Stephan Hebel hat einen bemerkenswerten Text zum aggressiven Umgang mit Andersendenkenden geschrieben, der in der FR-Serie „Auf die Fresse“ erschienen ist: „Der geformte Mensch„. Darauf gibt es natürlich Reaktionen. Auch diesmal empfehle ich, erst den FR-Text zu lesen und dann folgenden Gastbeitrag von Monika und Werner Dörr aus Polch, den ich im Print-Leserforum um etwa die Hälfte gekürzt veröffentlicht habe. Hier kommt nun die ungekürzte Veröffentlichung.
Die Freiheit nimmt nicht zu, sondern ab
von Monika und Werner Dörr
.
Stephan Hebel hat wieder einmal eine Analyse geliefert, der wir zustimmen können – aber, lieber Herr Hebel : „so what“? Wessen vornehmste Aufgabe wäre es, den Menschen Wege zu zeigen, ihren „inneren Frieden“ zu finden, indem sie das, was sie wirklich „wollen“ auch in der Realität tun „können“? Die etablierten christlichen Kirchen können es nicht mehr, weil sie die Menschen mehrheitlich kaum noch erreichen.
Was aber trägt die Politik / was tragen die Politiker bei? Sind sie Vertreter des „Volkes“ von dem sie gewählt wurden oder propagieren sie nach der Wahl nur noch, was aktuell ihrem eigenen „inneren Frieden“ dient? Wäre es nicht ihre Aufgabe, auf die Menschen zu „hören“, zumal die sich ja nicht nur digitalisiert sondern auch in regen Demonstrationen zu politischen Themen wie derzeit „CETA“ und „Einwanderung“ äußern? Da sind wir bei Ihrem Schlusssatz, der zu der „so- what-Frage“ Anlass gibt: Auf die beispiellose Solidaritätsbereitschaft und das private Engagement anlässlich der Zuwanderungswelle im Herbst 2015 antwortete die Politik mit einer Diskussion um „Obergrenzen“ und propagiert heute eine „Nationale Kraftanstrengung bei Rückführungen“. Wir haben unseren Augen und Ohren nicht getraut: Nicht „Kraftanstrengung zur Integrationsbewältigung“, nicht „Kraftanstrengung zur Unterstützung der Solidarität“, sondern Kraftanstrengung zur „Rückführungsbewältigung“, also zu „Desintegration“ von Personen, die – aus welchen politisch definierten Gründen auch immer- nicht in Deutschland bleiben sollen.
Wessen „innerer Friede“ wird mit einem solchen politischen Ansatz eigentlich gefördert und aus welchen Gründen?
Oder, das andere Beispiel: Hunderttausende haben in Deutschland gegen TTIP und CETA demonstriert, im zweiten Jahr schon. Die Politik war bereit, immerhin, die Zustimmungsentscheidung der Ebene der nationalen Parlamente anzuvertrauen. Nun hat ein „kleines“ Parlament widersprochen und erfährt breite Zustimmung aus der Bevölkerung quer durch die EU. Was ist Reaktion der Politik? Einen „politischen Shitstorm“ könnte man es nennen, was da auf die Verantwortlichen der Wallonie niedergeht. Und unsere Print- wie TV-Medien? Sie stimmen fast unisono in dieses Horn mit ein, dass hier ein „Teilparlament“ die ganze EU „lächerlich mache“! In der öffentlichen Argumentation geht es nicht mehr um die Fragen, die so viele Menschen bewegt haben, gegen das Abkommen auf die Strasse zu gehen, sondern nur noch darum, dass die Unterzeichnung doch „schon geplant“ ist und dass nicht ein „Kleiner“ dagegen sein darf, wenn die Großen es wollen. Um den „innere Frieden“ der „den Tränen nahen“ kanadischen Außenministerin kümmert sich daher nun (nach eigenen Worten jüngst in einer Talkshow „ohne exekutive Funktion“) Martin Schulz, noch – EU-Parlamentspräsident und „noch-nicht-Kanzlerkandidat“ der SPD. Seinem „inneren Frieden“ dürfte er sich wohl nähern, wenn die EU nach seiner Intervention CETA unterschreibt. Aber was richtet das mit dem „inneren Frieden“ der Bürger in Deutschland und in Europa an?
In der digitalisierten Welt lassen sich Gefühle zu politischen Entwicklungen rasch in die Öffentlichkeit bringen, es wäre daher für Politiker ein Leichtes, Strömungen zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen und zu zeigen, was sie an „Wegen zur Solidarität“ anzubieten haben. Noch immer ist aber das Gegenteil der Fall. Weshalb also wundern sich Politiker über Wut und Widerstand?!
Das „Formen“ der Menschen beginnt heute schon vor dem Kindergarten: Gab es letzte Woche eigentlich auch kritische Kommentare zum „Kita-Platz-Anrechts-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts? Wir haben in Medienkommentaren immer wieder gehört, dass das Urteil dem entgegenkomme, was die Frauen „heute wollen“ (Ihr Fromm-Zitat lässt grüßen!). Könnte man nicht auch nach anderer Gestaltung von Löhnen und gesellschaftlichen Umständen fragen, die Kindern die Früh-Entfremdung von der Mutter erspart? Vom staatlichen Kita-Platz, Früheinschulung mit 5 Jahren und Englisch in der Grundschule über G8 bis zum Bachelorstudium – die gesellschaftliche „Formgebung“ der Generation Neoliberalismus wurde im letzten Jahrzehnt mit Unterstützung aller relevanten politischen Parteien perfektioniert. Da wurden Räume und Zeiten für die Besinnung, welche die nötige Grundlage für „inneren Frieden“ darstellt, systematisch beschnitten oder beseitigt.
