Frankreich erlebt mal wieder eine dieser Revolten, die auch frühere Präsidenten schon zurechtgestutzt haben. In Frankreich hat so etwas Tradition, anders als in Deutschland. Jetzt haben sich die Menschen gelbe Signalwesten angezogen und sich damit ein nationales Symbol gegeben: Sie sind die „Gelbwesten“. Dieses Symbol wurde auch sofort von einigen Plünderern und Marodeuren genutzt, um sich unter diesem Schein zu vergehen. Man fühlt sich an den G20-Gipfel in Hamburg erinnert, wenn man die Bilder von den Ausschreitungen in Paris sieht. Solche Bilder überdecken die eigentlichen Ursachen der Revolte und die berechtigten Anliegen der Demonstrierenden.
Staatspräsident Emmanuel Macron hatte 2017 die Vermögenssteuer gesenkt – in Umsetzung eines Wahlversprechens, das dazu dienen soll, die Wirtschaft zu stärken und Arbeitsplätze zu schaffen. Man kann zu recht sagen: Das ist Politik für die Reichen. Jene Maßnahmen aber, welche die „Gelbwesten“ auf den Plan riefen, scheinen darauf hinzudeuten, dass der Präsident seinen sozialen Kompass verloren hat – falls er je einen besaß. Kraftstoffpreise sollten angehoben werden mit der Begründung, dass der Kohlendioxidausstoß heruntergefahren werden solle. Das trifft natürlich vor allem Pendler mit weiten Wegen zur Arbeit, und die Landbevölkerung, die keine Alternative zum Auto hat, zugleich aber ohnehin weniger bis schlecht verdient, weil gutbezahlte Jobs in strukturschwachen Regionen rar sind. Diese Tendenz ist in Frankreich, das stets eine zentralistische, also auf die urbanen Zentren und vor allem auf Paris zielende Wirtschaftspolitik betrieben hat, sehr viel stärker ausgeprägt als in Deutschland. Dementsprechend gibt es auch in Frankreich viele Menschen, die sich abgehängt fühlen. Die Maßnahmen des Präsidenten wiesen in ihren Augen darauf hin, dass Macron ihre Interessen nicht wahrnimmt. Entsprechend wütend haben sie sich in Erinnerung gerufen.
In einer Rede an die Nation hat Macron nun den „sozialen Notstand“ ausgerufen: Der Mindestlohn soll um hundert Euro angehoben werden (zehn Prozent Steigerung), Überstunden müssen nicht mehr versteuert werden, die Kraftstoffsteuer wird nicht erhöht. Ob das reicht, um den Zorn der „Gelbwesten“ zu besänftigen? Am kommenden Wochenende wollen sie wieder demonstrieren. Macron wird hoffentlich daraus lernen. Er muss endlich damit beginnen, der Präsident aller Franzosen zu sein. Nicht nur der Begüterten.
Leserbriefe
Alfred Kastner aus Weiden meint:
„Emmanuel Macron ist im Mai 2017 als großer Hoffnungsträger Frankreichs und Europas angetreten. Seit er Präsident wurde, versucht er, die Deutschen für ein neues Europa zu gewinnen, wirtschaftlich und sozial eng verwoben, einig und selbstbewusst. Bundeskanzlerin Merkel lässt ihn jedoch sitzen, wohl auch deshalb, weil sie ihm die Übernahme einer Führungsrolle in Europa aus eigenen machtpolitischen Erwägungen nicht gönnt. Macrons „TGV-Hochgeschwindigkeitszug“ konnte und wollte die „alte, europapolitisch bereits eingerostete Dampflok“ aus Deutschland nicht folgen.
Nun droht Macron auch im eigenen Land Ungemach. Umwelt- und klimapolitisch hat Macron grundsätzlich etwas Vernünftiges getan. Dass die höheren Mineralölsteuern den Volkszorn so zum Kochen bringen, liegt auch an der generellen Benachteiligung ländlicher Regionen, wo das Auto nach wie vor unverzichtbar ist.
