Nun hat sich der Pulverqualm verzogen, und zurück bleibt weitgehende Ernüchterung. Europawahl 2009: Die deutschen Sozialdemokraten unterbieten ihr bisher schlechtestes Ergebnis von 2004; die Agenda 2010 wirkt anscheinend nach. Die CDU/CSU kann zwar einen ordentlichen Beitrag zur EVP-Fraktion nach Straßburg schicken, verliert aber ebenfalls, und zwar kräftig. Die CSU ist wieder da. Freuen können sich die Grünen und die FDP, auch wenn die kleinen Parteien bei Europawahlen schon immer eher besser abschnitten als bei Bundestagswahlen; doch wenn man sich die Ergebnisse der Kommunalwahlen ansieht, die in mehreren deutschen Bundesländern gleichzeitig mit der Europawahl abgehalten wurden, dann sieht mancher Beobachter die Grünen bereits als urbane Volkspartei. Und die Linken? Ergehen sich in Flügelkämpfen und konnten bei der Europawahl nicht großartig überzeugen. Die größte Ernüchterung zeitigt aber die Wahlbeteiligung: 57 Prozent aller Wahlberechtigten blieben zu Hause. Europa ist den Wählern anscheinend zu kompliziert.
Das setzt bei manchen Politikern nun doch kreative Energie frei. So sprachen sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäule und Elmar Brok, Europa-Abgeordneter der CDU, für eine Direktwahl des Präsidenten der EU-Kommission aus. Und der SPD-Bundestagsabgeordnete Jörn Thießen ruft gar nach der Wahlpflicht: Wer nicht wählen gehe, solle 50 Euro Strafe berappen. In einem Online-Voting sprachen sich gut 83 Prozent der 623 Teilnehmer dagegen aus: Es heiße Wahlrecht, nicht Wahlpflicht. Aber die Direktwahl des Kommissionspräsidenten könnte durchaus für größeres Interesse an Europawahlen sorgen.
Der Ausgang der Wahl wurde natürlich auch von vielen FR-Lesern kommentiert. So mein Albert Alten aus Wernigerode:
„Die Wahl zum Europaparlament ist bei der geringen Wahlbeteiligung schon längst eine Farce. Die Mehrheit der Europäer ist schlichtweg desinteressiert an den Institutionen in Brüssel und Straßburg. Immer mehr Euro-Bürokratie, immer mehr Regeln und seit der ersten Europawahl 1979 keine demokratisch legitimierte Europa-Regierung. Auch in den Parteien genießt das Europaparlament schon lange nicht mehr das Ansehen. Ein bekannter Slogan in den Parteien lautet seit Jahren, wenn es darum geht, Kandidaten für das Europaparlament zu küren: „Hast Du einen Opa, schick ihn nach Europa.“
Keine Überraschung also, wenn die Bürger der Europäischen Union den Rücken kehren und die „Partei der Nichtwähler“ alle fünf Jahre größer wird. Die Europäische Union hat weiter an Akzeptanz und Glaubwürdigkeit verloren.“
Markus Dederichs aus Kranenburg:
„Wenn Sie (57 Prozent) nicht gewählt haben, bin ich von Ihnen enttäuscht. Wie charakterlos. Vorgestern haben ich Sie noch meckern gehört: Alles wird teurer; Lebensmittel haben beim Transport ganz Europa gesehen und ich nicht; Feinstaubplakette, was soll das? Und, und, und …. Wer nicht handelt, sollte nicht meckern, man hat ja auch nichts getan. Wissen sie eigentlich, dass 70 Prozent der Gesetze aus Brüssel gesteuert werden? Ach, Sie waren aus Protest nicht wählen. Das weiß aber keiner! In Brüssel denkt man, Sie hatten nur keine Lust.
Am letzten Sonntag waren auch Wahlen im Libanon. Dort haben sich die Wähler beinahe geprügelt, um zur Wahlurne zu kommen, weil es ihnen zu lange dauerte. Sie wollten für sich was erreichen. Und Sie saßen auf dem weichen Sofa und haben sich über das Fernsehprogramm aufgeregt. Toll, ganz toll. Armes sattes Deutschland.