SMS, Internet-Chatroom und „Whats-App“ sind die technischen Totengräber gerade dessen, was sie vorgaukeln und was Voraussetzung ist, um den eigenen wie den gesellschaftlichen „inneren Frieden“ zu finden: echter zwischenmenschlicher Kommunikation. Aber damit lässt sich kein Geld verdienen, dafür braucht man keine „Freihandelsabkommen“ sondern den Raum zum „freien Denken“ und zum Austausch darüber. In Schule und Studium wurden diese Räume beschnitten, die Abgabe der frühkindlichen familiären Erziehung an staatliche Institutionen war der – vorerst? – letzte Schritt. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft nicht nur von „entfesseltem Konkurrenzkapitalismus“ sondern von „gefesselter“ und zugleich zunehmend kontrollierter Kommunikation.
Die Freiheit nimmt nicht zu, sondern ab. Es fällt schwer, da noch zu glauben, dass der „innere Unfrieden“ produktive Kräfte freisetzen könnte, die neue Bedingungen schaffen, welche „den menschlichen Grundbedürfnissen besser entsprechen“. Wirtschaft und Politik haben die „menschlichen Grundbedürfnisse“ längst nach ihren Profitinteressen umdefiniert, das „Wollen“ ist dem „Sollen“ untertan – und keiner hat’s gemerkt …
Wo ist der Widerspruch zwischen dem Gastbeitrag und dem guten Artikel von Stephan Hebel? Herr Hebel behauptet doch gar nicht , daß die Politik auf Freiheit hinwirkt.
Er ist nur optimistisch , daß sich der Unfrieden nicht zwingend destruktiv entladen muß.
Dafür spricht einiges , nicht zuletzt , daß es ähnliche Entwicklungen schon mindestens einmal gegeben hat.
In den 60ern waren es auch erstmal die Rechten , die das Land aufgemischt haben , bis sich letztlich die 68er-Bewegung entlud und irgendetwas in Gang gebracht haben muß , daß die rechten Wähler zufrieden-oder ruhig gestellt hat.
Könnte sogar sein , daß es gar nicht anders geht , vielleicht ist das der Weg , den gesellschaftliche Fortschritte gehen.
Herr Hebel analysiert das sehr gut , es ist erstmal eine Verschärfung des alten Denkens , mit dem versucht wird , auf die Krise zu reagieren , wenigstens von einem Teil der Menschen.
Irgendwie auch logisch , wäre es nicht so , wäre es gar nicht erst zur Krise gekommen.
DH hat im ersten Satz erkannt, was wir meinen, im zweiten nicht: Richtig, Herr Hebel nimmt diesmal nicht die Politik in Verantwortung, sondern vertraut auf gesellschaftliche Kräfte.Aber diesen „Optimismus“ teilen wir nicht, eben weil die Gesellschaft heute ganz anderen Zwängen unterliegt als vor Jahrzehnten – und diese werden politisch -weil wirtschaftsnützlich- massivst gefördert. An Kritik aus der Gesellschaft daran mangelt es. Herr Hebel „spürt“ das und analysiert – aber er bleibt u.E. (noch?)sehr an der Oberfläche.
Und die Tatsache, dass hier noch nicht mehr Kommentare erscheinen, sehen wir als Beleg für unseren „Pessimismus“ (Vgl. letzter Satz im Beitrag)!
Wenn die Mehrzahl der Menschen vor dem kapitalistischen Wirtschaftssystem in seiner gegenwärtigen hochtourigen Ausprägung mehr oder weniger kapituliert oder sich mit diesen Verhältnissen arrangiert hat, dann ist dieses globale Profit- und Wettbewerbs-System längst zur inneren Struktur geworden. Die Belastungen und Zumutungen umgeben die Beteiligten keineswegs nur als Außenseite, sondern sie sind bei diesen innen angekommen. Beides ist nicht leicht zu durchschauen. Stephan Hebel spricht verständlich „vom geformten Menschen als Produkte der Gesellschaft in der sie leben“. Eigentlich keine so überraschende Aussage, aber die vermeintlichen und realen Alltagszwänge verschütten diesen Zugang, der aber der richtige Ausgangspunkt ist, um zu verstehen, warum in dieser Turbowelt der Seelenfrieden keinen Platz finden kann. Stattdessen entwickeln sich Neid, Hass, Rassismus, Ausgrenzung, Menschenverachtung, Angst & Gewalt, in immer größerem Ausmaß und in subtilsten Formen. Alles, was abweicht von den eigenen Lebensvorstellungen oder dem allgemeinen Konformismus, ist von Übel. Der sichere Weg in eine autoritäre und anpassungsbereite & unterwürfige Gesellschaft.
Wenn alles Markt ist, und der Mensch nach seinem Arbeitsmarktwert beurteilt wird, müssen die Worte Autonomie und Freiheit wie Hohn klingen.
Dazu kommt das allgegenwärtige Ausblenden, weil auch von einer Theoriefeindlichkeit bestimmt, der Widersprüche und Differenzen. Alles, was an Unterschiedlichkeiten und Widersprüchen (auch Fremdartigen) aus der Gesellschaft versucht wird heraus zu streichen und zu verdrängen, kommt wieder in Form von Aggression, Hass und Gewalt. Es fehlt die kritische Reflexion, die auch auf sich selbst gehen muss. „Wer denkt, schlägt nicht zu“ (Adorno, Kritische Theorie) oder auch „Wer denkt, setzt Widerstand“.
Zum Schluss zitiere ich gerne Herbert Marcuse (1937!): „In einer Gesellschaft, die in ihrer Totalität durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmt und so bestimmt war, dass die unbeherrschte Wirtschaft alle menschlichen Verhältnisse beherrschte, war auch alles Nicht-Ökonomische in der Ökonomie enthalten.“
Stephan Hebels Feststellung, dass auch „populistische“ Hass-Produzenten „Produkte der Gesellschaft sind, in der sie leben“, wird man kaum widersprechen können. Schon deshalb, weil sie in der Allgemeinheit ziemlich trivial erscheint. Die Frage ist aber, ob Versuche, deren Exzesse so allgemein auf „entfesselten Konkurrenz-Kapitalismus“ zurückzuführen, nicht doch die Tendenz in sich tragen, diese „zu entschuldigen“.
