiges Ziel eine erneute Entflechtung von Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe vorgenommen werden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist zu begrüßen, denn die Existenznot sollte nicht auch noch durch Sanktionen verschlimmert werden.
Stefan Vollmershausen, Dreieich
Der Absturz auf Hartz IV ist Sanktion genug
Das Bundesverfassungsgericht argumentiert selbstwidersprüchlich, wenn es einerseits vom Gesetzgeber die Gewährung des Existenzminimums fordert, andererseits dessen Kürzung um 30 Prozent erlaubt. Diese skandalöse Erlaubnis muss ausgehebelt werden durch die vom Sozialgesetzbuch auferlegte Überprüfung der Wirksamkeit oder Kontraproduktivität der Sanktionen. Ich kenne etwa den Fall einer alleinerziehenden Langzeitarbeitslosen, die unter Druck gesetzt wurde mit der Forderung, monatlich 20 Bewerbungen zu schreiben, obwohl sie psychische Probleme hat, die neun verschiedene psychologische Fachleute nicht einmal diagnostizieren geschweige denn heilen konnten. Ich selbst kam erst nach jahrelanger Beobachtung und intimer Kenntnis der Familiengeschichte auf deren Grund.
Das Gericht unterlässt zu fragen, ob nicht der Absturz auf Hartz IV und die folgende vielfältig beklagte gesellschaftliche Isolierung genügend sanktionieren, um Arbeitswillen zu erzeugen. Auch der Gesichtspunkt der angeblich zumutbaren Niedriglohnzwangsarbeit bleibt außen vor, ebenso die Möglichkeit, durch Erhöhung der Mindestlöhne positiv zu motivieren. Unbedacht erscheinen auch die unschuldig in Sippenhaft genommenen Kinder der Sanktionierten. Es scheint immer noch die von Schröder (SPD!) zum Gesetz gegossene Stammtischparole zu gelten, wer wolle, bekomme immer Arbeit, was sich durch Anwendung der Grundrechenarten bei Millionen Arbeitslosen und viel weniger freien Stellen als Unsinn erweist. Schröder brüstete sich, den Niedriglohnsektor ausgeweitet zu haben. Die SPD in der Person von Minister Hubertus Heil hat nun die Chance, ihre mit Schröders Agendapolitik begonnene Talfahrt aufzuhalten und der AfD die Maske der Retterin der Abgehängten ab zu reißen. Dafür die Groko zu kündigen wäre lohnend.
Friedrich Gehring, Backnang
Die Politik hat die Verfassung missachtet
Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt und festgestellt, dass das deutsche Sozialsystem 15 Jahre gegen die deutsche Verfassung verstoßen hat. Wenn man so will, wurde auch festgestellt, dass hierfür verantwortlich eine Politik war, die aus populistischen Gründen, siehe Bild-Zeitung, die Menschenwürde unbeachtet ließ. Der Spruch der Karlsruher Richter zeigt auch auf, wie stark gegen die Menschenrechte gerichtet die gesamte Politik der sogenannten Agenda 2010 war. Leider tragen hierfür die Verantwortung gerade Sozialdemokraten, die offensichtlich vergessen hatten, welche Wurzeln ihre Partei hat und dass soziale Gerechtigkeit getreu dem Motto Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gerade für die Wählerinnen und Wähler der ältesten deutschen Partei eine elementare Bedeutung hat. Auch im Hinblick auf die jüngste Empfehlung des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert, der ein Ende der gesamten Sanktionspolitik fordert, ist gerade in dieser Zeit, in der die SPD über eine neue Führungsspitze abstimmt, die Notwendigkeit deutlich, dass die Sozialdemokratie sich bei ihren Wählerinnen und Wählern für die menschenverachtende Politik, die gerade durch die Sanktionen für Hartz IV-Empfänger zu Tage getreten ist, entschuldigt und einen radikalen Trennungsstrich zu dieser Praxis zieht. Es ist an der Zeit, dass die SPD im Gegensatz zu Konservativen und Neoliberalen in der Union und in der FDP sich zu ihren Fehlern bekennt. Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde wieder Geltung verschafft hat. Ich hätte es lieber gesehen, und es würde auch der Menschenwürde stärker entsprechen, wenn die Richter in den roten Roben die Sanktionspolitik generell beendet hätten. Es ist aber jetzt höchstrichterlich festgestellt, dass viele Politiker offensichtlich in Gedankenlosigkeit oder von Vorurteilen gegen arme Menschen geprägt aus tagespolitischen Gründen bereit waren, die Verfassung zu missachten. An die Adresse all derer, die meinen, aus diesem Faktum heraus ausgerechnet der AfD ihre Stimme geben zu müssen, sei jedoch gesagt, dass, hätte diese Partei eine Mehrheit im Parlament, die soziale Wirklichkeit für arme Menschen noch bitterer wäre. Denn die AfD hat noch entschieden verabscheuungswürdigere Vorstellungen als das, was sozial Schwache schon jetzt erleiden müssen. Wir brauchen eine Politik, die Reformen wieder mit positiven Inhalten verknüpft. Und das lässt sich nur in einem Bündnis von SPD, Linken und Grünen erreichen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt auf, wie wichtig eine Sozialpolitik ist, die Umverteilung von oben nach unten anstrebt und immer wieder bewusst macht, dass die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot, die im Grundgesetz als Staatsfundamentalnormen mit Ewigkeitscharakter festgeschrieben sind, beachtet werden.