Die Protestbewegung „Gelbe Warnwesten“ entstand aus dem Nichts. Sie kam von unten, hat keine Führungsfigur und hält sich fern von Parteien, auch wenn beispielsweise die Rechten versuchen, aus den Protestaktionen Kapital zu schlagen. Dabei hat der französische Präsident eigentlich nur getan, was die Vernunft gebietet. Luftverschmutzung und Klimawandel haben ein derart bedrohliches Ausmaß erreicht, dass die Politik handeln und den Verbrauch fossiler Brennstoffe drosseln muss. Höhere Mineralölsteuern motivieren zum Umstieg auf emissionsärmere Verkehrsmittel. Mit den zu erwartenden Mehreinnahmen kann der Staat die Energiewende vorantreiben.
Wenn all dies in der kollektiven Empörung untergeht, Macron kein Gehör findet, dann deshalb, weil Teile des Volkes von ihm nichts mehr wissen wollen. Von Aufbruchsstimmung beseelt wollte der vorwärtsstürmende Reformer lange Zeit nicht wahrhaben, dass gerade auf dem Land viele Franzosen immer weiter zurückbleiben. Als Erneuerer eines in verkrusteten Strukturen verhafteten Landes war er gewählt worden. Sein Markenzeichen war es, dass er sich von seinen Amtsvorgängern absetzt, Frankreich unbeeindruckt vom Widerstand der Straße reformiert.
Mit der Verschiebung der Ökosteuer-Erhebung hat sich Macron zwar Zeit erkauft, gleichzeitig jedoch einen Gesichtsverlust erlitten. Seine Zustimmungswerte in der Bevölkerung nehmen rapide ab. Für die kommende Europawahl, die von den Wählern gerne als Protestwahl umfunktioniert wird, verheißt dies nichts Gutes.
Auch in Deutschland ist der Verdruss über Merkels elementare eigenmächtige Entscheidungen und einer ungerechten Einkommensentwicklung deutlich spürbar.
Was sind die Hauptursachen der politischen Legitimationskrise, wie wir sie derzeit in Europa erleben? Ist es das Gefühl zunehmender Ungerechtigkeit und der Ohnmacht, an den Entscheidungen „der da oben“ etwas ändern zu können? Der Staat wird bis heute von oben gedacht und gemacht. Doch das Denken von oben ist überholt. Die Bürger wollen bei wichtigen Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, mit einbezogen werden. Demokratie erscheint häufig nur noch als bloße Fassade. Erfolgreiche populistische Bewegungen sind in der Regel auf eine Schwäche der aktuellen Regierungen zurückzuführen.
Solche populistische Strömungen erinnern daran, dass die dominanten Eliten bestimmte Gruppen der Bevölkerung vernachlässigen und bestimmte Themen ignorieren. Im besten Fall könnten populistische Parteien als „Warnsignal“ verstanden werden sowie als Chance einer demokratischen „Selbstkorrektur“. Diese Botschaft ist bei den Adressaten bisher allerdings nicht angekommen.
Wer seine Politik als „alternativlos“ darstellt, wer eine Machtstrategie verfolgt, die nicht auf Erklärung und Auseinandersetzung, sondern lediglich auf Verkündung teilweise sogar grundstürzender Beschlüsse setzt, der entzieht sich seiner demokratischen Verpflichtung, mit vernünftigen Gründen zu überzeugen.
Demokratie ist kein machtpolitischer Selbstzweck handelnder Personen, sondern das Versprechen, dem (Mehrheits-) Willen der Bürger auf möglichst transparente Weise zum Ausdruck und zum Durchbruch zu verhelfen. Die defizitäre Politikvermittlung setzen der Demokratie mittlerweile erheblich zu.“
Jürgen Malyssek aus Wiesbaden:
„Der Lack ist ab, Herr Macron! Ganz im Gegensatz zu seinem elitären Führungsstil, musste der Präsident sich nun fast demütig dem Volke stellen. Der Druck der „gilets jaunes“, der Gelbwesten-Bewegung war zu stark. Es ist offen, wie die Geschichte weitergeht und auch wie Macron politisch überleben will.
Ich sehe die teils dramatischen Ereignisse in Frankreich als ein Klassenkampf, gegen Macron und gegen die soziale Ungerechtigkeit, wobei es gleichzeitig ein Ausdruck eines über Jahre gewachsenen, tiefen Misstrauens in einem großen Teil der Bevölkerung ist (vgl. auch NNZ vom 10.12.).