Auch Monika und Werner Dürrs Zweifel daran, „dass der ‚innere Unfrieden‘ produktive Kräfte freisetzen könnte“ kann man sehr wohl teilen. Fragt sich nur, ob solcher Pessimismus weiter hilft.
Am ehesten einen Ansatz für eine produktive Diskussion sehe ich in Jürgen Malysseks Äußerung (1. November 2016 um 13:23):
„Alles, was an Unterschiedlichkeiten und Widersprüchen (auch Fremdartigen) aus der Gesellschaft versucht wird heraus zu streichen und zu verdrängen, kommt wieder in Form von Aggression, Hass und Gewalt.“
Die Hilflosigkeit im Umgang mit „Pegida“, AfD und Gewaltpedigern aller Art (nicht zuletzt bei manchen Linken) ist mit Händen zu greifen. Erscheinen doch mancher Hass auf „Etablierte“ und auch viele „Ängste“ durchaus berechtigt. Hieraus bereits Strategien für den Umgang mit diesen abzuleiten, heißt aber, deren selbstbetrügerischer Behauptung auf den Leim zu gehen, man greife ja nur die Probleme auf, die „dem Volk“ auf den Nägeln brennen. Und dies führt in der politischen Praxis dazu, aggressiven fremdenfeindlichen Strategien hinterher zu laufen (siehe CSU und „Obergrenze“).
Dabei werden – wie Jürgen Malyssek richtig anmerkt – die gerade in „populistischen“ Kreisen gewaltigen Widersprüche und massiven Verdrängungsmechanismen übersehen. Die Leugnung von Umweltproblemen, der antikapitalistische und „soziale“ Anstrich bei gleichzeitigen Vorstellungen von Steuer“gerechtigkeit“ im Interesse von Vermögenden (so im AfD-Programm) seien nur als Beispiele genannt. Mehr noch zeugt davon die Totalverweigerung für eine vorausschauende Analyse in der Flüchtlingsfrage. Etwa bez. der Frage, wie denn angesichts von Globalisierung und beängstigenden demographischen Entwicklungen und politischen Krisen, besonders in Afrika und im vorderen Orient, eine „Festung Europa“ sich mit Mauer und Stacheldraht auf Dauer aus dem Strudel der Geschichte heraushalten könne.
Deutlicher noch am Beispiel USA:
Nach ARTE-Dokumentation ist seit Obamas Versuch, wenigstens ansatzweise eine Kontrolle für Waffenverkauf durchzusetzen, der Schusswaffenumsatz um 77 % gestiegen. Die Interessen der Waffenlobby sind dabei mit „entfesseltem Konkurrenz-Kapitalismus“ sicher leicht zu erklären. Anders der Wahn von Waffenkäufern, die mit flächendeckender Verbreitung von Tötungsmaschinen dem „Schutz des Lebens“ zu dienen meinen. (Werbespot der NRA: „Wenn Föten Waffen hätten, gäbe es keine Abteibungen.“) Hierfür reicht ein vorwiegend ökonomisch geprägtes Denkmodell der Kapitalismus-Kritik nicht mehr aus. Es bedarf dazu wohl auch differenzierter anthropologischer, psychologischer und historischer Erklärungsansätze.
Gleiches gilt mit Sicherheit auch, um zu erklären, wie ausgerechnet die Inkarnation des Casino-Kapitalismus, ein milliardenschwerer, skrupelloser Steuerhinterzieher und Egomane mit „Killerinstinkt“ zur Ikone des Kampfes gegen das Establishment und zum neuen Heilsbringer verklärt werden kann. Zumindest werden die pervertierenden Wirkungen einer allumfassenden Illusions-Industrie, gerade in Zeiten der Verunsicherung und der Krise, herangezogen werden müssen: Die, indem sie zu Realitätsflucht führt, mit nationalistischen Taumel („Make America great again“) zugleich einen Schein von „innerem Frieden“ erzeugt, wobei dann aber – nach Jürgen Malysseks Ansatz – die verdrängte Wirklichkeit „in Form von Aggression, Hass und Gewalt“ wiederkehrt.
Ein analytischer Ansatz, der freilich noch nicht zur Klärung der Frage ausreicht, ob und vor allem wie „innerer Unfrieden“ auch produktive Kräfte freisetzen kann.
Immerhin geben historische Erfahrungen hier auch Anlass zur Hoffnung. So etwa, dass auf diese Weise auch Fesseln feudaler Verhältnisse überwunden, aufklärerische Kräfte freigesetzt und Menschenrechte international fixiert wurden. Wobei freilich der ungeheuere Blutzoll nicht unerwähnt bleiben darf, der dafür zu bezahlen war. Ebenso wenig, dass solche Prozesse auch umkehrbar sind, wie bereits Habermas in seiner These von der „Refeudalisierung der bürgerlichen Gesellschaft“ (in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“) aufgezeigt hat. Eine These, die angesichts von Bestrebungen nach Rücknahme demokratischer Errungenschaften und kodifizierter Menschenrechte (allen voran des Asylrechts) beängstigende Aktualität gewinnt.
@Werner Dörr
Sie analysieren das richtig , die Verwerfungen gehen tief in den Lebensbereich der Menschen hinein.Aber das ist genau der Vorgang , der Ökonomisierung genannt wird.
Darüberhinaus setzen Sie faktisch voraus , daß sich Freiheit nur aus Freiheit entwickeln kann. Das heißt aber , daß es sie dann nicht gäbe , denn zuerst war mehr Unfreiheit , dann wurde mehr Freiheit erkämpft.
Gerade Drucksituationen haben den Menschen vorangebracht- daß noch nicht gekämpft wird , hat seine Ursache vor allem darin , daß das nicht ganz ungefährlich ist .
