Ich veröffentliche einen offenen Brief von Lehrerinnen und Lehrern, SozialpädagogInnen, Eltern und Schulleitungsmitgliedern dreier Schulen aus nördlichen Stadtteilen Duisburgs (Marxloh, Neumühl, Walsum) an Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dieser Brief wurde ursprünglich am 22. März 09 erstmals verschickt. Gut zwei Monate nach dem Amoklauf von Winnenden ist nichts geschehen. „Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
nach dem schrecklichen Ereignis an der Schule in Winnenden haben Sie in einem Interview bei NTV gesagt: „… Dieser Tag mahnt uns auch, darüber nachzudenken, ob wir unseren Mitmenschen immer die notwendige Aufmerksamkeit entgegenbringen. …“ (H. Köhler, Interview auf NTV am 11.03,2009 um 18.52 Uhr).
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
nach dem schrecklichen Ereignis an der Schule in Winnenden haben Sie in einem Interview gesagt: „ Wir müssen aufmerksam sein, das ist die Lehre, auf alle jungen Menschen – das gilt für Eltern, das gilt für Erzieher. …“ (A. Merkel am 15.03.2009 in den ARD – Tagesthemen).
Ausdrücklich unterstützen wir Ihre Aussagen. Als Mitarbeiter von Schulen im Duisburger Norden wollen wir diesen Anforderungen nachkommen, müssen dazu jedoch Folgendes bemerken:
– Jedem Schüler genügend Aufmerksamkeit und Anerkennung zu geben, gerät im Schulalltag bei 28 oder mehr Schülern pro Klasse in den Hintergrund.
– An vielen Schulen sind nicht alle Stellen besetzt, so dass die dort arbeitenden Kollegen zusätzlich belastet werden.
– Eltern, die oftmals beide arbeiten müssen, um die Existenz der Familienmitglieder zu sichern, haben nicht mehr die Zeit, um sich in ausreichendem Maße um ihre Kinder zu kümmern. Bei den geschiedenen, getrennt lebenden Eltern oder zerrütteten Familien ist es noch schwieriger.
– Die Etats für städtische oder kirchliche Einrichtungen, die Kindern und Jugendlichen sinnvolle Freizeitbeschäftigungen anstelle von Fernsehen und Computerspielen anbieten, werden immer weiter zurückgefahren.
– Wir beschäftigen an unseren Schulen Sozialpädagogen, die wichtige und gute Arbeit leisten, allerdings nur mit Verzicht auf eine Lehrerstelle.
– Auf einen Schulpsychologen kommen derzeit bundesweit mehr als 10.000 Schüler – besondere Fürsorge kann man da kaum erwarten.
Wir haben den Eindruck, dass Politiker zu diesen Punkten viele Vorschläge machen, eines tun sie unseres Erachtens aber nicht – sie stellen dafür nicht ausreichend Finanzmittel bereit. Außergewöhnliche Situationen erfordern aber auch außergewöhnliche Maßnahmen. In der Finanzkrise hat sich gezeigt, dass die Politik sehr schnell handeln kann, vor allem dann, wenn es sich um „systemstützende“ Einrichtungen handelt, die
unbedingt erhalten werden müssen.
Wir wollen an dieser Stelle ausdrücklich feststellen: Wir halten unsere Kinder und Jugendlichen auch für wertvoll und für besonders unterstützenswert. Und weil diese gesellschaftliche Stütze in Gefahr ist, müssen auch hier außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen werden. Wir glauben auch, dass eine der führenden Industrienationen der Welt sich diese Investition in die Zukunft, in eine lebenswerte Gesellschaft, leisten kann. Im Bereich Erziehung und Bildung wird unserer Ansicht nach „gekleckert“, nicht „geklotzt“ – Letzteres aber wäre unserer Ansicht nach nötig, um nach der Rettung der Wirtschaft für gesellschaftlich stabile Zustände zu sorgen.