Wenn Sie zur Urne gegangen wären, hätten Sie mindestens den Stimmzettel durchgestrichen. Dann hätten Sie Ihre Unzufriedenheit durch die Mühe Ihres Urnenganges ausgedrückt und nebenbei noch ein bisschen frische Luft bekommen.“
Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:
„Ulrich Beck, der auch in anderen europäischen Zeitungen viel publiziert, spricht sich in seinem FR-Beitrag vehement für eine Überwindung der nicht zuletzt auch ‚institutionell verschuldeten Unmündigkeit‘ in Sachen eines eben noch nicht bestehenden europäischen Patriotismus aus. Diese berechtigte Forderung zu erheben, bedeutet leider noch nicht, auch konkrete Wege aufzuzeigen, wie der europäische Citoyen sich besser zur Geltung bringen kann. Beck hat natürlich Recht, dass die nationalstaatlichen Belange unverändert gegenüber der EU-Solidargemeinschaft überwiegen. Aber das de Gaullesche Dictum des Europas der Vaterländer wirkt unverändert eben in den Gehirnen weiter. So hat auch Becks noch berühmterer Kollege Jürgen Habermas in seinem kürzlich erschienenen Büchlein ‚Ach Europa‘ die Problematik unter die Lupe genommen, dass es mit der „Finalität“ Europas nicht so eigentlich vorangeht.
Es müsste sich in allen 27 Mitgliedsländern eine umfassende Initiative von Befürwortern für mehr europäische Integration bilden. Ob eine solche Initiative aber etwa in Ländern wie Großbritannien Erfolg hätte, muss leider bezweifelt werden. Auch das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten wäre keine Lösung, weil es zur Ausgrenzung einzelner EU-Mitglieder führen würde. Somit bleibt wohl nur das „Weiterwursteln“ wie bisher und die Hoffnung, dass der Lissabon-Vertrag doch noch unter Dach und Fach gebracht werden kann.“
Tobias Fleige aus Göttingen:
„Nein, weder die Politik noch die Medien scheinen es zu begreifen. Gerade weil die Bürger wissen, dass immer mehr Gesetze aus Brüssel kommen, weil sie merken, dass die sog. europäische Integration die Demokratie der Nationalstaaten untergräbt, ja zerstört, indem die Parlamente in die Bedeutungslosigkeit getrieben werden, deshalb wollen immer mehr Bürger dieses Europa, diesen Brüsseler Zentralstaat nicht mehr.“
Kirsten Look aus Hamburg
„Die Entwicklungen in den Niederlanden beunruhigen mich sehr. Ich kann verstehen, dass bestimmte Ereignisse sehr schockierend sind. Aber unsere liberalen und aufgeschlossenen Nachbarn waren uns immer in vielen Dingen voraus. Gleiches gilt für die Dänen. Ich hoffe inständig, dass die beiden dieses Mal keine Trendsetter sind und die zukünftigen politischen Entwicklungen im Rest von Europa nicht nach rechts zeigen werden. Obwohl die Krise diesbezüglich nichts Gutes verheißt. Viele Europäer kennen erst mal nur sich, wenn es um die wirtschaftliche Absicherung geht, und der Blick fürs große Ganze geht verloren. Dabei profitiert niemand so sehr von der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wie wir. Abstrus, aber gleichzeitig sehr beängstigend, wenn das Offensichtliche so aus dem Blick gerät.“
Bernd Hausmann aus Hofheim a.Ts.:
„‚Ratlosigkeit bei den Spitzen-Sozis‘ vermeldet die FR angesichts der 20,8 Prozent, welche die SPD bei der Europawahl einfuhr. Allerdings ist dieses Ergebnis erstaunlich für eine Partei, deren Führung konsequent gegen die politischen Meinungen und Interessen der Mehrzahl ihrer Wähler und Mitglieder handelt: Es finden sich trotz alledem noch Menschen, die für diese Partei Wahlkampf machen, und sogar Wähler, die ihr ihre Stimme geben. Von Agenda 2010 bis Afghanistan, von Hartz IV bis Praxisgebühr, Riester-Rente, Rente mit 67, Mehrwertsteuer, Bahnprivatisierung und und und bis zu Steuergeldern für Börsenzocker und ‚Schuldenbremse‘: Die SPD hat kaum etwas versäumt, ihre Anhängerschaft zu verprellen. Sie wurde und wird von Schröder, Münte und den Stones konsequent entsozialdemokratisiert. Und dann wundern sich die ‚Spitzen-Sozis‘ über die Quittung der Wähler?“