Es ist durchaus sinnvoll , wenn die Menschen warten , bis es gar nicht mehr anders geht.
Wäre ich Teil der Eliten , würde ich mir Sorgen machen , gerade diese Friedhofsruhe ist aus deren Sicht ein Grund , mehr als beunruhigt zu sein.
Zum Thema Freiheit: Es gibt einen sehr schönen Satz von Peter Weiss (‚Ästhetik des Widerstandes‘), der übrigens dieses Jahr am 8. November 100 Jahre alt geworden wäre:
„Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.“
Ob es sinnvoll ist zu warten, bis es gar nicht mehr anders geht (DH), obwohl es leider oft nur so funktioniert, wage ich dennoch zu bezweifeln (s. Peter Weiss)
Auf den Kommentar von Werner Engelmann komme ich aus Zeitgründen morgen nochmal zu sprechen.
@Jürgen Malyssek
Sie haben natürlich recht , es wäre sinnvoller , früher einzugreifen.
Über die genannten Gründe hinaus könnte es eine erhebliche Rolle spielen , daß sehr viele Menschen einen Horizont haben (wollen) , der über den einer Briefmarke nur bedingt hinausgeht. Die verdrängen solange , bis die Mißstände direkt vor ihren Füßen liegen und sie höchstpersönlich betreffen.
Soweit ich mich mit der Kritischen Theorie im Sinne von Adorno, Horkheimer und Benjamin beschäftigen konnte, die jedenfalls in der Theorie und Praxis u.a. meiner Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle gespielt haben (Reflexion der gesellschaftlichen Widersprüche und Differenzen), soweit kann ich auch die Bedenken von Werner Engelmann verstehen. Nämlich, dass die Versuche, die Gewalt- und Hass-Exzesse in der Gesellschaft allgemein auf den „entfesselte Konkurrenz-Kapitalismus“ zurückzuführen, nicht doch die Tendenz in sich tragen, diese „zu entschuldigen“. Vielleicht? Ich meine aber, dass die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus als System, gleichzeitig die Aufgabe mit sich bringt, die eigenen einbauten bzw. verinnerlichten Widersprüche zu reflektieren. Nur mit dem Finger aus DAS SYSTEM zu zeigen, das genügt nicht mehr.
Ohne im Einzelnen auf Beispiele einzugehen, bin ich sehr wohl der Meinung, dass der „innere Unfriede“ produktive Kräfte freisetzen kann, sobald man deren Wurzeln weit über die Systemfrage hinaus erkannt hat. Das ist nicht leicht. Und insofern liegt ja gerade bei dem, was im Zeichen des fehlenden Seelenfriedens auch heute passiert, im aufziehendem Hass, Neid, Rassismus, in der Ausgrenzung und Menschenverachtung, der Mangel an Reflexion und Selbstreflexion zugrunde. Zu entschuldigen sind die Exzesse des Turbo-Kapitalismus und des Raubbaus an den natürlichen Ressourchen usw. überhaupt nicht! Aber denken hilft.
Man sollte auch nicht so schnell, wie bei M. + W. Dörr’s Meinungen, von Beleg für „Pessimismus“ sprechen. Oder anders ausgedrückt: „Pessimismus“ ist durchaus angebracht. Deshalb scheidet man ja nicht als aktiver Teil der Gesellschaft von vorne herein aus. Wir wissen ja, wieviel Verlogenheit und Zwangsbeglückung das Gegenstück des Pessimismus, der Optimismus, mit sich trägt, wenn er erst einmal auf die Menschheit losgelassen wird und das Denken gehörig ausschaltet.
Der gewissen Hilflosigkeit im Umgang mit „Pegida“, AfD u.a. (Engelmann weiter), das kann ich auch so erkennen. Hier geht es um die Klarheit der eigenen Haltung, der Weltsicht und des Menschenbildes. Erst einmal vereinfacht ausgedrückt, aber so ist es im Wesentlichen.
Auch die Fragestellung, wie denn angesichts von Globalisierung und beängstigten demografischen Entwicklungen und […]eine „Festung Europas“ auf Dauer […] sich heraushalten könne aus dem Strudel der Geschichte, ist eine passende.
Und wie W. Engelmann weiter unten sagt, dass eine Kapitalismus-Kritik nicht alleine mit einem ökonomisch geprägte Denkmodell ausreicht. Hier sind wir wieder bei den vielen verschiedenen Ebenen der Gesellschaft, die unter die Lupe genommen werden müssen, wie jedenfalls die kritischen Ansätze in den 1960er und 1970er Jahren da waren. Ob Adorno, Marcuse, Negt oder wie wir sie in der Kritischen Sozialen Arbeit (also Blick auf die humanen und sozialen Fragen) damals vorfinden konnten.
Donald Trump wäre was für eine Extra-Ausgabe. Das lasse ich mal weg.
Es bleibt im Wesentlichen bei der Erkenntnis, dass alles Verdrängte in meist gewaltiger und angstbestimmter Form wiederkehrt, in die Parzellen der Gesellschaft und in die Menschen, die oft die Ursachen nicht mehr wieder erkennen und deshalb in der Regel unangemessen reagieren. Der innere Unfriede ist insofern auf Dauer ein gefährlicher Zustand. Wir erleben gerade jetzt, wie häufig die Bewahrung der Errungenschaften der Demokratie aufs Schild gesetzt werden, was richtig ist, aber wie fragil das Ganze geworden ist. Da trägt unter anderem auch Silicon Valley und die Macht des Ökonomischen über die Politik einen mächtigen Teil dazu bei.
Weiter und verstärkt sind die Intellektuellen (nicht alle) und die Künstler und Schriftsteller gefragt, mitzuhelfen, Wachsamheit und Nachdenklichkeit mit zu gestalten.
@ Jürgen Malyssek, 4. November 2016 um 15:48
Erstmal danke für die ausführliche Antwort.
