Der Fall der vier geschassten hessischen Steuerfahnder wirft ein Schlaglicht auf einen Bereich des Justizwesens, der auch viele andere Menschen betrifft, die sich ihr Recht vor Gericht zu erstreiten versuchen: Die vier Beamten waren aufgrund falscher psychiatrischer Gutachten zwangspensioniert worden. Ein Psychiater hatte ihnen darin unheilbare „paranoid-querulatorische“ Störungen attestiert. Ein Berufsgericht hatte die Gutachten als falsch verworfen und den Psychiater zu einer Geldbuße verurteilt. Andere Gutachter, die vom Frankfurter Landgericht beauftragt worden waren, um die Schadenersatzansprüche der ehemaligen Steuerfahnder zu prüfen, kamen nun zum entgegengesetzten Urteil: Die Leute sind völlig gesund.
In einem anderen Fall wurde der Nürnberger Gustl Mollath aufgrund von Gutachten sogar zwangseingewiesen. Mollath, der Schwarzgeld-Geschäfte der Hypovereinsbank angeprangert hatte, ist seit 2006 wegen Gemeingefährlichkeit in der Psychiatrie untergebracht. Sein Fall ist brisant, weil die Schwarzgeld-Vorwürfe offenbar stimmen. Für das Landgericht Nürnberg waren sie aber Teil eines „paranoiden Gedankensystems“. Der Fall wird jetzt wieder aufgerollt. Man darf davon ausgehen, dass es neue Gutachten geben wird.
Dr. Ernst Girth, Menschenrechts-Beauftragter der Landesärztekammer Hessen, aus Frankfurt kritisiert Gefälligkeitsgutachten:
„Schlimm ist, dass es in einer Landesregierung Verantwortliche gibt, die Steuerfahnder im besten Lebens- und Berufsalter um fragwürdiger politischer Ziele Willen zwangspensionieren und fleißige, fähige und selbstständig denkende Mitarbeiter und deren Familien jahrelang quälen. Schlimm ist, dass das angeblich so scharfe Schwert der parlamentarischen Demokratie, der Untersuchungsausschuss, erst einen Vorsitzenden ertragen muss, der im Hauptberuf Mandanten berät, wie sie dem Staat am Besten Steuern vorenthalten, und man dann auch noch in der CDU zu dem zynischen Schluss kommt, der Ausschuss sei „erfolglos und überflüssig“ gewesen.
Schlimmer, weil näher am Alltag der Bürger, ist aber für Viele, dass es Ärzte gibt, die ohne Reue ihr Fachwissen, das sie erworben haben, um Menschen in Krankheit und Not zu helfen, dafür missbrauchen, diese ins Unglück zu stürzen.
Der bemerkenswerteste Satz in dem Artikel war aus meiner Sicht, dass die Münchener Gutachter für jeden Steuerfahnder einen ganzen Tag brauchten, um festzustellen, dass er gesund sei. Der Frankfurter Psychiater Thomas H. dagegen benötigte nur wenige Stunden, um die gleichen Steuerfahnder mit der existenzvernichtenden Diagnose einer paranoid-querulatorischen Störung in die Zwangspensionierung zu schicken.
Die vielen Menschen, die täglich vor den Gerichten auf die Qualität, Sorgfalt und Unabhängigkeit von Gutachtern angewiesen sind, werden erleichtert sein über die neuen Gutachten über die Steuerfahnder. Aber: Wenn nicht wegen der bevorstehenden Schadensersatzklagen ein Gericht diese Gutachten in Auftrag gegeben (und bezahlt!) hätte, hätten es die Betroffenen selber machen und bezahlen müssen. Das aber können sich viele Menschen nicht leisten. Sie sind somit – wie kranke Menschen von ihrem Arzt – abhängig von ihrem Gutachter.
