Der Tod von Robert Enke hat viele Menschen bewegt und mitgenommen. Ich kann es direkt an der Zahl der eingesandten Leserbriefe ablesen: Dieses Thema hat die Menschen nicht weniger beschäftigt als beispielsweise die Bundestagswahl, die Debatte um den Umgang der katholischen Kirche mit den Piusbrüdern, die Entwicklung der SPD oder die hessische Steuerfahnderaffäre. Das sollte nur auf den ersten Blick verwundern, denn Depressionen gehören zu den häufigsten „Volkskrankheiten“ in Deutschland, und es gibt wohl kaum jemanden, der nicht schon einmal Berührung mit ihnen hatte – sei es in eigener leidvoller Erfahrung, sei es im Familien- oder Bekanntenkreis oder sei es meinetwegen auch, ohne dass es aufgefallen oder gar bewusst geworden wäre. Denn Depressionen sind zugleich häufig nicht erkannte Krankheiten – oder vom Erkrankten selbst nicht akzeptierte, daher verleugnete. Wohin es führen kann, wenn eine Depression nicht konsequent behandelt wird, sah man gerade am Beispiel Enkes, der eine Einweisung in die Psychiatrie ablehnte.

„Wo menschliche Schwäche zum Makel wird“, schreibt der Psychoanalytiker Micha Hilgers in der FR, „bestätigt gesellschaftliches Klima die Angst des Depressiven: Ein Versager zu sein, nicht ein Kranker, ein unwerter Mensch, nicht etwa einer mit individuellen Konflikten und Schwächen.“ Und dies selbst dann, wenn der Betreffende objektiv erfolgreich ist, berühmt, umjubelt und vermögend. Er nimmt sich selbst nicht so wahr, sondern fühlt sich unwert, schuldbehaftet.

Die FR hat sich des Themas Depression in großem Umfang angenommen, und natürlich gab es auch Leserbriefe, die deutlich machen, dass hier noch viel mehr zu tun wäre. Beginnen wir mit der Zuschrift des Pastoralpsychologen Martin Weimer aus Kiel:

„Mir erscheint es aus vier Gründen problematisch, von der „Volkskrankheit Depression“ zu sprechen.
Erstens: Unsere Sprache suggeriert, dass man eine Krankheit ‚hat‘. Fast wie ein lästiges Ding. Warum sie dann nicht rasch wieder loswerden wollen? Beispielsweise durch ein Medikament? Damit aber geht leicht die Frage unter die Räder, welchen Sinn die Krankheit haben könnte und wer alles an ihr beteiligt ist.
Zweitens: Nach heutigem psychiatrischen Kenntnisstand ist es durchaus umstritten, ob man berechtigter Weise von einer ‚Volkskrankheit Depression‘ sprechen kann. Manches spricht für die Vermutung, dass diese Formel in erster Linie der Pharmaindustrie dient. Die Wirksamkeit der Antidepressiva scheint durchaus umstritten, zumal nicht geklärt ist, wer die Studien, die deren Wirksamkeit behaupten, finanziert hat.
Drittens: Dass jemand eine Depression als eine Krankheit ‚hat‘, ist eine Vorstellung, die den leidenden Menschen zusätzlich aus seiner Mitwelt isoliert. Wenn es beispielsweise stimmt, dass Robert Enke von Kindheitstagen an unter der Angst gelitten hat, höchsten Anforderungen nicht gerecht werden zu können: wer hat diese Anforderungen vertreten? Wie sind sie in ihn hinein geraten? Wer hatte Nutzen von seiner Angst? Könnte es nicht außerdem sein, dass es in der computerisierten Arbeitswelt immer mehr Menschen genauso geht? Und dass die ‚Diagnose‘ ‚burn out‘ genauso wie ‚Depression‘ das Leiden fälschlich individualisiert und dessen soziale Verflechtungen ignoriert, an denen wir doch alle beteiligt sind?
Viertens: Man spricht heute genauso von der ‚Krankheit Depression‘ wie in früheren Zeiten von der ‚Sünde Traurigkeit‘. Der schwarze Talar früherer Zeiten ist heute lediglich weiß gewaschen. Psychiatrische Kliniken sind die Klöster der Postmoderne. Das Abendmahl wird in ihnen als Medikamentencocktail gereicht wie zu alten Zeiten. Man sprach in der Alten Kirche beim Abendmahl von der ‚pharmakon athanasias‘, der Medizin zur Unsterblichkeit. Die heutigen Werbungen für die Antidepressiva versprechen dasselbe, nur viel oberflächlicher. Die Alte Kirche erklärte die Depression übrigens just in dem Moment zur Todsünde, in dem sie in der Gestalt des Kaisers Konstantin die Macht ergriffen hatte. Noch nie mochten die Mächtigen Depressive; am Prinzen Hamlet von Shakespeare lässt sich das studieren. Bei den popularisierten Auskünften zur ‚Krankheit Depression‘ anläßlich des furchtbaren Suizides von Robert Enke kann man dieselbe Angst der Mächtigen unschwer erkennen. Nachdem die Großkirchen nach dem 1. Weltkrieg ihre Macht verloren haben, haben die psychiatrischen Organisationen im Falle der ‚Depression‘ sie heute an sich gerissen. Geblieben ist dabei der Kampf gegen diese frühere Todsünde. Was man aber bekämpft, kann man nicht mehr verstehen. Das ist das Problem.
Bei alledem geht verloren, dass das ‚Depression‘ genannte Leiden immer auch eine fruchtbare Seite haben kann. Paulus unterschied zwischen einer Traurigkeit, die von Gott, und einer Traurigkeit, die von der Welt kommt. Die erste diene dem Leben, die zweite führe in den Tod. Man muss nicht unbedingt an Gott glauben, um diese Unterscheidung wichtig zu finden. Vielleicht zeigt die öffentliche Trauer um Robert Enke, dass Traurigkeit dann dem Leben dienen kann, wenn es Menschen gibt, die sie wissen wollen und die Anteil an ihr nehmen wollen. Weil es ja doch jeden von uns jederzeit treffen kann.“

