Der Wahlkampf hat begonnen. Das haben kürzlich auch die Konservativen endlich bemerkt, die zerstrittenen Schwestern CDU und CSU, und haben sich in einem geheuchelten Schulterschluss zusammengerauft. Die Nominierung von Martin Schulz als SPD-Spitzenkandidat für die Bundestagswahl am 24.9. war eine Art Weckruf, der verspätet dann irgendwie doch noch bis an die Ohren von Merkel und Seehofer gedrungen ist. Denn es ist etwas geschehen, was nicht sein darf: SPD und CDU/CSU liegen in den Umfragen gleichauf, ja, in einer Umfrage des Instituts Insa vom 13.2. hat die SPD die CDU/CSU sogar überholt, wenn auch nur um ein Prozent. Laut dieser Umfrage hätte RotRot-Grün eine Mehrheit (48 Prozent), alle anderen Parteien zusammen, also inklusive AfD, kommen auf 47 Prozent (Zahlen nach wahlrecht.de). In den anderen Umfragen sieht es ein wenig anders aus. Dennoch: Wer hätte das vor einem Monat für möglich gehalten?
In Deutschland scheint sich so etwas wie Wechselstimmung breit zu machen. Das ist gefährlich für Merkel, weil sie verbraucht ist. Sie geht zum vierten Mal in Folge als Spitzenkandidatin ins Rennen um die Kanzlerinschaft. Vier weitere bleierne Merkel-Jahre drohen, Jahre, in denen sie weiterhin Standpunkte beziehen würde, die sie dann hinterher weder ausbaut, erklärt noch sonst irgendwie formt, Jahre, in denen sie Konflikten ausweichen und sich vom Bayern-Seehofer am Nasenring durch die Manege führen lassen würde, Jahre, in denen man sich fragen würde, wofür sie eigentlich steht. Wer kann das wollen?
Viele Deutsche wollen es offenbar so wenig, dass sie der SPD in den Umfragen ein Zehn-Jahres-Hoch bescheren, obwohl weiterhin noch gar nicht richtig bekannt ist, wofür der Kandidat Schulz eigentlich steht. Für mehr soziale Gerechtigkeit, sagt er, und natürlich für Europa, denn er ist überzeugter Europäer. Die Botschaft dieses Hypes ist klar: Wir haben genug von Merkel, sagen diese Menschen. Die Zustimmung mag sich als flüchtig erweisen und hängt ganz klar davon ab, dass Schulz selbstverständlich Positionen liefern muss, gerade dann, wenn er sich als das Gegenteil von Merkel profilieren will, die ihre Positionen recht flexibel den Notwendigkeiten anpasst. Aber sie ist vorhanden, diese Zustimmung, diese Merkel-Müdigkeit, denn es sind die Konturen einer Alternative erkennbar. Merkel ist nicht alternativlos.
Doch im linken Teil vom linken Teil des Parteienspektrums ist diese Nachricht anscheinend noch nicht angekommen. Das ist auch hier im FR-Blog dokumentiert, wo der Schulz-Hype mit Verwunderung, ja mit Ablehnung kommentiert wird. Da werden dem Kandidaten listenweise vermeintliche, jedenfalls so wahrgenommene SPD-Verfehlungen der letzten 20 Jahren um die Ohren gehauen, ohne dass er zuvor gehört worden wäre. Es gibt offenbar in Teilen des linken Spektrums eine tiefsitzende Destruktivität, die auch selbstzerstörerisch ist, denn die Alternative zu Schulz heißt wie gesagt: Fortsetzung des Merkel-Jammertals. Womöglich in einer Koalition mit Grünen und FDP oder in einer neuen großen Koalition. Wer kann das wollen?