Nicht unbedeutend sind in Frankreich die Intellektuellen. Eine wichtige Rolle spielt dabei, was Didier Eribon mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ (in Frankreich bereits 2009 erschienen) sehr genau beleuchtete: Wie es zum Zerfall der französischen Sozialisten gekommen ist. Eribon hat dem Denken über das Entstehen und die schwierige Klassifizierung der Ungleichheit in der Gesellschaft neue Anstöße gegeben.
Überhaupt ist auch die Zusammensetzung der Gelbwesten-Bewegung nicht klar. Es ist zu lesen, dass es eine überwiegend rechtspopulistisch angeheizte ist. Daniel Cohn-Bendit hat zuletzt in der taz geschildert: Die Bewegung reagiere auf krasse Fragen der Ungerechtigkeit, aber sie speist sich en gros und en detail aus politischen Reservoirs der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Bewegung um Marine Le Pen. Das ist keine beruhigende Botschaft. Und wir dürfen Cohn-Bendit Glauben schenken.
Somit steht Frankreich vor einem doppelten Problem: Einmal im Protest gegen einen selbstherrlichen Macron mit seinen verächtlichen Äußerungen über Arbeitslose und schlecht verdienende Arbeiter, womit er bereits viel atmosphärischen Schaden angerichtet hat. Zum anderen ist dieser berechtigte Protest auch vergiftet durch die oben besagte Instrumentalisierung durch die Rechten und Rechtsextremen. Wie will a) Macron die Balance herstellen zwischen seiner ursprünglich geplanten wirtschaftsfreundlichen Politik und der ihm nun aus ärgster Not geborenen sozialen Zugeständnisse an die Arbeitsbevölkerung und b) kann die Bewegung, die an einen bürgerkriegsähnlichen Aufstand erinnert, durch Rechtsextreme und Rechtspopulisten belastet, die Kurve kriegen?
Es ist eine sehr gefährliche Situation und erinnert an den Titel des Buches „Der kommende Aufstand“ (von Unsichtbare Komitee, Nautilus Flugschrift), der die Themen Sabotage, Volksaufstand, Straßengewalt und den Zusammenbruch westlicher Demokratie zum Inhalt hat.
Eine Zeitenwende deutet sich an. Aber in welche Richtung? Auch wenn die Uhren in Frankreich anders ticken als in Deutschland. Die Warnsignale sind da – und sie sind ziemlich heftig!“
Vorneweg: Obwohl selbst von den Aktionen der „Gelben Westen“ betroffen, bin ich mir noch recht unsicher in der Einschätzung dieser Bewegung. Und das nicht nur, weil ich zwei Wochen außer Landes und von Informationen abgeschlossen war.
Klar ist zunächst nur eines: Ziemlich ekelerregend finde ich die Trittbrettfahrer der extremen Rechten und Linken, nicht nur in Frankreich, mehr noch in Deutschland. So etwa im FR-Forum ein allseits bekannter Rechtsextremist, der nun mit seinem „Stolz auf die Franzosen“ hausieren geht und von „Revolution“ faselt.
Sicher besteht die Gefahr, dass diese „Bewegung“ vor allem von extrem rechts gekapert wird, bisher gibt es meines Wissens dafür aber noch keine eindeutigen Belege. Dass sich, wie Bronski sagt, „Marodeure“ dranhängen und das Erscheinungsbild bestimmen (in Frankreich „casseurs“ genannt – schlimmer als „Randalierer“), entspricht dem schon vom G20-Gipfel bekannten Phänomen. Vielleicht darunter auch „agents provocateurs“?
Im Moment sind es aber grüne eher „Ecologistes“ und verschiedene linke Gruppierungen sowie Attac, die sich der Bewegung angeschlossen und zur Demonstration am heutigen Samstag aufgerufen haben.
Demgegenüber bezeichnet der renommierte Journalist Alain Duhamel die Haltung der Regierung als „nicht glänzend“, die aller Oppositionsparteien aber als „erbärmlich“. Sie alle hätten diese „außergewöhnlichste Situation sei 68“ völlig verkannt.
Festzuhalten bleibt auch, dass bisher weder fremdenfeindliche noch EU-feindliche Exzesse festzustellen sind. Und dass die von einer der Initiatorinnen, Pricillia Ludosky, über change.org verbreitete Petition (Stand 15.12.: 1,15 Mio. Unterschriften) Begründungen für die Ungerechtigkeiten der Maßnahmen Macron und eine Fülle von Gegenvorschlägen, z.T. im Sinne der Grünen, enthält.