Die Verurteilung von Thomas H. – wenn auch nur zu einer Geldstrafe – kann nur der Anfang sein, allen ärztlichen Gutachtern schärfer auf die Finger zu schauen und Menschen vor ihnen zu schützen, die von ihnen abhängig sind. Gerade weil es bisher nicht gelungen ist, die Verantwortlichen in der Politik dingfest zu machen, fragen mich viele: Warum darf ein Gutachter weiter Gutachten machen, wenn er erwiesenermaßen falsche Gutachten erstellt hat, aber auch (angeblich) nicht in fremdem Auftrag gehandelt hat, also offensichtlich unfähig ist?“
Gerhard Neunzerling-Dernbach aus Limburg erwidert darauf:
„Mit diesem Leserbrief legt immerhin ein Vertreter der Landesärztekammer Hessen den Finger in eine latente Wunde unseres Gesundheits- und Rechtssystems. Im Zusammenhang mit den völlig konträren psychiatrischen Gutachten zum Gesundheitszustand ehemaliger Steuerfahnder kritisiert Dr. Girth die gegenwärtige Praxis der Erstellung psychiatrischer Gutachten im Rahmen von Gerichtsverfahren. Damit steht er nicht alleine.
Meines Erachtens muss das gesamte System der Psychiatrie in Deutschland auf den Prüfstand. Tausende von Menschen werden in Deutschland jährlich in psychiatrischen Kliniken der privaten und staatlichen Gesundheits- und Wohlfahrtskonzerne unter körperlichem und seelischem Zwang behandelt. Genaue Zahlen liegen nicht vor. Es gibt keine unabhängige Stelle zur statistischen, psychiatrischen und sozialmedizinischen Erfassung und Auswertung von Zwangsbehandlungen. Auch gibt es keine Bestrebungen der Wissenschaft zu einer unabhängigen flächendeckenden Evaluation von Krankheitsverläufen, da es keine einflussreiche Lobby gibt, die die Bereitstellung entsprechender Fördergelder forciert.
Eine schwerwiegende psychische Störung kann jeden treffen. In Deutschland werden jährlich mindestens 400000 Menschen in psychiatrischen Kliniken behandelt, davon rund 120000 nach Zwangseinweisungen. Jeder Zehnte zwangseingewiesene Mensch wird mit Medikamenten zwangsbehandelt, die eine „dämpfende“ Wirkung auf das Gehirn haben (und zum Teil erhebliche Neben- und Folgewirkungen). Nach einer von der „Schul-Psychiatrie“ weitestgehend ignorierten wissenschaftlichen Modellstudie könnte unter Beachtung verschiedenster Voraussetzungen jedoch ein großer Teil der Zwangsbehandlungen vermieden werden.
Es gibt keine verwertbaren Zahlen darüber, wie viele Menschen aufgrund voreiliger, falscher oder unüberprüfter Diagnosen in psychiatrischen Einrichtungen – teilweise nach Zwangseinweisung – behandelt werden. Fragt man einen Psychiater, wird er zugeben, dass – je nach Ausbildung, Erfahrung und beruflicher Verortung des Spezialisten – beim gleichen Patienten mehrere unabhängig voneinander untersuchende Psychiater in der Regel zu sich widersprechenden Diagnosen und Prognosen kommen werden bis hin zu später korrigierten oder gänzlich zurückgenommenen Diagnosen. Das Karussell von psychischer Störung über Krankheit, Hilfeersuchen, Kurzdiagnose bei Aufnahme, (Fehl)-Diagnose, Ablehnung einer medikamentösen Behandlung, fehlende Einbindung des sozialen Umfeldes durch die Klinikärzte, Zwangseinweisung, Verschlimmerung bis hin zur Zwangsbehandlung, wirft viele Menschen für den Rest ihres Lebens aus der Bahn.
Bis zu acht Millionen Menschen nehmen jährlich ärztliche, psychologische, psychiatrische Hilfe oder Angebote von Selbsthilfegruppen in Anspruch. Lobbyisten der Gesundheits- und Pharmaindustrie und in Teilen auch die Justiz fordern immer wieder, den Ausbau des psychiatrischen Systems voranzutreiben – natürlich völlig uneigennützig. Und die Gesundheits- und Rechtspolitik folgt brav. Eine Ursachendiagnose für einen schwerwiegenden gesellschaftlichen Krisentrend wird praktisch nicht mehr betrieben, geschweige denn nach Antworten und Konsequenzen gesucht.