Die Kolumne von Brigitte Fehrle kommt ebenfalls auf diese Weise um die Ecke: „Vorsicht Stimmung„. Man möchte dankbar antworten: Jawohl, endlich mal so was wie Stimmung! Aber sie meint es anders, wenn sie schreibt:
„Und wenn jetzt schon begeisterungsbesoffen von einer Wechselstimmung im Land die Rede ist, dann wird es ganz und gar verrückt. Denn leider ist es ja so, dass wir in Deutschland derzeit so etwas wie eine Wechselstimmung erleben – aber die ist nicht auf der gesellschaftlichen Linken auszumachen, sondern entgegengesetzt, am rechten Rand.“
Es muss der Kollegin entgangen sein, dass die AfD in die Defensive geraten ist, seit Schulz als Kandidat präsentiert wurde. In den aktuellen Umfragen liegt sie zwischen 10 und 12 Prozent. Das ist natürlich immer noch viel zu viel, aber sie war schon mal bei 15 Prozent. Zudem zerrinnt ihr das einzige Thema, mit dem sie bisher punkten konnte, derzeit zwischen den Fingern: Es kommen kaum noch Flüchtlinge. Die Partei ist mit internen Fllügelkämpfen beschäftigt, es ist gehäuft von Spaltung die Rede, so etwa beim NRW-Parteitag, aber auch wegen der Causa Björn Höcke. Wechselstimmung am rechten Rand? Nein, Frau Fehrle. Viel eher sieht es so aus, als ob die AfD sich gerade selbst zerlegt.
Schulz ist das, was die AfD nicht brauchen kann: ein glaubwürdiger Politiker, dem die Menschen ihr Vertrauen zu schenken bereit sind. Merkel hingegen ist seit Fukushima nicht mehr glaubwürdig. Schulz steht in dem Ruf, auf die Leute zuzugehen und ihnen zuzuhören. Merkel hört nicht zu. Merkel ist einer der Gründe für Politikverdrossenheit und damit genau das, was die AfD groß gemacht hat. Natürlich wird der Kandidat Schulz im Falle, dass er gewählt wird, noch beweisen müssen, dass er das Vertrauen der Menschen verdient und dass er glaubwürdig ist. Diese Chance sollte man ihm geben. Man erinnere sich an die vierte Kanzlerschaft von Helmut Kohl, die bleierne Zeit am Ende der 90er. Es war schrecklich! Das soll nicht wieder passieren.
Leserbriefe
Joachim Reinhardt aus Hüttenberg
„Wer Frau Fehrles Urteil nicht teilt, hat nicht mal ein wenig nachgedacht – oder ist des Denkens nicht fähig, wenn er nach dem Denkversuch doch zu einer abweichenden Ansicht kommt?
Wenn Frau Fehrle in ihrer Kolumne „Vorsicht Stimung“ meint: „Diese sinnfreie Ja-wo-leben-wir-denn-Rhetorik, die ihre Reden durchzieht, ihre Anleihen am rechten Rand, stoßen ja Gott sei Dank alle ab, die ein wenig nachdenken“, dann höre ich ein Maß an Intoleranz gegenüber abweichenden Positionen heraus, das für mich die Grenze von Fairness überschreitet – wem gegenüber auch immer.
Ich wünsche mir von der FR, dass sie frei bleibt von (leider gängigen) Formen der Herabwürdigung. Sie zersetzen meiner Ansicht eine respektvolle Diskussionskultur, die es gerade in unseren Zeiten zu verteidigen gilt.“
Hannah Erben-Wunder aus Hamburg:
„Stimmung auf der Linken macht aber leider auch auch die Linkspartei mit Sahra Wagenknecht…….“ Liebe Frau Fehrle, Sie hören aber auch nicht unbedingt immer richtig zu bzw. lesen nicht nach, was wirklich gesagt wurde, oder? Sinnfreie Ja-wo-leben-wir-denn-Rhetorik?? Oh nein! Die Linke und auch Frau Wagenknecht legen die Finger in die vorhandenen Wunden und sind bisher noch die einzigen, die sich nicht dermaßen angebiedert und angepasst haben bei sogenannter Regierungsbeteiligung! Die Grünen verschwinden ja jeweils darin bis zur Unkenntlichkeit, siehe als jüngstes Beispiel Hamburg. Nicht einmal erwähnen möchten sie mehr ihre eigene Meinung! Und Kanzlerin sowie Seehofer als Garanten von Verlässlichkeit und Sicherheit? Da lachen ja die Hühner! Das glauben inzwischen zum Glück immer weniger Menschen. Ja – bei den kommenden Wahlen ist meine größte Sorge, dass eine hohe Prozentzahl von Menschen auf die Rattenfänger der AFD hereinfallen und die zweitgrößte, dass wieder allzu viele auf Weiter-So setzen – schon, weil sich die (tendenziell) linken Parteien lieber gegenseitig zerlegen als nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Und dabei gehen sie ja auch gerne im Diskurs so pauschalisierend überheblich vor wie es Frau Fehrle tut in ihrer Kolumne!“
Bernhard Zimmermann-Buhr aus Würselen:
„Ich stimme Frau Fehrle zu, dass die größte Gefahr für Martin Schulz und für die Genossen der SPD ist, dass sie nicht „ihre Chance ergreifen“, wie so oft in der Vergangenheit.