David John aus Berlin:

„Bei den Krankenkassen sind psychische Erkrankungen immer noch ein Sonderfall. Ich selbst bin bei der HUK Coburg privat versichert. Im Kleingedruckten meines Vertrags steht der Passus, dass 30 Therapiesitzungen pro Jahr bezahlt werden. Als Laie denkt man sich beim Abschluss nichts dabei. Dann erkrankte ich 2007 an schweren Depressionen und bekam die volle Wucht dieser Regelung zu spüren. In meinem Fall wurde von meinen Ärzten eine Intensiv-Therapie mit zwei bis drei Sitzungen über mehrere Monate indiziert. Nach zwei Monaten waren besagte 30 Stunden erschöpft und es gab keine weitere Erstattung. Das ist wie wenn z.B. ein Knochenbruch operiert wird, aber dann einfach die notwendigen REHA-Maßnahmen verweigert werden. Ergo: Man wird nicht richtig gesund.
2008 und 2009 das gleiche, 30 Stunden und dann wieder warten bis zum nächsten Jahr. Alle Interventionen meiner Ärzte halfen nichts. Im Sommer 2009 wurde dann meine fortwährende Berufsunfähigkeit festgestellt und mein Krankentagegeld gestrichen. Nach dem Motto: Wir bezahlen Dir nicht die komplette Behandlung und wenn Du dann nicht gesund wirst, bist du selber schuld.“

Florian Schmidt-Weigand aus Marburg:

„Schade Herr Hilgers, eigentlich trägt Ihr Artikel viel zur Aufklärung über Depressionen, ihre Hintergründe und den gesellschaftlichen Umgang mit der Erkrankung bei. Leider macht der letzte Absatz viel vom gerade gewonnenen Verständnis wieder zunichte. Robert Enke sei weniger ersetzbar als die Kassiererin im Discounter, so Ihre Aussage. Macht das die Depression von Herrn Enke weniger plausibel als Depressionen beim Durchschnittsbürger? Hat ein Nationaltorwart weniger Recht, depressiv zu werden oder andersrum, ist es normaler, depressiv zu sein, wenn man bei Aldi arbeitet? Auch Herr Enke ist ersetzbar. Es ist kaum davon auszugehen, dass Hannover 96 in Zukunft ohne Torhüter auflaufen wird und auch die Nationalmannschaft wird mit einem anderen Torhüter ähnlich erfolgreich spielen können. Unter diesem Blickwinkel ist jeder ersetzbar, auch die Bundeskanzlerin oder Sie oder ich. Gleichzeitig ist niemand ersetzbar – und zwar in Bezug auf alles, was uns einzigartig macht. Das mag sich bei einem Profifußballer auch in seinen Fähigkeiten im Spiel mit dem Ball widerspiegeln. Aber diese Form von Einzigartigkeit, Persönlichkeit, Bedeutsamkeit muss der Betreffende auch als solche erleben und erleben wollen, egal ob im Tor von Hannover 96, an der Supermarktkasse oder bzw. vor allem in den persönlichen Beziehungen. Gibt es denn wirklich einen Zusammenhang, dass ‚objektiv bedeutungslose Existenzen‘ (so verstehe ich Ihre geschmacklose Metapher mit der Kassiererin) häufiger an Depression erkranken? Oder ist es vielleicht gerade umgekehrt, dass wir es mit einer ‚Zivilationserkrankung‘ zu tun haben, die sich auch und gerade im Bildungsbürgertum, bei den vermeintlich ‚objektiv Erfolgreichen‘ breit macht? So wie Sie es beschreiben, werde ich beim nächsten ‚Personenschaden‘ der Bahn eher daran denken müssen, dass sich wieder eine arme Sau selbst beseitigt hat, die einsehen musste, dass ihr Leben hinter der Kasse, im Büro oder auf der Straße wirklich niemanden kümmert. Wie gesagt, sehr schade, weil Sie das vermutlich nicht beabsichtigt hatten.“