Olivier Costa, Direktor des Meinungsforschungsinstituts CNRS, warnt aber davor, diese Bewegung aufgrund gegenwärtig hoher Zustimmungsraten zu ihren (ursprünglichen) Zielen mit „dem Volkswillen“ gleichzusetzen. Er verweist dabei auf eine sehr diffuse „revolutionäre Romantik“ sowie auf völliges Fehlen annähernd demokratischer Willensbildung und Verantwortlichkeit und nicht hinnehmbare Gewaltaktionen, denen gegenüber es gar keine vermittelbare, glaubwürdige Reaktion seitens der Regierung gebe.
Zum Verständnis des Unmuts in der Bevölkerung hier einige Beispiele aus unserer Region:
Kompliment an Bronski: Der Titel des Threads trifft gerade in unserer Gegend den Nagel auf den Kopf.
Es geht sicher vor allem um das Gefühl tiefer Ungerechtigkeit. Darum, dass in erster Linie die sowieso vielfach benachteiligte Landbevölkerung nationale und Umweltprobleme ausbaden soll, während Privilegien unangetastet bleiben. So hat sich bis zu unserer Reisegruppe in Vietnam Empörung über Privilegien für Mitarbeiter in Regierung und bei Abgeordneten breit gemacht, die dank der „gilets jaunes“ ans Tageslicht gekommen sind.
Es geht aber auch um eine systematisch betriebene Zerstörung der Infrastruktur in ländlichen Gebieten. „TGV und Dampflok“ sind dafür gerade bei uns sinnfällige Symbole:
An einem Eisenbahnkreuz mit Depot für Lokomotiven liegend, fuhr vor 5 Jahren noch täglich ein TGV von hier zur Côte d’Azur. Für die Fahrt von Luxemburg hierher standen uns täglich 4 direkte Züge zur Verfügung. Jetzt gibt es nur noch einen Nachtzug mit großem Umweg.
Das Eisenbahndepot wurde abgebaut, die Einwohnerzahl ist von 4500 auf 2800 gesunken, in Langres von ca. 12000 auf unter 8000.
Die bei uns untergebrachte Flüchtlingsfamilie, die sich täglich polizeilich zu melden hatte, mussten wir 15 km hin und zurück zur nächsten Polizeidienststelle kutschieren, weil die in unserer Stadt aufgelöst worden ist. Behördliche Angelegenheiten wie Pass oder Führerschein sind nicht mehr, 45 km entfernt, in Chaumont, sondern 250 km entfernt, in Straßburg, zu erledigen (mit verheerenden Bahnverbindungen).
Für einen Zahnarzttermin gibt es 2-3 Monate Wartezeit, für Nicht-Notfälle bei Arztterminen steht es nicht viel besser.
Seit Macron wurden nicht nur Maßnahmen gegen Flüchtlinge erheblich verschärft, die insgesamt auf eine große Akzeptanz stoßen (ich habe das bereits geschildert). Auch die ohnehin darbende Landbevölkerung wird finanziell doppelt belastet, so mit Wohnsteuer (zusätzlich angehoben) und Grundsteuer (die für Stadtbewohner weitgehend entfällt).
Da bringt – wo das Privatauto weitgehend als einzige Möglichkeit der Mobilität verbleibt – eine massive Erhöhung der Steuer für Benzin, vor allem Diesel, das Fass schon zum Überlaufen.
Ein „Angebot“ staatlicher Beihilfe von 5000 € für den Kauf eines Elektroautos wird von Menschen, die kaum ihren alten Schrottwagen unterhalten können, als blanker Zynismus verstanden.
Und arrogante Äußerungen des Präsidenten zu einem Arbeitslosen, er brauche doch nur über die Straße zu gehen, um Arbeit zu finden, tragen nicht gerade zur Entspannung der Situation bei.
Im Vorspann zu diesem Thread wirft Bronski die Frage auf, ob Herrn Macron der soziale Kompass abhanden gekommen ist bzw. ob der französische Präsident jemals einen besessen hat. In seiner Ansprache vergangenen Montag, in der er von sozialem Notstand geredet hat, betont er zugleich die Forderung nach einem Frankreich, in dem es sich würdig von der eigenen Hände Arbeit leben lässt. Manchem deutschen Zuhörer mag das nicht bewusst sein, aber Herr Macron nimmt hier unausgesprochen einen Faden auf, der in Stuttgart anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Automobilindustrie bereits gesponnen wurde. Schon damals ging es darum, die längst von der empirischen Sozialforschung gewonnenen und daher unabweisbar auf dem Tisch liegenden Erkenntnisse zur Frage würdiger Arbeit endlich aufzugreifen und umzusetzen. Insofern hält Herr Macron die Gelbwesten-Bewegung sogar dazu an, dafür friedlich und ohne Gewaltexzesse auf die Straße zu gehen.