Mit sich selbst beschäftigt sein, von sich selbst „überzeugt und begeistert zu sein“ und sich selbst bemitleiden – haben wir alles schon gehabt und nutzt nur dem politischen Gegner.
Frau Fehrle ist auch unbedingt zuzustimmen, dass anders als 1998 eine Wechselstimmung bezogen auf die „ewige Kanzlerin Angela Merkel“ nicht gegeben ist. Die Stimmung neigt sich in Richtung der radikalen Rechten – wer dies vergisst, schadet letztlich sich selbst.
Froh bin ich über die klaren Worte in Ihrer Kolumne, Frau Fehrle. Es ist fatal, dass es immer noch Menschen in unserem Land gibt, die tatsächlich der Meinung sind, dass Sahra Wagenknecht für eine linke Politik steht. Ihre „sinnfreie Ja-wo-leben-wir-denn-Rhetorik“ mit „Anleihen am rechten Rand“ nützt diesem „rechten Rand“, steht aber nicht für eine linke Politik.
Martin Schulz und die SPD werden in der Tat nur dann erfolgreich sein, wenn es ihnen gelingt, sich nicht von anderen Parteien oder Gruppierungen Koalitionsaussagen aufzwingen zu lassen (auch eine „Partei der Besserwisser“ ist keine Partnerin für die SPD), sondern, wie man es als Bürger der Stadt Würselen von Martin Schulz kennt, sich weiterhin von einer „Empörungsrhetorik“ zu distanzieren und auf die Menschen zuzugehen, damit diese ihnen zuhören können und somit sich ernstgenommen fühlen. Das ist meines Erachtens der einzige Weg zu verhindern, dass die radikalen Rechten weiterhin erfolgreich „einen politischen Wechsel mit Stimmung“ propagieren können.“
Heinz Welsch aus Weitersburg:
„Zum Thema Gerechtigkeit und SPD-Wahlkampf möchte ich auf einen Vorschlag hinweisen, den der liberale (!) Wirtschaftswissenschaftler Carl Christian von Weizsäcker vor kurzem im SPIEGEL gemacht hat. Er schlägt eine kräftige Senkung der Mehrwertsteuer vor. Erstens werde damit die Konjunktur stabilisiert. Zweitens werde damit, wie viefach gefordert, der deutsche Leistungsbilanzüberschuss reduziert, indem die Nachfrage nach Importen (z.B. auch aus Südeuropa) angekurbelt wird; dies ohne damit die deutsche Exportwirtschaft zu schädigen. Drittens werden damit insbesondere einkommensschwache Haushalte entlastet, die von hohen Konsumsteuern besonders betroffen sind. Dies erscheint mir sowohl sachlich überzeugend als auch im Wahlkampf gut vermittelbar.“
Helmut Deckert aus Sinntal:
„Wenngleich durch die Wahl des neuen Bundespräsidenten der neue „Messias der SPD“, Martin Schulz, etwas in den Schatten geriet: Es bleibt dabei, dass selten einem Politiker seine markigen Worte so schnell auf die Füße gefallen sind: Martin Schulz will an die denken, „die nachts aufwachen und nicht wissen, wie es am Morgen weitergeht“. Lobenswert – auch wenn sich berechtigt die Frage stellt, ob das die tatsächliche Mehrheit in unserem wohlhabenden Lande mit seinem sozialen Netzwerk ist.
Viel schwerer wiegt aber die Unehrlichkeit von Schulz und seiner Partei: Mit der Kampagne für mehr Gerechtigkeit kann er ja gleich bei seiner Genossin Hohmann-Dennhardt anfangen. Ich gehe nicht davon aus, dass sie nachts wach wird, weil sie nicht weiß, wie es am Morgen weitergeht … Jedenfalls kann ich mir das bei einer Abfindung von 12 Millionen für ein knappes Jahr nicht vorstellen. So mancher, der wirklich nachts wach wird und nicht weiß, wie es am Morgen weitergeht, würde sich das wünschen; So aber wird er allenfalls die Faust in der Tasche ballen.
Fazit (frei nach Orwell): An der Kippe sind alle gleich – außer denen, die dran sind. Hört auf, uns zu veralbern! Sonst braucht Ihr Euch über die Wahlergebnisse nicht zu wundern.“
Man kann so tun, als sei nichts gewesen.