Die Psychiatrie und die psychiatrische Versorgung gehören komplett auf den Prüfstand. Eine Enquete-Kommission des Bundestages mit einem breiten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs in einem mehrjährigen Zielzeitraum ist nötig. In diese Richtung geht auch eine aktuelle Forderung der deutschen Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention.
Mit einem Gutachten reagiert diese offizielle Stelle der UN auf einen Regelungsentwurf zur Zwangsbehandlung im Zusammenhang mit dem Betreuungsrecht, der seit Mitte November im Hauruck-Verfahren vor allem auf Druck der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie sowie einiger Landes-Justizminister im Rechtsausschuss des Bundestages ohne reguläres Gesetzgebungsverfahren durchgepeitscht werden soll.
Allerdings ist diese Regelung Teil eines Gesetzentwurfes zum Internationalen Unterhaltsrecht, betrifft aber eine Änderung des BGB mit Passagen zum Betreuungsrecht, wodurch Zwangsbehandlungen im Prinzip umfassend gesetzlich legitimiert werden sollen. Mit diesem Vorgehen und dem Verzicht auf einen ordentlichen Gesetzentwurf zu Zwangsmaßnahmen umgeht man eine notwendige inhaltliche gesellschaftliche, fachliche und parlamentarische Debatte.
Mit dem „versteckten“ Regelungsentwurf hat die Bundesregierung auf ein Urteil des BGH vom Juni diesen Jahres in Verbindung mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2011 reagiert, mit dem Patientenrechte gestärkt wurden und infolgedessen die Anwendung von Zwangsbehandlungen insgesamt wesentlich erschwert worden ist.
Dabei könnte der größte Teil von Zwangsbehandlungen umgangen werden, unter anderem, wenn sich die „Behandler und Diagnostiker“ wesentlich mehr Zeit für ihre Patienten und ihr Lebensumfeld nehmen würden. Bereits jetzt ist es dem behandelnden Arzt bei Lebensgefahr des Patienten möglich, lebensrettende Maßnahmen bis hin zur zwangsweisen Verabreichung von Medikamenten einzuleiten. Und diese Möglichkeit wird völlig zu Recht auch angewandt, falls keine anders lautende Patientenverfügung vorliegt.
Der bald im Parlament zur Abstimmung anstehende Regelungsentwurf verstößt jedoch gegen die Menschenwürde und verkehrt die höchstrichterlichen Urteile ins Gegenteil. Man kann jedem Erwachsenen nur empfehlen, über eine Patientenverfügung nachzudenken, in der man als noch “Gesunder“ festlegt, was im Falle einer schweren (psychischen) Erkrankung nicht mit seinem Körper gemacht werden darf.“
Vielleicht sollte der Staat bei solchen Fällen dazu verpflichtet werden , jedem Betroffenen das Geld für die Auswahl eines eigenen Gutachters zur Verfügung zu stellen , sodaß eventuelle Gegengutachten zumindest nicht vom Geldbeutel abhängen.
Als ausschließlich sozial existentem Wesen bleiben dem Einzelnen nicht nur zurückliegende oder gegenwärtige, sondern vor allem die Legionen künftiger Zuschreibungen von Natur aus fremd, die deswegen verboten eigenmächtig darauf abstellen, dass ein von außen seitens Dritter verübtes Fehlverhalten unmittelbare Folgen zeitigt. Weder theoretisch, geschweige denn empirisch lässt sich also besagte Unmittelbarkeit wissenschaftlich als wirkungsmächtig belegen (vgl. Zaretsky, E.: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse, a. d. Amerik. v. Binder, K. u. Leineweber, B., Wien, 2006, S. 17). Sowohl die Behauptung des Menschenrechtsbeauftragten der hessischen Landesärztekammer, Girth, als auch die des Leserbriefschreibers Neunzerling-Dernbach, die beide dadurch in der Konsequenz wider besseres Wissen allein fiktional viele vernichtete Existenzen feststellen, die angeblich für den Rest ihres Lebens aus der Bahn geworfen sind, steht insofern exemplarisch dafür, wovon um der stets notwendigen Ernstlichkeit willen jeder tunlichst ablassen sollte.