Wem ist es noch aufgefallen? In der Nacht der Hessenwahl bemühten die Sieger verstärkt den Begriff „bürgerlich“. Bürgerliche Parteien, bürgerliche Mehrheit – nach einer Forsa-Umfrage gibt es derzeit eine schwarz-gelbe Mehrheit im Bund. (Allerdings lag Forsa insbesondere bei der Hessenwahl weit daneben, aber das nur am Rande.) Schwarz-gelb also gleich bürgerlich? Die Wahlsieger vereinnahmen damit einen positiv besetzten Begriff, um sich vom linken Lager abzugrenzen, das dann nicht bürgerlich wäre. Ja, es ist Wahlkampf; 2009 ist ein Superwahljahr. Die politische Konkurrenz der hessischen Sieger sollte sich diesen Wahlkampftrick jedenfalls nicht gefallen lassen, meint Stephan Hebel in seinem FR-Leitartikel „Gut bürgerlich„.
Dazu meint FR-Leser Horst Peter aus Kassel:
„Herr Hebel bringt die Sache auf den Punkt: In Zeiten eines hegemonialen Ideologievakuums nach dem offensichtlichen Scheitern des Neoliberalismus wird zur Konstruktion einer Lagerwahlkampf-Konstellation die Bürgerlichkeit aus der historischen Mottenkiste geholt und aufgepeppt. Soll Herrn Hebels kritische Analyse dieser Strategie realpolitische Wirklichkeit entfalten, bedarf es zunächst der Klärung der Begrifflichkeit.
Ideengeschichtlich enthält der Begriff seit der französischen Revolution zwei Dimensionen, für die die französische Sprache zwei Wörter bereithält: den Bourgeois als den Wirtschaftsbürger und den Citoyen als den der Freiheit und Gleichheit verpflichteten demokratischen Staatsbürger. Ernst Bloch grenzt in seiner Realutopie einer zukunftsfähigen sozialistischen Gesellschaft den Bourgeois als den realen Menschen der freien Konkurrenz ab vom Citoyen als dem Freien und Gleichen, der die gemeinsame gesellschaftliche Sache selbst regeln will. Daraus ergibt sich die zentrale Frage: Sind wir alle neoliberale Chicago-Boys oder doch auch Gemeinschaftswesen? Vor diesem Hintergrund bleiben die Gründe für den Wahlerfolg der Ypsilanti-SPD auf der Tagesordnung. Die Zeit schien vielen Menschen reif für einen grundsätzlichen Politikwechsel in Hessen. Dieser scheiterte erst, als die Kritiker dieses Weges nach der Verabschiedung des rot-grünen Koalitionsvertrags merkten, dass das Programm tatsächlich umgesetzt würde. Im letzten Wahlkampf tilgte Thorsten Schäfer-Gümbel das Adjektiv ‚ökologisch‘ aus dem Gerechtigkeitsziel und wollte für die Bekämpfung der Wirtschaftskrise auch die Reichen heranziehen. Damit wanderten die rot-grünen Ypsilanti-Wähler zur einzigen Partei, die wieder mit dem Ypsilanti-Programm antrat: den Grünen (oder in die Nichtwählerschaft). Während die FDP als Steuersenkungspartei den Bourgeois in uns aktivierte.“
Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:
„Der implizit denunziatorische Kampfbegriff ‚bürgerliche Partei‘ grenzt andere Parteien als ’nicht bürgerlich‘ aus. Das ist die Zentralaussage von Stephan Hebel. Er stellt klar heraus, dass diejenigen, die sich selbst bzw. ihre politische Position als „bürgerlich“ bezeichnen, ausschließlich eigene Interessen bedienen, nämlich ‚Privilegien zu sichern‘. Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker hätte sich zum Beispiel nie eines solchen schwammigen Begriffs bedient. Abgesehen davon, dass unsere heutige Welt der Optionalität von Lebensstilen das ‚juste milieu‘ der Bürgerlichkeit gar nicht mehr kennt, zeigt doch die totale Verlotterung der Geschäftssitten etwa im Finanzgewerbe, dass wir weit von der Verbindlichkeit bürgerlicher Tugenden entfernt sind. Aber der Konservative hat dafür den Sündenbock der 1968er und deren Adepten. So einfach ist das!“
Hern Hebel muss zugestimmt werden. Da okkupieren Parteien einen Begriff, nämlich bürgerliche Mitte, dem sie mit ihrer Politik nicht gerecht werden. Der Bürger, wie ich ihn als Begriff verstehe, will sich nicht zu sehr vom Staat gängeln lassen. Der Staat jedoch soll mittels Steuern lenkend eingreifen um soziale Missstände zu beseitigen (steuern = lenken). Gerade die ?DU aber ists, die sich zunehmend gegen Freiheiten des Individuums ausspricht (Schäuble ist der Prototyp dieser Ignoranten). In Hessen jedoch ist die ?DP nur noch ein Anhängsel der ?DU, anders ist die Politikunfähigkeit von Hahn im vergangenen Jahr nicht zu verstehen. Es hätte also bei gleichem Wahlausgang so lange gewählt werden müssen, bis das jetzt zustandegekommene Ergebis gestimmt hätte. Einem Lügner wie Koch – wir erinnern uns nur zu gut an die jüdischen Vermächtnisse – zur Mehrheit zu verhelfen, hat wenig mit der Ehrlichkeit zu tun, die die ?DP vorgibt.
Die linken oder rechten Sümpfe irgendwo im Abseits, wo sich die komischen Vögel treffen, gibt es jedenfalls nicht. Tiefen und übelriechenden Morast findet man , wie die letzten Jahre zeigten, auch in der Mitte.