Martin Schulz schaut und hört hin. Oder seine Spin-Doktoren sagen ihm, dass man mit Hinsehen – und hören aktuell Stimmung macht. Und sie haben ja Recht. Die SPD sammelt Punkte. Aber wirft da nicht einer nur einen Stein in den Teich, der jetzt Wellen schlägt, der das Wasser im Teich bewegt, aber nicht verändert? Weit über ein Jahrzehnt ist die SPD in unterschiedlichen Regierungen in der Verantwortung. Sie verantwortet also das Gestern, das Hier und Jetzt und die bleiernen Merkel-Jahre mit. Da muss man kein Linker vom linken Rand sein, um das zu wissen.
Man kann natürlich so tun, als sei nichts gewesen. Auf das Vergessen setzen. Oder abwiegeln: Alles hatte seine Zeit! So oder so ähnlich wehren sich die SPD-Granden ja jetzt, wenn man sie nach unangenehmen Themen aus den langen Regierungsjahren fragt.
Doch das ist die Hypothek, die es mir schwer macht, dem Neuen jetzt einen Vertrauensvorschuss zuzubilligen. Worauf? Ich warte auf Konkretes, warte darauf, dass programmatische Fakten auf den Tisch kommen. Denn die zählen – zumindest bei meiner Entscheidung – mehr als die Person. Und bis dahin misstrauisch zu bleiben, ist nicht destruktiv, sondern realistisch.
@ Bertram Münzer
Zwischen 2009 und 2013 hatten wir eine schwarz-gelbe Bundesregierung, also eine ohne SPD-Beteiligung. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht — ich erinnere mich mit Schrecken.
@Bronski
Richtig. Aber das war auch die einzige Unterbrechung seit 1998.
Sicher sollte auch Martin Schulz seine Chance bekommen. Aber man kann die Vorgeschichte der SPD-Kandidaten nicht einfach mehr vom Tisch wischen, so lange sie nicht überzeugend und ernsthaft eine Revision ihrer sozialen Untaten angehen. „Auf die Menschen zugehen und ihnen zuhören“, das ist auch so eine Sprechblase. Das sagt jeder, sagen auch die AfDler. So bin ich ebenso äußerst skeptisch wie Bertram Münzer. Eigentlich sind die überdosierten Claqueure für Schulz aus den SPD-Reihen eher die Problemfälle als der Kandidat selbst. Ich würde ja keine Wunderdinge von ihm erwarten. Es ist eben diese merkwürdige Wendestimmung, die Frau Fehrle gut aufgreift, die einen stutzig machen muss.
Ich wähle seit vielen Jahren nur noch das kleinste Übel. Man sollte Martin Schulz die Chance geben zu beweisen das er das kleinste Übel ist.
Unsere Welt ist nun wirklich in einem einmalig schlechten Zustand: Die „Festung“ Europa ist umgeben von Risiken, die sachlich von Syrien-/Irak-/Nahostkrise, Flüchtlings- und Migrationsbewegungen, Klimawandel u.a. und Namen wie Trump, Erdogan, Putin, Netanjahu, Kim Yong Un, Orban, Kaczynski, Le Pen, Wilders, Höcke/Petry geprägt sind. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat sind bedroht, wie wir uns seit langem nicht mehr vorstellen konnten.
Aber da gibt es passionierte Leserbriefschreiber, die nichts Besseres zu tun haben, als wieder und wieder Gründe hervorzukramen, warum Steinmeier und Schulz als Politiker auf wichtigen Posten in Deutschland absolut ungeeignet sind. Die Besserwisser muss ich fragen: Ja wo lebt Ihr denn? Warum kühlt Ihr Euren Mut an zwei Männern, die bei allem, was man an ihnen zu Recht oder zu Unrecht kritisieren kann, zwei gestandene Politiker sind, die für eine kluge internationale Politik mit Augenmaß stehen (Steinmeier), für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten wollen (Schulz) und wie kaum andere für Zusammenhalt und auch so dringend notwendige Fortschritte in der EU sorgen werden?