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4 Kommentare zu “Volkskrankheit Depression

  1. Bezüglich des Leserbriefes von Herrn Florian Schmidt-Weigand vom 19.11.09 in der FR Seite 16:

    Bevor Sie mit dem Knüppel auf Herrn Hilgers losgehen, („…geschmacklose Metapher“) sollten Sie vielleicht erst mal Luft holen und etwas mehr nachdenken.
    Es ist doch allzu offensichtlich, dass das Beispiel der Kassiererin zeigen soll, das Menschen wie Du und Ich, die nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen,
    keine Möglichkeit haben, sich mit Aggressionen zur Wehr zu setzen wie
    Oliver Kahn. Wenn diese Menschen sich wehren. werden sie ausgetauscht.
    Dies und nichts weiter wollte Herr Hilgers sagen und damit sein Mitgefühl mit uns Durchschnittsbürgern ausdrücken.

  2. Allein das Wort „Durchschnittsbürger“sollte mit zum Unwort des Jahres erklärt werden.
    Schon hätten wir statt Depression bei dem einen oder anderen gesundes Selbstbewustsein =
    weniger Lebensangst.
    „ich muß nun wirklich nicht recht haben ,aber ich könnte es mir vorstellen“
    Gründe für Depressionen sind sicher vielfältiger als man es sich vorstellen kann und ich glaube auch,dass die Lösung beim betroffenen selbst liegt.
    Das Umfeld gibt ihnen entweder den Anker oder…….

  3. Volksgesundheit ist eine wichtige Dimension — gut, daß das Thema auch so zur Sprache kommt. So ziemich überall gibt es online Dossiers zur Depression, z.B. auch bei der ARD [www ard.de]. Unter den BMBF-geförderten online Infos paßt hier [www kompetenznetz-depression.de]. Der vorgeschagene Selbsttest versteht sich eigentlich (m.E.) als Hinweis und ggf. Anregung für Weiteres, nicht daß die Leute glauben, man macht den Test und weiß Bescheid…

    Die Seele ist doch ein sehr besonderes Etwas. Seit „de anima“ von Aristoteles hat sich die Wissenschaft viel entwickelt, man kann viel besser auf die Menschen eingehen und auch die Zusammenhänge mit dem Körper — körperlose Seele ist uns eigentlich nicht bekannt — verstehen. Da wußten auch die alten Römer, „mens sana in corpore sano“ (gesunder Geist im gesunden Körper).

    Einfache einleuchtende Weisheit, sie ist eigentlich nicht alles. Im Prekariat kann man so gut es geht versuchen, den Körper gesund zu halten, die Sorgen und die prekäre Lage wird man (nur) dadurch nicht los… Damit kommen wir bei der sozialer Dimension an, diesen Teil des Problems können weder Psychologen noch Psychiater lösen…

  4. Depressionen kann ganz sich jeder bekommen! Insbesondere sensible bzw. feinfühlige Menschen habens schwer.
    Ein Facharzt sagte mal, dass im Laufe seines Lebens jeder Menschen schon mal an Selbstmord gedacht hat.
    Oft waren die (Rechts)Verletzungen, die ihm von anderen zugefügt wurden, so schmerzhaft, dass er sie nicht länger ertragen wollten.
    Auch ich habe schmerzhafte Rechtverletzungen hinnehmen müssen. Doch ich sage zu mir:
    *Was mich nicht umbringt macht mich
    nur noch stärker!*

    Bitte schaut auf:
    *http://direktzur/kanzlerin/messages/24051*
    und stimmt mit ab.

    Bitte lest bzw. googelt auch:
    *Neue Richtervereinigung – Dresden*
    und
    *Der Pakt mit dem Teufel
    und seine Vorgeschichte*

    Alle Gute
    Erhard

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