„Ich meine aber, dass die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus als System, gleichzeitig die Aufgabe mit sich bringt, die eigenen einbauten bzw. verinnerlichten Widersprüche zu reflektieren.“
„Hier geht es um die Klarheit der eigenen Haltung, der Weltsicht und des Menschenbildes.“ –
Volle Zustimmung zu beidem.
Etwas schwieriger ist es bez. der Hoffnung, dass „der ‚innere Unfriede‘ produktive Kräfte freisetzen“ könnte. Wenn sich das nicht als bloßes Wunschdenken erweisen soll, wären da wohl historische oder zumindest in sich schlüssige Belege erforderlich, die ich nirgendwo erkennen kann.
Die Geschichte spricht da eine ganz andere Sprache. Etwa, was den „inneren Unfrieden“ vor Ausbruch des 1. Weltkriegs betrifft, aus der vagen Hoffnung heraus, dass etwas ganz Neues entstehen könne, wenn diese „bürgerliche Gesellschaft“ erstmal zerschlagen ist. Und die Illusionen setzten sich auch unter Intellektuellen, so kapitalismuskritischen Expressionisten fort, die dann in nicht unerheblichem Maße zu den Nazis strömten. Dafür, welche Faszination Nationalismus und Kriegsbegeisterung auch auf Intellektuelle ausübten, kann selbst ein Thomas Mann herangezogen werden (Essay „Gedanken im Kriege“). Und gerade die radikale Zerstörung durch Nazis und 2. Weltkrieg ermöglichte es dem Kapitalismus, sich wie ein Phönix aus den Trümmern neu zu erheben.
Man kommt wohl nicht umhin, sich näher mit dem „Phänomen Trump“ zu beschäftigen. Nicht weil ein pathologischer Egomane mit vorpubertären Trotzreaktionen eines 4-Jährigen von besonderem Interesse wäre. Wohl aber wegen des Massenphänomens, dass eben dem, der mit noch größerem Recht als eine Hillary Clinton als Inkarnation des „Systems“ zu bezeichnen wäre, die Weihen eines über den Dingen schwebenden Heilsbringers erteilt werden. Was nach einer sozialpsychologischen Erklärung schreit (etwa im Sinne eines Wilhelm Reich „Massenpsychologie des Faschismus“). Und ich fürchte, dass da auch eine „kritische Theorie“, die ja dem Intellekt eine nicht ganz unbedeutende Rolle zuweist – so wichtig sie in der Theorie ist -, in der Praxis nicht viel weiterhilft.
Etwas einfacher ausgedrückt, unter Rückgriff auf die Marxsche These „Eine Idee wird zur revolutionären Gewalt, wenn sie die Massen ergreift“: Hier ist von „Idee“ die Rede. Wir aber müssen zusehen, wie im Gegenteil archaisch-dumpfes Bauchgefühl die Massen ergreift. – Wo wäre da der Umwandlungsprozess in „Ideen“ und „revolutionäre Gewalt“ zu erkennen? Und wo wäre das „revolutionäre Subjekt“ zu orten?
Und lassen wir uns einmal auf ein Gedankenexperiment ein: Le Pen als französische Präsidentin, Kanzlerin Petry mit Höcke als Kulturminister und v.Storch als Grenzschutzbeauftragte – sowie eine „erfolgreich“ zerschlagene EU. – Was wäre damit im Sinne grundlegender Veränderung kapitalistischer Strukturen gewonnen? Turbokapitalisten stünden unverzüglich zumindest die riesigen russischen und chinesischen Absatzmärkte offen, verbunden mit dem Vorteil, auf keinerlei menschenrechtliche Erwägungen mehr Rücksicht nehmen zu müssen. (Ein Putin weiß wohl, warum er Trump, Le Pen und andere Chauvinisten hofiert.) „Gewonnen“ wäre, dass Europa an den Rand der Weltgeschichte rückte und wohl auch, dass Intellektuelle wie Sie oder ich als erste dran zu glauben hätten.
Bei „Markus Lanz“ hat neulich eine Sprachwissenschaftlerin recht eindrucksvoll sprachliche Strategien eines Donald Trump analysiert. Die bauen – permanent untermauert durch Beschwörungsformeln wie „believe me!“ – auf systematischem Evozieren im Unterbewussten verankerter Ekelgefühle auf (so wie seine eigenen gegen Spinnen), die dann beliebig übertragbar sind auf Hillary Clinton, „Krankheiten einschleppenden“ Mexikanern oder von „Terrorismus“ infizierten Moslems. – Wem fallen da nicht scheinbar überlebte Vergleiche von Juden mit Ungeziefern ein?
Gegenüber solche Strategien eines Demagogen, angeblich von „einem von uns“, ist kritisches Denken hilflos. Nicht nur, weil Es-geleitete Bauchmenschen prinzipiell jegliche rationale Einsicht, die dem zuwider läuft, verdrängen müssen. Auch, weil rationale Einsicht wie humanitäre Werte es verbieten, ebenso skrupellos im Trüben des Unbewussten und archaischer Instinkte zu fischen.
Was also tun?
Mir scheint, dass es vor allem einer tieferen Analyse der immer wieder beschworenen „Ängste“ bedarf, ausgelöst durch rasante Veränderungen der Globalisierung und deren fühlbaren Folgen. M.E. sind vor allem drei Punkte zu benennen:
1) ein – zu irrationalem Handen führendes – Gefühl der „Heimatlosigkeit“ (das in Aggressionen gegen Fremde seinen Ausdruck findet, die eben daran erinnern), damit verbunden
(2) ein gewaltiges Bedürfnis an Sinnstiftung, das rational geprägten „kritischen Theorien“ feindlich gegenüber steht – konkret auch an „Lebenshilfe“, das abzudecken „Religionssifter“ und Scharlatane jeglicher Art bereit stehen, sowie
(3) eine erhöhte Gewaltbereitschaft, sofern dieses Bedürfnis nicht abgedeckt wird – bis hin zur Bereitschaft, aus angelernter und immer neu genährter „Wut“ alles kaputt zu schlagen, die eigenen Lebensgrundlagen eingeschlossen.