In der gleichen FR steht dankenswerter Weise ein großer Bericht über den Prozess gegen den Journalisten Ahmet Sik in der Türkei, der verdeutlicht, welche Gefahren in Ländern, mit denen wir verbündet sind, bereits Alltag sind. Das sind die wirklichen Sorgen der Gegenwart! Angesichts dieser und anderer unerfreulicher Kulissen um uns herum halte ich es für sinnvoll, statt in der Vergangenheit einseitig herumzuwühlen (und da gibt es sicher auch Anlass für Kritik), erst mal zu warten, was ein (mit großer Mehrheit demokratisch gewählter!) Bundespräsident Steinmeier zu sagen hat und welches Wahlprogramm ein Kanzlerkandidat Schulz vorlegen wird. Dann ist es immer noch Zeit für Kritik im Detail. Aber dieses vorauseilende Schlechtreden von gerade in ihre neue Funktion startenden Politikern haben wir nun genug gehört, kümmern wir uns die wirklichen Gefahren der Gegenwart!
Mehr soziale Gerechtigkeit wagen!
„Doch auch nur eine Sprechblase!“ werden Bedenkenträger einwenden. Die sowieso nichts anderes mehr erwarten und konsequent jede Chance abblocken, die etwas anderes erweisen könnte.
Wer gleiches vom Motto dieses Threads behauptet und dabei zuerst an AfD denkt, der tut mir wirklich leid. Weil er einen fundamentalen Unterschied nicht begriffen hat: zwischen dem, der anderen zuhört, ihre Sorgen aufgreift, und dem, der solches nur behauptet, um sie als Resonanzboden für einpeitschende Sprüche zu missbrauchen.
Ein Willy Brandt hat mit einer ähnlichen „Sprechblase“ seine erste Regierungserklärung begonnen. Dabei eine Bewegung initiiert, die das Land verändert hat. Und zugleich Rechtsextremisten jeglicher Couleur ihren Resonanzboden genommen.
Weil er verstanden hat, dass Menschen einer Überzeugung, eines Ziels, einer Utopie bedürfen – auch wenn diese nicht in erhofftem Maß und schon gar nicht perfekt realisiert werden wird.
„Gerechtigkeit“ ist nicht nur historisch eine Kernforderung von Sozialdemokraten. Es ist auch eine der vier Kardinaltugenden seit römischer Zeit. Eine Grundvoraussetzung für friedliches Zusammenleben in einer Gemeinschaft und eine Forderung, in der Menschen unterschiedlichster weltanschaulicher Einstellungen sich wieder finden können – ausgenommen Demagogen vom Stile eines Trump, für die Egoismus, „Größe“ und Siegerwahn zur Religion geworden ist.
Ein Motto, das zukunftsorientiert ist, eine Grundorientierung für politisches Handeln vorgibt und zugleich eine klare Abgrenzung zu nationalistischen Scharlatanen vornimmt, die das Heil im gestern suchen.
Das Schulz-Phänomen ist das positive Gegenstück zum destruktiven Trump-Phänomen – könnte es zumindest werden. So denn auch die anderen Kardinaltugenden beachtet werden, die da sind: Klugheit, Tapferkeit, Mäßigung. Und wenn die zu erwartenden konkreten politischen Schritte sich daran orientieren.
Die Hälfte der über 6100 Neuzugänge der letzten 3 Wochen für die SPD sind Menschen unter 35 Jahren. Die auf Nachfrage Eintreten für soziale Gerechtigkeit und für europäische Grundwerte als Motiv angeben.
Das lässt hoffen!
Lieber Herr Engelmann,
bevor ich zu unserer Frage der „sozialen Gerechtigkeit“ zurückkomme, wollte ich noch sagen, dass die große Eintrittswelle bei der SPD von vor allem jungen Menschen, bestimmt mit der großen Sehnsucht nach einem freien Europa und dem Gefühl einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung, was wir zur Brandt-Ära auch erlebt haben. Die Sehnsucht mag trügerisch sein, wie Hoffnung überhaupt, aber Kandidat Schulz hat es halt irgendwie geschafft die schlummernden Geister wachzurufen. Was auch daran lag, dass Gabriel wirklich nicht mehr glaubwürdig war.