Zwei Punkte sprechen für die „liebe Politik“ gegen das von Bronski angesprochene unbürokratische „bedingungslose Grundeinkommen“ wie auch gegen konsequente Verfolgung der Sozialschmarotzer in höchsten Vorstandsetagen:
Erstens ist Letzteres möglichst zu tabuisieren. Sonst käme man ja den „Möwenpick“-Helfern tatsächlich auf die Schliche, würde sich gar Gedanken darüber machen, in wessen Interesse die Merzens oder Lindners und Co. tatsächlich Politik betreiben.
Zweitens gehört es zu deren gut eingeübter Praxis, Kritik von oben nach unten abzulenken.
Und dazu gehört nun mal das Bild von der „sozialen Hängematte“ für „Sozialschmarotzer“ ebenso wie das von der „Neiddebatte“, wenn es um soziale Gerechtigkeit geht.
Wo kämen wir auch hin, wenn hier jede Putzfrau und jede Krankenpflegerin „Gerechtigkeit“ einfordern würde!
Da sei ein Merz davor!
das Schlimme ist, dass man es nur sehr schwer aus dem Hartz IV System wieder herausschafft.
Auch wenn man sich bemüht, die Verwaltung lebt doch vom Klienten und ist gar nicht interessiert, an einer Eigeninitiative.
Statt zb die häufigen EM Renten ( mehrheitlich sind es psychische Ursachen) mit Grundsicherung zu verteilen, hätte doch ein Zuschuss zu einer Selbstständigkeit, wie in meinem gelernten Beruf, Gartenbau, es auch getan.
Aber sogar die Nachzahlung zu der Rente wurde damals voll angerechnet, erreichte mich also nicht.
Der VDK hat heute in einer Stellungnahme zur Grundrente vorgeschlagen, bei Rentnern mit Grundsicherung, sollte es eine Freibetragsgrenze geben in der Grundsicherung.
Die Frage stellt sich nach der Höhe der Freibetragsgrenze – es würden wohl mehr sein als die acht Euro für 2020
Das System Hartz IV gibt es doch schon seit über 10 Jahren. Es war schlecht. Es ist schlecht. Es diskriminiert, grenzt aus, benachteiligt. Doch – seit über zehn Jahren werden die Politiker, die diese Zwangsregime einführten, immer wieder gewählt. Es wird knapper, aber immerhin. Einer von ihnen soll gar SPD-Vorsitzender werden. Und wird es wohl auch werden. Also eigentlich alles Gut im Staate – alles richtig gemacht! Sieht so aus. Ist es aber nicht. Wieder einmal sind es Gerichte, die der Politik Beine machen. Sie verlangen keine wirklich großen Schritte. 30 % Abzug geht immer noch und ist immer noch ein Skandal, wenn man auf die Basissumme schaut. Und grundsätzlich sind damit auch noch Sanktionen erlaubt. Sanktionen – das ist doch auch wieder so ein Weichspülerwort – Zwisprech. Strafe ist gemeint. Jemand verliert seine Arbeit, hat womöglich mit eigenem Vermögen seinen Unterhalt bestreiten müssen und wird – weil er einen Termin verpasst hat – mit Geldstrafe belegt. Verzockst Du Unsummen im Banking zahlt der Staat noch drauf und Boni fließen weiter. Oben und unten eben. Und das wird solange so weiter gehen, wie auch Solidarität dem Effizienz-Prinzip unterworfen ist. Sie muss sich lohnen. Bedingungslose Solidarität – wo kämen wir denn dahin? Ich bleibe skeptisch. Grundsätzlich wird sich wohl nichts oder nicht viel ändern. Man wird die größten Übel mildern. Aber Hartz IV und das Denken, dass die Verantwortung für das Meistern von Lebensrisiken letztlich ein privates Problem ist, werden wohl leider bleiben.