Wir bitten Sie darauf hinzuwirken, dass genügend Finanzmittel bereitgestellt werden,
– um Klassengrößen auf max. 20 Schüler pro Klasse zu begrenzen,
– um in angemessener Zahl Stellen für Sozialpädagogen bereitzustellen, wenn die jeweilige Schule dies wünscht,
– um eine angemessene Ganztagsbetreuung an Schulen zu gewährleisten,
– um eine sinnvolle Freizeitgestaltung in städtischen u. kirchlichen Einrichtungen zu gewährleisten.
Es wäre schön, von Ihnen eine Antwort zu erhalten.
Mit besorgten Grüßen
LehrerInnen, SozialpädagogInnen, Eltern und Schulleitungsmitglieder“
Übermittelt durch Claus Stroeter, Duisburg, und Reiner Geßwein, Mülheim an der Ruhr
Ein paar Fragen bleiben offen:
1. Verstehen die Schreiber des Briefes die Schule als Früherkennungs- und Reparaturorgan für Fehlentwicklungen bis hin zum Amoklauf, oder verstehen sie die Schule als Auslöser und Begründer solcher Fehlentwicklungen (aufgrund mangelhafter Austattung, Fähigkeit und Kompetenz)?
2.Ist ihnen bewußt, daß die Formulierung „außergewöhnliche Situationen erfordern aber auch außergewöhnliche Maßnahmen..“ und „Klotzen statt Kleckern“ schon eine Amokbegründung beinhaltet, die sie im Schulalltag sowohl provozieren als auch relativieren?
3. Ist den angesprochenen Politikern bewußt, daß der Zeitraum, der zwischen Frage und Antwort vergangen ist, zu einem Amokgrund werden kann, der von starken Menschen mit Geduld und Resignation, von schwachen Menschen mit Frustration und Gewalt kompensiert wird?
4. Ist den Schreibern des Briefes klar, daß die Forderung nach „sinnvoller Freizeitgestaltung“ eine pädagogische Ausflucht ist? Es geht um sinnvolle „Arbeitszeitgestaltung“ und „Schulzeitgestaltung“.
Freizeit ist nicht die Kompensation von Defiziten im Bildungs- oder Arbeitsleben!
Eigentlich bin ich erstaunt, wie lange Lehrer den Entwicklungen in Problembezirken tatenlos zugesehen haben. Verhältnisse wie die an der Berliner Rütlischule sind keine Ausnahmen. In Berlin hat es vor wenigen Monaten einen zweiten Brandbrief gegeben- diesmal von Schuldirektoren des Bezirks Mitte.
Ich habe in diesem Forum schonmal darüber geschrieben:
ein Freund von mir, der an einer Duisburger Hauptschule tätig war, beklagte sich über die Lernunwilligkeit bei den meisten seiner Schüler. Gewalt selbst gegenüber Lehrern und der Handel von Drogen an den Schulen seien alles andere als selten. Unterrichtsstoff zu vermitteln sei gar nicht mehr die Hauptaufgabe der Lehrer gewesen. Man kann sich vorstellen, auf welch einem Bildungsniveau die Schüler ihre Schule verließen.
Eine andere Bekannte ist Lehrerin an einer Gesamtschule in der Berliner Gropiusstadt. Sie berichtete, dass Schülerinnen aus entsprechenden Klientels im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratet wurden und ab da nur noch vollverschleiert zur Schule gingen.
Lehrer an solchen Schulen sind völlig überfordert und können von Behörden und Schulleitung selten Unterstützung erwarten. Die Probleme werden aus bestimmten Gründen verschwiegen und unterdrückt. Bedenkt man, dass solche Schulabgänger nicht nur gewöhnliche Bildungslücken, sondern auch schwerwiegnede Defizite in der pol.-gesellschaftl. Bildung haben, kann es uns um unsere Gesellschaft und Demokratie Angst und Bange werden.