Schulz hat bestimmt einen größeren Instinkt und ein größeres Talent, die sozialen Gerechtigkeitslücken aufzuspüren als der Noch-Vorsitzende. Aber ob er es über die Betroffenheitsschiene alleine bewerkstelligen wird, grundsätzlich die soziale Ungerechtigkeit zu „bekämpfen“, da setze ich erst einmal ein Großes Fragezeichen? Die eigentliche soziale Aufgabe ist es, wieder zu einer Sozialgesetzgebung zurückzukehren (die wir schon hatten), die den Wechselfällen des Lebens arbeitender und arbeitsloser von Armut bedrohter Menschen „gerecht“ wird. Von einer Sozialreform wird nur dann wieder die Rede sein können, wenn die unzähligen sozialen Verwerfungen, die die Hartz-Gesetze und ihre Umsetzungspraxis (einschließlich der Organisation der jetzigen Sozial- und Arbeitsagenturen) mit sich gebracht haben in eine neue alte Sozial- und Arbeitsmarkt-Gesetzgebung gegossen wird. Alles andere würde Stückwerk bleiben und den Eindruck von damals angeblich nur handwerklich gemachter Fehler bei der Agenda 2010 bewahren. Ob da alle bei der SPD mitziehen werden, wage ich auch noch zu bezweifeln. Schließlich wäre das ein Affront gegen Altbundeskanzler Schröder und Konsorten, von denen nicht zu erwarten ist, dass sie ihre neoliberale Gesinnung jemals aufgeben werden.
Vielleicht sind es deshalb die jungen Menschen, die jetzt ambitioniert um SPD-Mitgliedschaft nachfragen, die inzwischen anders ticken (mal abgesehen von dem Thema Hoffung und Sehnsucht) und doch gemerkt haben, dass in Deutschland keine gerechte Gesellschaftsstruktur mehr vorhanden ist. Zumal die soziale Frage auch in den akademischen Bereich hinein reicht.
Was nun „soziale Gerechtigkeit“ ist – ohne das Lexikon Wikipedia -, will ich mal mit der Fragestellung, was nicht sozial gerecht ist, exemplarisch beantworten: Die „Tafeln“ im Lande!
Es ist für einen Sozialstaat, der sich selbst immer wieder so bezeichnet ein ungerechter Zustand und für die Menschen entwürdigend, die auf Soziale Hilfe angewiesen sind, inzwischen auf ein Anzahl von über 200 Tafeln angewiesen zu sein, um materiell mit und ohne Familie über die Runden zu kommen. Es ist ein Skandal.
Mit dem inzwischen weit verbreiteten ehrenamtlichen Hilfesystem (weit über die Tafeln hinaus, noch Armenküchen und Kleiderkammern und …), als eine Form der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit, werden die sozialstaatlichen Aufgaben der Hilfe öffentlich immer mehr in den Hintergrund gedrängt. An der Spitze dieser jahrelangen Entwicklung stehen eben die genannten Tafeln, als das schlechte Gewissen der Wohlstandsgesellschaft mit ihrem makabren Nebeneinander von Überfluss und Mangel. Diese tragen auch dazu bei, die Vorurteile gegenüber Armen als selbstverschuldetes Schicksal zu manifestieren und soziale Bedürftigkeit auf eine Notversorgung zu reduzieren. Damit wird auch indirekt die Bedeutsamkeit der professionellen organisierten Hilfe für sozial Benachteiligte, soziale Randgruppen untergraben, weil diese Hilfe ja auch ein Kostenfaktor ist. Je mehr diese Ehrenamtlichkeit im Sozialsystem an Boden gewinnt, desto weniger werden sich notwendige und auch politisch gewollte strukturelle Veränderungen durchsetzen können.
An diesen offenen Widersprüchen in unserer Gesellschaft, die sich eines modernen Sozialen Sicherungssystem rühmt, messe ich die Glaubwürdigkeit und den politischen Willen eines aufstrebenden sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten zur Veränderung und zur Behebung von Ungerechtigkeitsstrukturen. Nicht an den Reparaturen am Sozialgesetzbuch II, das in Wirklichkeit ein Arbeitsmarktverbesserungsgesetz darstellt und inzwischen zu einem würdelosen bürokratischen Vollstreckungapparat gegenüber „arbeitswilligen“ und „arbeitsunwilligen“ Arbeitslosen degeneriert ist. Die Würde des Menschen ist antastbar, schon lange.
Ihre andere zurückliegende Frage, wie sozial Benachteiligten in angemessener Weise Gelegenheit zu geben wäre, sich auszudrücken und wie dies in konstruktive Projekte „sozialer Gerechtigkeit“ einzubauen wäre (Veränderungsmöglichkeiten für die Betroffenen), werde ich mich nach einer Atempause wieder melden. Derweil wünsche ich Ihnen und den Beteiligten für Ihr Theaterprojekt (Baustelle) mit Flüchtlingen viel Freude und Erfolg. Das ist ja nun wirklich was ganz Konkretes!