@Werner Engelmann
„so mit Wohnsteuer (zusätzlich angehoben)“
Soviel ich weiß, soll die nicht geringe und unfaire Wohnsteuer (tax d’habitation) in drei Schritten bis 2020 für Einkommen unter 27‘000 Euro für Alleinstehende bzw. 43‘000 Euro für Ehepaare vollständig abgeschafft werden. Dies betrifft etwa 80% der Haushalte und nicht die Reichen und ihre Zweitwohnungen.
Was Sie über die Infrastruktur auf dem Lande schreiben, ist ein Phänomen, das nicht nur auf Frankreich beschränkt ist. Wir haben es weltweit mit einer Landflucht zu tun und es wird daher immer schwieriger, den öffentlichen Nahverkehr auf dem Lande zu finanzieren. Wir haben hier jede 30 Minuten einen Zug in die benachbarten Großstädte. Der Zug braucht 12 Minuten, mit dem Auto zwischen 30 Minuten und einer Stunde. Die Straßen sind immer voll und im Zug sitzen 4 Rentner und 1 Studentin.
Ich habe mir mit 48 Jahren mein erstes Auto gekauft, weil ich es satt war, im französischen Bahnhof von Genf zu stehen und zu hören, dass wahrscheinlich kein Zug nach Lyon fährt, weil die Eisenbahner mal wieder streiken, weil sich ein Passagier schlecht benommen hat oder einer sonstigen Lappalie.
Der Unterschied zu Frankreich ist, dass man in Deutschland dafür nicht Angela Merkel persönlich verantwortlich macht und ihren Rücktritt fordert.
Im Folgenden zur besseren Einschätzung einige Auszüge aus einer über change.org verbreiteten Nachricht von Priscillia Ludosky, einer Leaderin der „Gelben Westen“, an den franösischen Präsidenten Macron (Übersetzung von mir):
Sie kritisiert, ohne die Berechtigung von Schritten in Richtung Umweltschutz in Zweifel zu ziehen, als „unverantwortlich und ungerecht“ insbesondere die Maßnahmen, die ausschließlich am meisten Benachteiligte treffen. Während Kerosin für Flugzeuge oder Öl für Luxusdampfer weiterhin ohne Steuern verbleiben.
Zum „tiefen Zorn“ schreibt sie:
„Ja, wir sind zornig, und ja, wir verweigern Steuern, von denen wir nicht wissen, welcher Finanzierung sie dienen und in welchem Maß sie gerechtfertigt sind. Ja, wir haben nicht den Eindruck, dass die im Laufe des Jahres ergriffenen Maßnahmen im Interesse des Allgemeinwohls sind, sondern in dem von Lobbyisten und Industriellen.“
Zusammenfassend fordern die „Gelben Westen“:
„- eine beträchtliche Senkung der Renten, Einkommen und Privilegien und gegenwärtiger und künftiger Pensionen für Deputierte und höhere Funktionäre. Das würde nicht nur deren Solidarität mit weniger Privilegierten unter Beweis stellen, sondern auch von ökonomischem Nutzen sein.
– ein Bürger-Referendum in die Wege zu vier Punkten in die Wege zu leiten:
*das Volk zum In-Gang-Setzen eines Referendums über die Veränderung der Verfassung zu ermächtigen und Verfassungsänderungen ohne nachfolgende Zustimmung über ein Referendum zu verbieten
*das Volk zum Einbringen und Abschaffen von Gesetzen über Themen zu ermächtigen, das es selbst wählt
*das Volk zu ermächtigen, ein Referendum zu allen im Parlament verabschiedeten Gesetzen zu verlangen
* den Präsidenten zu verpflichten, alle Vereinbarungen, Übereinkünfte und internationalen Verträge vor ihrer Ratifizierung einem Referendum zu unterwerfen.“
Einschätzung:
Nach meiner Analyse handelt es sich hier um eine Mischung aus wohl begründeten Forderungen, erwachsend aus einem tiefen Gefühl der Ungerechtigkeit einerseits und illusorischen, diffusen und auch höchst gefährlichen Vorstellungen von „Volk“ und von „direkter Demokratie“ andererseits, von denen nicht klar erkennbar ist, ob sie aus der rechtsradikalen oder linksradikalen Ecke kommen (vermutlich aus beiden). Höchst gefährlich deshalb, weil sie nur innerhalb eines vom „Volk“ „legitimierten“ Terrorsystems nach dem Vorbild des Terrors im Anschluss an die Französische Revolution „praktikabel“ wären.