Als einer, der von frühester Kindheit an damit konfrontiert war, was „Heimatlosigkeit“ bedeutet, habe ich auch erfahren, dass man lernen kann, damit zu leben. Dass es möglich ist, darauf aufbauend (und auch unabhängig von religiösen Werthaltungen) Formen der „Sinnstiftung“ zu finden. Vorausgesetzt, man stellt sich dem Wagnis der Offenheit für Veränderung und Selbstveränderung. „Sinnstiftung“, die natürlich rational geprägt sein muss, aber auch fähig ist, emotional bestimmte Bereiche des Unbewussten zu erreichen. Und die sich insofern von rein rational bestimmten kritischen Theorien unterscheidet.
Die „Flüchtlingskrise“ stellt in dieser Hinsicht auch eine Chance dar. Insofern, als sie uns zwingt, uns dem „Wagnis“ der Begnung mit Fremdem zu stellen. Dabei auch – über den rein menschlichen Aspekt hinaus – die relative Bedeutungslosigkeit von Religion und Ideologien erfahrbar macht. Sowie „Sinnstiftung“ derart, dass sich Gefühle der „Heimatlosigkeit“, das Ausgeschlossenseins erübrigen – und damit auch das Bedürfnis, möglichst alles kaputt zu schlagen.
Positive Lebensmodelle unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung anzubieten und auch selbst vorzuleben erscheint mir auch unter dem Aspekt der Kapitalismuskritik hilfreicher als Spekulationen über mögliche „produktive Kräfte“, welche erst eine Zerschlagung eines ganzen Systems – und damit einhergehend eine humanitäre Katastrophe – zur Voraussetzung hätten.
Freilich erübrigt dies nicht eine umfassende Analyse notwendiger struktureller Veränderungen in globalem Maßstab, insbesondere in Bezug auf Erhaltung ökologischer Lebensgrundlagen überhaupt, ökonomischer und sozialer Beziehungen zwischen „entwickelten“ und „unterentwickelten“ Ländern in Anbetracht einer weltumspannenden Informationsgesellschaft, sowie der Eröffnung von Lebenschancen für alle unter den Bedingungen gegenwärtiger demographischer Entwicklungen.
Immerhin kann eine solche Strategie, die auf vorprogrammierte Katastrophen verzichtet, darauf bauen, dass selbst der eingefleischteste und bornierteste Kapitalist – anders als IS und wohl auch ein nennenswerter Teil von Trump-Fans – nicht bereit ist, das Risiko der totalen Zerstörung und Selbstzerstörung einzugehen.
Guten Tag, Herr Engelmann. Das Thema verdichtet sich. Ich muss nachdenken und melde mich am Montag wieder. U.a. ist Ihr Aspekt der Konfrontation mit der „Heimatlosigkeit“ ein auch für mich nicht unwesentlicher. Und natürlich die Sache mit der „Freisetzung von produktiven Kräften“.
Hallo, Herr Malyssek,
danke für Ihr Interesse. Ich freue mich auf Ihre Antwort.
Bez. des Problems „Freisetzung von produktiven Kräften“:
Zur Vermeidung von Missverständnissen eine Klarstellung, da – in der Verkürzung – meine Ausführungen vom 2.November, letzter Absatz („Immerhin geben historische Erfahrungen hier auch Anlass zur Hoffnung.“) im Widerspruch zu meinen letzten Äußerungen dazu zu stehen scheinen.
Zunächst bin ich da ja auch hin- und hergerissen zwischen Wunschvorstellung und kritischer Analyse, die dafür rationale Belege verlangt. Doch zum Kontext:
Die (eher optimistischen) Ausführungen vom 2. Nov. beziehen sich auf die Herausbildung der „produktiven Kräfte“ im Frühkapitalimus und dessen Überwindung feudaler Verhältnisse, die (pessimistischeren) Äußerungen vom 4.Nov. auf das Stadium des Übergangs zum Imperialismus Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert.
Die Frage ist
(1) ob bzw. in welchem Maß das gegenwärtige Stadium (sagen wir mal „Turbokapitalismus“) mit einem der früheren Stadien vergleichbar ist,
(2) ob und welchem Maße Kapitalisten lernfähig sind, derart, dass sich Ansätze für systemüberwindende Reformen ergeben könnten.
Diese Fragen sind m.E. nur zu beantworten, wenn man „Kapitalismus“ nicht als geschlossenes „System“ auffasst, das auf einen Nenner zu bringen wäre, sondern in seinen historischen Veränderungen und in seinen immanenten Widersprüchen zu begreifen sucht.
Zu (1)
Die Widersprüche lassen sich am Frühkapitalismus deutlicher aufzeigen. Er brachte Befreiung und Kechtung, Aufklärung und soziale wie geistige Privation zugleich: das eine für das Bürgertum, das andere für das sich herausbildende Proletariat. Wobei auch das letztere keine Konstante blieb, sondern die fortschreitende Industrialisierung auch Voraussetzungen für Emanzipation (und letzlich auch Verbürgerlichung) des Proletariats schuf.
Zu (2)
Lernfähigkeit des Kapitalismus lässt sich sowohl am Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ aufzeigen (der Erkenntnis, dass Absatz von Waren auch der Kaufkraft bedarf) als auch daran, dass sich bei der Finanzkrise 2009 eben nicht der „schwarze Freitag“ von 1929 wiederholte. Auch Kapitalisten lesen ihren Marx und können daraus Lehren ziehen.