@ Jürgen Malyssek, 22. Februar 2017 um 14:11
Lieber Herr Malyssek,
in der Tat, Sie haben einen wichtigen Punkt betr. „Sozialstaat“ und „soziale Gerechtigkeit“ herausgepickt, und ich will deshalb auch diesen eingehen.
Uneingeschränkte Zustimmung, was die Forderung nach einer “ Sozialgesetzgebung“ berifft, „die den Wechselfällen des Lebens arbeitender und arbeitsloser von Armut bedrohter Menschen‘ gerecht‘ wird.“ Ebenso, dass es eine Schande für einen Sozialstaat ist, auf Tafeln und Armenküchen angewiesen zu sein.
Kritischer sehe ich die Aussage: „Je mehr diese Ehrenamtlichkeit im Sozialsystem an Boden gewinnt, desto weniger werden sich notwendige und auch politisch gewollte strukturelle Veränderungen durchsetzen können.“
Ich halte diese Gegenüberstellung für nicht hilfreich, vielmehr sollte die Diskussion darum gehen, wie unterschiedliche Ansätze zur Hilfe ineinander verzahnt werden können und ggf. zu einem Miteinander kommen können.
Da ich zum gegenwärtigen Stand in Deutschland diesbezüglich wenig sagen kann, hier konkrete Beispiele aus der Flüchtlingsarbeit in unserer Gegend in Frankreich:
Für die Betreuung der gegenwärtig ca. 130 Flüchtlinge in unserer Kleinstadt von ca. 10.000 Einwohnern ist das CADA zuständig (entspricht dem BAMF auf regionaler Ebene). Etwa 20 ehrernamtlicher Helfer, alle sehr engagiert, haben mit dieser staatlichen Organisation einen Vertrag. Viele davon sind frustriert, nicht durch die Flüchtlingsarbeit, sondern von Inkompetenz und fehlender Unterstützung seitens des CADA, machen trotzdem weiter. Sie tun dies aber mit Hilfe anderer Organisationen, etwa dem „Secours catholique“, sonst wäre die staatliche Arbeit schon zusammengebrochen. Auch ich habe für meine sehr gut laufende Theater-AG mit Flüchtlingen (z.B. für Raumbenutzung, Sicherheits- und Versicherungsfragen u.a.) auf die Zusammenarbeit mit Amnesty umgestellt.
Beispiele, warum dies notwendig ist:
(1) Nach Asylanerkennung werden Flüchtlinge (meist ziemlich kurzfristig), mit einem Gutschein von € 200.- in eine (buchstäblich!) leere Wohnung eingewiesen. Evt. wird noch ein (meist miserabler) Sprachkurs angeboten. Damit ist die staatliche „Fürsorge“ beendet. Alles andere ist dann ihre Sache. – Was meinen Sie, wie oft ich mit meinem Anhänger in Sachen Möbeltransport schon unterwegs bei „Emmaüs“ war (soziale Hilfe, gegründet von Abbé Pierre), Regale u.a. gebaut habe? Sollte ich das lieber bleiben lassen? Wohl wissend, dass es keine „staatliche“ Stelle gibt, die da wenigstens hilfreich beiseite steht?
(2) Einer der Afghanen, 23 Jahre, (Aufenthalt für 10 Jahre genehmigt) wurde in die nächste Kreisstadt überwiesen. Unterkunft (mit 3 anderen Afghanen) zunächst frei, Unterstützung (ca. 240 € monatlich) wurde eingestellt. CADA ist nicht mehr zuständig. Er darf ja Arbeit suchen (versteht auch einigermaßen Französisch). Staatliche Hilfsleistungen wie Arbeitslosenunterstützung sind erst ab einem Mindestalter von 25 Jahren vorgesehen. – Was meinen Sie, an wen der sich in seiner Verzweiflung gewendet hat?
Fazit:
Mit gesetzlichen Regelungen ist es nicht getan. Es bedarf auch einer einigermaßen stringenten und effektiven Verwaltung, die zur schnellen und unbürokratischen Hilfe in der Lage ist (statt sich, wie ich es erlebt habe, oft als Bremser zu betätigen oder auf Nicht-Zuständigkeit zu verweisen). Dazu ist es nötig, auch freiwillige Helfer sinnvoll in Verantwortung einzubinden. Und ihnen – die in der Regel sehr viel besser wissen, woran es mangelt – die nötige staatliche Hilfe anzubieten, wo privates Engagement überfordert ist.
