Es ist schon zwei Wochen her, dass bekannt wurde, dass die Odenwaldschule die Missbrauchsopfer entschädigen will. Wir erinnern uns: Die Missbrauchsfälle wurden im März 2010 durch die FR öffentich gemacht. Allein der namhafte Pädagoge Gerold Becker, der inzwischen verstorben ist, soll sich an 17 Jungen vergangen haben. Die Schule kämpft seitdem nicht nur um ihren Ruf, sondern mehr noch: um ihren Bestand. Genannt wurde Ende September eine Entschädigungssumme von „mindestens 100000 Euro“, die auf 50 Opfer verteilt werden müssten. Dazu erreichte mich erst jetzt der Brief eines Vaters, dessen Sohn betroffen ist. Trotz der zeitlichen Distanz veröffentliche ich ihn hier anonymisiert. Der Autor ist mir namentlich bekannt.
„Als Vater eines der betroffenen ehemaligen Schüler der Odenwaldschule bin ich entsetzt, mit welcher Hoffnung, Zuversicht und Zufriedenheit sich Persönlichkeiten wie Frau Süßmuth und Herr von Dohnanyi über die körperliche und seelische Verfassung der Geschädigten hinweg für einen Fortbestand der Schule einsetzen. Die fürchterlichen Auswirkungen des Missbrauchs wurden ausführlich beschrieben, einige Betroffene können kein Leben mehr führen, wie unsere Gesellschaft es als lebenswert ansieht. Und da ist von einer Entschädigungssumme von 100000 Euro die Rede! Das sind bei rund 50 Fällen im Durchschnitt 2000 Euro pro betroffener Person.
Das ist ein Hohn für alle direkt und indirekt Geschädigten und lässt den bereits vorhandenen Schmerz wieder schlimmer aufkommen. Nicht nur haben die Eltern ein hohes Schulgeld gezahlt und dafür ein entsetzliches Ergebnis erhalten, auch immense Kosten für Behandlungen und Therapien sind entstanden. Vor allem aber war viel Leid auszuhalten, wofür ein entsprechendes Schmerzensgeld angemessen wäre. Das Zehnfache des oben errechneten Durchschnitts müsste mindestens jeder Betroffene erhalten, einige schwer Geschädigte noch viel mehr.
Man will für den Entschädigungsfond auch die Täter heranziehen, von einem Vermögen Gerold Beckers ist die Rede. In einem persönlichen Brief an mich versicherte mir dieser kurz vor seinem Ableben, dass ein solches nicht mehr vorhanden sei, weil er es in die Entwicklungshilfe investiert habe. Da scheint nichts mehr zu holen zu sein.
Wenn ich bedenke, dass Gerold Becker bereits seit 1972 sein zerstörerisches Unwesen treiben konnte, bevor mein Sohn in den 1980er Jahren auf die Schule und in seine Familie kam, wo er dann noch eines seiner Opfer werden konnte – da bekomme ich meinen Hass! Es ist mir nach wie vor unbegreiflich, über welch großen Zeitraum da viele zugesehen und geschwiegen haben, ganz im Gegensatz auch noch zu den Grundsätzen der Schule! Die Odenwaldschule hat einerseits sicherlich viel Gutes geleistet, auf der anderen Seite aber eine große kollektive Schuld auf sich geladen.
Es kann also nicht darum gehen, die Odenwaldschule auf jeden Fall zu erhalten, sondern nur darum, die Schuld durch eine angemessene Entschädigung zu vermindern. Es besteht leider keine gesetzliche Verpflichtung – die Rechtslage muss dringend geändert werden! – , aber wer sich nur darauf beruft, entzieht sich der Verantwortung, denn es bleibt die moralische Verpflichtung zur angemessenen Entschädigung. Ansonsten hat die Schule kein Existenzrecht mehr!“