Die Variante „Faschismus“ („Harzburger Front“) scheint eben dann eingeschlagen zu werden, wenn diese Lernfähigkeit fehlt und/oder wenn historische Entwicklungen das Kapital so in die Enge treiben, dass es keinen anderen Ausweg mehr sieht.
Hier nun kommt das „Phänomen Trump“ ins Spiel: Nach allem, was wir beobachten können, tendiert dies in die Richtung des Letzteren, mit unabsehbaren Folgen. Angenommen, ein Präsident Trump möchte der „Wall Street“ das Fürchten lehren. Glauben er und seine Fans allen Ernstes, die hätte keine Mittel der Gegenwehr? Deswegen halte ich die auch in unseren Foren massiv geäußerten Trump-Hoffnungen nicht nur für unglaublich naiv, sondern angesichts der Unwägbarkeiten für verantwortungslos. Aus der Freisetzung von blanker Zerstörungswut kann niemals die „Freisetzung von produktiven Kräften“ erfolgen.
Als Alternative bleibt, die inneren Widersprüche deutlich zu machen, Lernfähigkeit zu stimulieren, indem man Eigeninteresse an einer Öffnung und an Strukturreformen kenntlich macht. Dass dies nicht aussichtslos ist, zeigt die zumindest partielle Unterstützung des Merkel-Kurses in der Flüchtlingsfrage durch die deutsche Industrie.
Und was Globalisierung betrifft: Die schafft nicht nur Ängste, sondern auch Zwänge, die – aus purem Selbsterhaltungstrieb – zur Einsicht zwingen können. Z.B. dass sich neue Märkte, etwa in Afrika, nur erschließen, wenn auch für die entsprechende Infrastruktur und die Kaufkraft gesorgt wird. Und dass dies auch langfristig die einzige Möglichkeit sein dürfte, sich verzweifelte Flüchtlingsströme „vom Leibe zu halten“.
Die Frage ist nur, wie der Einsicht in Notwendigkeiten zum Durchbruch verhelfen ist.
Ich wünsche noch einen schönen Sonntag Abend!
Lieber Herr Engelmann, ich gestehe gleich zu Anfang,dass aufgrund unserer erreichten Komplexität der Diskussion, ich merke, dass wir uns jetzt auch in Bereichen zwischen Gewissheiten, festen Standpunkten, aber auch denen des Ungefähren, Ungewissen, Ambivalenzen bewegen. Da möchte ich auch nicht behaupten, im Besitze des Goldenen Schlüssels zur Erkenntnis zu sein. Für alles „diese schlüssigen Belege“ vorzulegen.
Wenn es sich auch mit dem gewissen Mangel leben lässt, dann machen wir erst einmal weiter, in dem ich das von Ihnen weiter oben Gesagte aufgreife: die Entdeckung der eigenen Widersprüche („Freisetzung der produktiven Kräfte“, auch aus dem „inneren Unfrieden heraus). Davon kann sich keiner freisprechen. Aber ich habe Ihre Erläuterung auch verstanden („produktiven Kräfte“ im Frühkapitalismus). Der andere Punkt, der ja auch zum Widerspruch anregt, dieses Hin- und Hergerissensein zwischen Wunschvorstellung und kritischer Analyse, das ist ebenfalls ein innerer Balanceakt. Das kenne ich. Aber das zu sehen, ist schon sehr hilfreich. Es geht auch um eine Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.
Nun gut, da steht jetzt die Frage im Raum: Was also tun? Weitermachen mit den Kräften und Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Und wenn Sie das Beispiel oder das „Phänomen Trump“ anführen, beschreiben, dann gilt es wohl, sich nicht von der Dummheit der anderen und der eigenen Ohnmacht besoffen machen zu lassen (sinngemäß nach Adorno), was A. selber als eine sehr schwierige Aufgabe ansah. Aber, das ist ein Ansatz. Gerade weil diese Machtmenschen die Massen der Enttäuschten und nach einfachen Lösungen Suchenden anziehen. Deshalb habe ich auch gesagt, dass die Intellektuellen (ich meine jetzt nicht mich selber, just an ordinary man) so wichtig sind, die Wachsamkeit und die Nachdenklichkeit mit ihren Möglichkeiten eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, zum Mainstream oder zum aktuellen Rechtsruck bzw. zum fortschreienden Schüren von Hass und Gewalt, usw.
Wie weit die Wiederkehr der alten unerledigten Aufgaben, der verdrängten Ängste, Traumata, die unausgelöschten traditionellen Denkweisen, Geisteshaltungen, Feindbilder usw. real geworden ist, sehen wir ja beim Blick auf den Zustand der Welt, der Gesellschaft, der Individuen. So war ja auch der Ausgangspunkt mit dem Beitrag von Stephan Hebel „Der geformte Mensch – Wie das kapitalistische Wirtschaftssystem uns prägt“. Die Formen der Selbstzerstörung in dieser von Macht, Gier, Hyperkonsum und neu aufkommenden Untertanengeist in der Gesellschaft(Es gibt freilich auch die anderen, die Klügeren, mit Haltungen und Werten, die auch diese Zeiten überdauern werden). So zähle ich noch mal die Stichworte auf, die der Diskussion den roten Faden geben. Das kritische Denken reicht natürlich alleine nicht aus, aber es ist ein starkes Fundament der weiteren Auseinandersetzung, auch z.B. bei Ihrer Frage nach der Erhaltung der ökologischen Lebensgrundlagen , ökonomischer und sozialer Beziehungen.
Ich meine: Freiheit – Fortschritt(svorstellungen) – Fehlende Lernfähigkeit – Festung Europa – Aufklärung – Hoffnung – Dialektik. Und auf den Aspekt der „Heimatlosigkeit“ möchte ich noch eingehen.
Bei dieser Etappe lege ich eine Atempause ein und melde mich morgen im Laufe des Tages wieder. Ihnen noch einen guten Abend!
Und nun, lieber Herr Malyssek?