Eben dies verstehe ich bezüglich dieses Problems unter dem Motto „Auf die Menschen zugehen und ihnen zuhören“ – auch als Forderung speziell an die SPD. Wobei die Initiative von der Partei auszugehen hat. Denn von Menschen, die oft bis zur eigenen Erschöpfung Hilfe leisten, auch noch zu erwarten, sich erst politisch zu organisieren, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen, ist wohl zuviel verlangt.
Eines jedenfalls scheint klar: Es gibt kein Entweder – Oder, sondern nur ein sinnvolles Miteinander von staatlicher und ehrenantlicher Hilfe. Und wie dieses sinnvoll zu gestalten ist, eben darum gilt es zu streiten.
Lieber Herr Engelmann,
nur kurz noch eine Rückmeldung, weil ich erst morgen wieder am PC bin.
Zur ehrenamtlichen Arbeit: Mein Beispiel mit den Tafeln (Armenküchen usw.) und der Ehrenamtlichkeit, ist keine generelle Ablehnung des ehrenamtlichen Engagements. Und um Gotteswillen auch nicht mit dem laufenden ehrenamtlichen Einsatz in der Flüchtlingsarbeit in einen Topf zu werfen.
Sie haben mit dem Thema der Verzahnung (von professioner und ehrenamtlicher Arbeit mit politischem Auftrag) absolut recht!
Ich sage dann noch Näheres dazu.
Ich kritisiere das Eigenleben der Tafeln und deren Instrumentalisierung durch die Politik („Wir haben doch genug Mittel und Hilfen!“).
Nichts für ungut, Herr Engelmann, weil ich ja sehe, dass Sie wichtige Arbeit mit Flüchtlingen machen. Mein von Ihnen kritisierter Satz oben, muss in Zusammenhang mit der Sozialhilfe, sozialen Gerechtigkeit, gebracht werden.
Lieber Herr Engelmann,
ich schwächele gerade etwas. Nochmals zu Ehrenamtlichkeit und/im Sozialsystem:
Die Initiativen, die sich im Kontext bestimmter öffentlicher Problemlagen bilden und die vorrübergehend wertvolle Hilfe leisten, sind nicht mein Kritikpunkt. Doch da, wo eine klare kommunale bzw. staatliche im Gesetz verankerte Hilfeleistung zu gewährleisten ist, darf so etwas – wie das Beispiel der Tafeln zeigt – wie eine dauerhafte Einrichtung nicht passieren, die – ob einem das bewußt ist oder nicht – damit zu einer Verfestigung der Notstände und Armut führt.
Die Verzahnung unterschiedlicher Hilfeansätze ist eine andere Frage. Die stelle ich auch nicht in Frage. Wichtig ist in all diesen freiwilligen ehrenamlichen oder wohltätigen Hilfen der Anschluss an das professionelle (am Beispiel der Wohnungslosenhilfe) Hilfesystem und nicht freischwebende Aktionen, die meist kontraproduktive Auswirkungen haben.
Das Beispiel der Flüchtlingsarbeit, die Sie konkret besser im Blick haben als ich, weist wohl in diese Richtung und Praxis. Die ehrenamtlichen Helfer dürfen nicht vom Staat oder von des ganz offiziellen NGOs alleine gelassen werden.
Dann haben wir noch die von Ihnen angesprochene notwendigen gesetzlichen Regelungen und eben das Problem der Umsetzung dieser.
Und: sinnvolles Miteinander von staatlicher (häufig subsidiär von der Freien Wohlfahrtspflege) und ehrenamtlicher Hilfe. Richtig!
Es steht noch die Beantwortung der Frage aus, wie Sozial Benachteiligte in angemessener Weise Gelegenheit erhalten können, ihre berechtigte Empörung öffentlich zum Ausdruck zu bringen und entsprechende konstruktive Projekte „sozialer Gerechtigkeit“ möglich sind, an der sozialen Lage der Menschen wirklich was zu ändern?
Ich melde mich dann wieder.
Kurzer Hinweis noch: Im frblog.de/postfach-23022017 habe ich was zu stehen zur Klassengesellschaft, Arbeiterklasse und zur gesellschaftlichen Ungleichheit.