Ein Beleg aber auch, wohin es führt, wenn die Bedeutung einer sich massiv ausweitenden Gerechtigkeitslücke unterschätzt und die Federführung des Protests Gruppierungen überlassen wird, die immer mehr zu Irrationalismus und zu Radikalismus neigen.
Die Kerosinsteuer ist ein beliebtes Thema. Für inländische Flüge könnte es in der EU jederzeit eingeführt werden. In den Niederlanden wurde es für Inlandsflüge (gibt es die in den Niederlanden?) eingeführt.
Interessanter sind aber die transnationalen Flüge. Die Steuerfreiheit ist in dem Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt geregelt. Ein Austritt aus diesem Abkommen ist wohl nicht angebracht.
Mitgliedsländer können aber von einzelnen Regelungen des Vertrags abweichen. Es besteht nur eine Mitteilungspflicht.
Was würde passieren, wenn ein Land wie Frankreich eine Kerosinsteuer einführen würde. Wenn die Steuer sehr gering wäre, natürlich nichts. Aber die Steuer soll natürlich eine Lenkungswirkung haben.
Wer in einer großen Stadt wie Paris (82 Minuten mit dem TGV nach Brüssel)oder in der Nähe der Grenze lebt, fährt zum nächsten ausländischen Flughafen und fliegt ohne Kerosinsteuer. Wer sind die Gelackmeierten? Die Menschen, die auf dem Lande und im Zentrum des Landes leben. Was machen die dann? Sie legen eine gelbe Weste an und …
Es muss meines Erachtens nicht zum Volksaufstand kommen, wenn die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung durchschaubar funktionieren. Abgesehen von der Fremdsteuerung von Aufständen durch despotische Kräfte usw.
Es sind die Ungerechtigkeiten, die sozialen Schieflagen (nicht in einen Topf mit Ungleichheiten zu werfen), die nach und nach wie Gift in die Gesellschaft tropft und zum gegebenen Zeitpunkt eine Schmerzgrenze erreicht. Und da komme ich einfach auch auf den elitären Führungsstil von Macron zurück, der zum Einen nicht von ungefähr kommt (er kommt nun mal aus der Elite) und zum Anderen zu dieser chronischen Unterschätzung der sich massiv ausweitenden Gerechtigkeitslücke (Engelmann), die auch nicht von ungefähr kommt.
Macron und seine noble Gesellschaft wissen gar nicht was soziale Ungerechtigkeit ist. Sie leb(t)en in ihrer Welt der Größenordungen, die nichts mit den Millionen Abgehängten, Verlieren, Überflüssigen und Armen zu tun hat.
Menschen, die es auf diesem Hintergrund in die große Politik treibt, haben ganz andere Motive als eine halbwegs gerechte Gesellschaft zu schaffen. Es ist der Wille zur Macht und der Drang zum Erfolg, auf der großen Bühne zu stehen.
Werner Engelmann wird sich in Frankreich um einiges besser auskennen als ich, wenn ich sage, dass der Niedergang der Sozialisten, einer ehemals politischen Heimat der Arbeiterklasse, und das Damoklesschwert einer faschistoiden Familienpartei Le Pen (mit einer beträchtlichen Anhängerschaft) den politischen Raum freigemacht haben für die Elite, mit ihren ganz eigenen Ambitionen, aber auch mit einer gewissen Ausstrahlung, wo sich auch der „brave Bürger“ dem nicht ganz erwehren kann.
Ich wage mal einen Tipp: Macron wird wohl seine Präsidentenzeit überstehen, ohne Glanz und Gloria und dann wir es spannend wie das „Volk“ sich entscheiden wird? Marine Le Pen winkt schon von weitem.