Rasmus Ph. Helt aus Hamburg:
„Peer Steinbrück hat Recht mit seiner Position. Das Personal der SPD muss sich nicht vor anderen verstecken. Das Problem ist vielmehr, dass die Partei einen schlechten Wahlkampf gemacht hat. Denn durch die Verwendung von Comic-Figuren fehlte der Kampagne die notwendige Ernsthaftigkeit, um die Bürger davon zu überzeugen, dass die Sozialdemokraten wirklich etwas ändern wollen. Stattdessen entstand das Bild, ebenso heiße Luft zu versprühen, wie man dies der Konkurrenz vorwarf!“
Silke Rahlmeyer aus Köln:
„Es ist hochinteressant zu verfolgen, wie die jüngsten Wahlergebnisse diskutiert werden. Ganz besonders auffällig finde ich dabei den ‚Gender‘-Aspekt, der meiner Meinung nach völlig unterbewertet wird. Im desaströsen Ergebnis für die SPD ist er aber sinnstiftend: Die SPD hat sowohl auf Europa- als auch auf Bundesebene von der Struktur her nur einen schwachen Männerverein auf die Beine gestellt. Der künstliche Hype um Steinmeier konnte nicht verschleiern, wie überholt Müntefering (der unglücklicherweise auch noch mit einer Liebesgeschichte in die Medien geraten musste) und Konsorten das Bild der SPD erscheinen lassen, deren kämpferischer Schneid – darüber kann man nun denken, was man will – von der Linken übernommen wurde. Auch die im wahrsten Sinne des Wortes ‚kopflosen‘ Plakate haben dies dokumentiert.
Demgegenüber steht Frau Merkel, die die CDU ganz wacker repräsentiert, und wem die Bundeskanzlerin im politischen Kontext zu weich geworden ist, der tendiert zu Frau Koch-Mehrin, die ihrerseits Faulheitsvorwürfe geschickt in Richtung Superweib umkehren konnte.
Die Frische anderer Parteien, hier vor allem durch die Präsenz von Frauen, kann die SPD nur zur Katharsis anregen – es wäre ein Segen wenn diese denn stattfände!“
Der Umgang mit Nichtwählern ist grundfalsch.
Wenn sie nicht wählen, sind sie zufrieden!
Man sollte also das Euro-Parlament einfach zu 57% so belassen, wie es ist und zu 43 % umgestalten wie gewählt.
Dann gäbe es auch einen munteren Wahlkampf beim nächsten Mal.
Jetzt merken die Sozialdemokraten hoffentlich, wie tief das Loch ist, in das sie Gerhard Schröder mit seiner vermaledeiten Agenda-Politik gestoßen hat. Die Wählerinnen und Wähler sind nach wie vor schwer enttäuscht und haben das Vertrauen in die SPD weitgehend verloren. Die Glaubwürdigkeit ist dahin, das kann keine noch so laut hinausposaunte Forderung nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns wettmachen.
Und zur Europawahlmüdigkeit:
Das EU-Parlament hat immer noch kein Initiativrecht. Das bedeutet, es kann nur über Gesetze abstimmen, die von der EU-Kommission vorgelegt werden. Eigene Gesetze vorschlagen darf das EU-Parlament nicht. „Ende 2008 legten Parlamentarier eine Liste mit 57 Punkten vor. So oft hatte das Hohe Haus die EU-Kommission gebeten, Gesetze auf den Weg zu bringen. In knapp 90 Prozent der Fälle hatte die Brüsseler Behörde nichts unternommen.“ [Quelle: Frankfurter Rundschau vom 03.06.2009] Von so einem Europa sind die Bürger verständlicherweise frustriert.
Das Problem ist, dass, genau wie in diesem Artikel gezeigt, sich bei einer Europawahl doch alle nur auf die nationale Perspektive fokussieren.
Das waren Europawahlen, und auch wenn man daran wunderbar nationale Fragen debattieren kann, wäre es doch angebracht, über die möglichen Auswirkungen für die Europäische Union zu reden.
Aber dazu müsste man mal über den eigenen Tellerrand schauen.
Das Problem ist, dass die Demokratie hierzulande durch Europa ausgehebelt wird, was man am Beispiel der Vorratsdatenspeicherung shene konnte. Die Wahlmüdigkeit hat meines Erachtens auch damit zu tuen, dass die Bürger sich nicht von einem undemokratischen, technokratischen Moloch regieren lassen möchten.