So zynisch war meine Bemerkung nicht gemeint, man komme nicht umhin, sich näher mit dem „Phänomen Trump“ zu beschäftigen. Und so groß ist mein Anti-Amerikanismus auch wieder nicht, um ihnen das herbeizuwünschen. Ich möchte freilich kein Amerikaner sein. Und schon gar nicht zu denen gehören, die jetzt jubeln. Denn eine Lichtgestalt beschwören, die auf dem Wasser wandeln könne, und den Beweis für diese Fähigkeit antreten zu müssen, sind offensichtlich völlig verschiedene Dinge.
Nun sind also die dran, die meinen, dass nicht nur „innerer Unfriede produktive Kräfte freisetzen“ könne, sondern auch Hass und Verhöhnung von allem, was Zivilisiertheit ausmacht. Ob es unter diesen Umständen noch Sinn macht, über „Heimatlosigkeit“ weiter zu diskutieren? Ich meinte damit nämlich eben jene, die jetzt meinen, zu frenetischem Jubel Anlass zu haben. Durchaus mit der Absicht, deren Beweggründe irgendwie nachzuvollziehen. Verstehen kann ich sie nicht, und billigen schon gar nicht. Denn wenn Hass und Wirklichkeitsverlust sich mit Triumph verbindet, wo bleibt da noch Platz für Gemeinsinn, ehrlichen und rationalen Dialog?
Vielleicht doch noch ein paar Worte zu Ihren Anregungen:
Mir gefällt der Ausspruch „sich nicht von der eigenen Ohnmacht besoffen machen lassen“. Der ist jetzt wohl eher auf den Rausch des eigenen Triumphs zu beziehen. Desgleichen das, was ich über „Lernfähigkeit“ des Kapitalismus ausführte. Die haben jetzt die zu beweisen, die sich in bloßer Wut auf diesen und das „Establishment“ ergehen.
Und noch etwas zu Intellektuellen und ihrer Aufgabe, „die Wachsamkeit und die Nachdenklichkeit mit ihren Möglichkeiten eine Gegenöffentlichkeit herzustellen“: Könnte ja sein, dass die 75% von „wenig Gebildeten“, die der künftige amerikanische Präsident nach eigenen Aussagen so sehr mag, deren „Nachdenklichkeit“ schneller benötigt, als ihm lieb sein dürfte. (http://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-amerika/trump-polarisiert-bei-us-wahl-doch-er-ist-nicht-der-erste-14515458.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2)
Ich jedenfalls habe nicht vor, meine Zugehörigkeit zu der Spezies, die nun zumindest in den USA zu der bestgehassten gehört, künftig zu verleugnen.
Ich wünsche Ihnen – trotz allem – noch einen schönen Tag.
Ja, lieber Herr Engelmann, da haben Sie nicht ganz falsch gelegen. Wobei ich das „Phänomen Trump“ gar nicht vernachlässigen oder klein schreiben wollte, sondern zunächst diese Ikone bei Amerika und seinem Prozess bis zur Entscheidung lassen wollte. Nun aber ist Trump mitten unter uns. Da wird was überschwappen über den Großen Teich nach Europa. Die hiesigen Rechtspopulisten müssen jetzt weiter gestärkt fühlen. Hier ist wohl der Moment gekommen, wo man „sich nicht von der eigenen Ohnmacht besoffen machen lassen sollte“. Das hat Ihnen ja auch gefallen. Es ist jedenfalls sinnvoll, nicht gleich in Panik auszubrechen. Das Wahlergebnis hat mich nicht ganz aus der Bahn geworfen. Irgendwie lag auch sowas in Luft. Aber überrascht bin zunächst auch gewesen. Jetzt doch erstmal sacken lassen.
Ich gebe Ihnen recht mit der Aussage, dass die Verbindung von Hass und Frust mit Triumph eine ungünstige Verbindung ist, um Gemeinsinn zu entwickeln oder einen vernunftsgeleiteten Dialog. Trotzdem würde ich zu einem anderen Zeitpunkt auf das Gefühl von „Heimatlosigkeit“ und die anderen möglichen Auswirkungen auf die Entwicklungen von Welt- und Menschenbildern der Individuen.
Derweil tröste ich mich etwas mit den Gedanken, die uns Albert Camus zu den „Fragen der Zeit“ uns zurück gelassen hat. Zu finden unter dem Kapitel „Brot und Freiheit“, S. 75 ff. – „Die Gesellschaft des Kapitals und der Ausbeutung wurde meines Wissens nie beauftragt, für Freiheit und Gerechtigkeit zu sorgen.“ Oder: „Wortkräftige Intellektuelle verkündeten dem Arbeiter, sein einziges Problem sei das Brot und nicht die Freiheit, als wüßte der Arbeiter nicht, daß sein Brot auch von der Freiheit abhängt“ – „Ein einziges Gut wird unablässig vergewaltigt und prostituiert: die Freiheit; und dann wird man gewahr, daß zugleich mit ihr überall auch die Gerechtigkeit in den Kot getreten wird.“ Und dann stellt er die Frage: „Wie soll man diesen Höllenkreis durchbrechen?“
Da mein PC wieder dabei ist schlapp zu machen, was bestimmt mit dem Ausgang der US-Wahlen zusammenhängt, schließe ich für heute ab, und melde mich dann wieder.
Einen guten Abend noch!
Lieber Herr Engelmann, ich bin Ihnen zum hiesigen Thema noch einige Rückmeldungen schuldig, aber das geht im Moment nicht gut, weil mein Laptop wohl dabei ist, seinen Geist aufzugeben. Möglicherweise war die Erschütterung des US-Wahlausgangs doch zu groß. Silicon Valley ist jetzt auch erschüttert. Dessen schöne neue Welt scheint durch Trump & die Folgen in Gefahr. Vielleicht knüpfen wir wieder die Fäden, wenn sich der erste Sturm aus Great(er) America etwas beruhigt hat. Nochmals: Einen guten Abend!