Ich denke, man könnte von der Seite herangehen, zu formulieren, wie der “Wahlkampfbegriff Bürgerlichkeit” wirkt, welche Bilder er beinhaltet und warum er provozierend ist.
Ein Bild:
Der gesetzestreue Geschäftsmann, der in seinem kleinen , überschaubaren Betrieb auf redliche Weise ehrliches Geld verdient, indem er ebenso redliche, aber weniger tüchtige Menschen Güter herstellen und Dienstleistungen vollbringen läßt und sie gerecht dafür entlohnt.
Er braucht, um produktiv tätig zu sein, die Sicherheit der Wege und Ressourcen, den Schutz der Produktionsmittel und den Schutz des öffentlichen Raumes. Um diese sicherzustellen, nimmt er mäßigen Einfluß auf die Administration, stellt vernunftsmäßige Regeln auf und sorgt für die Mittel zu deren Überwachung.
Seine Stellung rechtfertigt er nicht aus roher Kraft oder ererbten Besitztümern, sondern aus Intelligenz und Fleiß, die ihn dazu befähigen, aus den rohen Anteilen “Arbeit und Rohstoff” edlere Güter zu machen.
Die Mittel, die ihn dazu befähigen sind Anstand und Fleiß, Kontaktfreude und Verläßlichkeit, Geschäftssinn und gesunderMenschenverstand, eine Welt, in der wie in einem Uhrwerk eins ins anderen greift und ein jeder sich ein Anrecht auf seinen Besitz erworben hat und jeder an seinem Platz dazugehört.
Problem bei dieser Uhrwerkwelt ist, daß sie nicht als perpetuum mobile laufen kann, Sie muss verbrauchen, gewartet werden und sie muss produzieren und sie hat Verluste.
Auf diesen Verlusten beruht das bürgerliche Profitsystem. Das veredelte Produkt zu verkaufen und den Mehrwert zu erhalten, ohne die Verluste auszugleichen ist eine unmögliche Kunst.
Verluste müssen also in Kauf genommen und gerechtfertigt werden.
Hier bleibt nur eine Ideologie der qualitativen Unterschiede zwischen den Menschen übrig: Der (geschäftsmäßig) minder Befähigte muß seine natürlichen Nachteile mit dem Einsatz von Lebenskraft bezahlen, der (geschäftsmäßig) höher Befähigte hat weniger Lebenskraft einzubüßen.
EIne “bürgerliche Linke” hätte also dafür zu sorgen, daß geschäftsmäßige Befähigung und deren “Ersatz=(Arbeit, Lebenskraft)” verlustfrei belohnt werden, um trotzdem einen Mehrwert zu erwirtschaften.
Das geht nur durch Ausbeutung von Ressourcen.
Die Ausbeutung von Ressourcen geht aber hierzuwelt noch nicht ohne Ausbeutung von Menschen, und deshalb kann die Linke nicht bürgerlich sein.
Ein geschickter Schachzug ist nun, die “bürgerlichen Tugenden” und “Verhaltensweisen” auch von den Arbeitern zu verlangen und ihnen vermittels Bildung beizubringen, ohne sie aber an den Profiten zu beteiligen.
An diesem Punkt sind wir heute angelangt: Jeder empfindet und verhält sich als Bürger, erhält aber nicht die entsprechenden Privilegien.
Das Provozierende an der Sache ist, daß die “bürgerlichen Rechte” nicht mit den “bürgerlichen Privilegien” deckungsgleich sind.
Ja, ich habe auch was zu sagen:
Sie beklagen, dass Herr Koch versucht den Begriff Bürger lediglich auf seine Klientel zu münzen und alle anderen Bürger als eine Art Restkategorie auszugrenzen. Dann sollte die FR vielleicht mal bei ihrer eigenen Wortwahl anfangen und beispielsweise Bürger, die arbeitslos geworden sind und öffentliche Unterstützung beziehen, ebenfalls als Bürger bezeichnen, und nicht als Hartz-IV-Empfänger, Ein-Euro-Jobber usw. Damit reduziert man diese Menschen auf Stützeempfänger und beraubt sie ganz subtil ihrer Würde. Schließlich bezeichnet man „Subventionseempfänger“ ja auch immer noch als „Unternehmen“, oder? Sie haben es doch selbst in der Hand, dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken, mit den ihnen eigenen Mitteln, nämlich dem bewusst gewählten Wort.
Lassen Sie sich den Text im Kasten mal auf der Zunge zergehen; notfalls hilft auch lautes Lesen:
@3Sonne
sehr gute klare Worte.
„was und wer ist bürgerlich ?“
Wo fängt bürgerlich an ?
Und was gibt es darunter ?
Auch eine Einstellung, die man noch ab und zu hören kann : (sinngemäß)
„Mein Mann ist jetzt Vorarbeiter geworden; da können wir doch nicht mehr SPD wählen.“
jede Kaste hat noch eine Unterkaste und wir träumen von Solidarität und Einigkeit.
Und dann war der Traum zuende !
Willkommen im Leben!
Ich halte die Frage, was man dem Etikett bürgerlich von Seiten der Konkurrenz entgegensetzen könnte für relativ einfach zu beantworten: fortschrittlich.
Während „bürgerlich“ ja ein begriff aus dem 19. jahrhundert ist, wie Herr Hebel ja auch anmerkt
Die Leserbriefe der FR. vom 23.1.zeigen die anregende Wirkung des lesenswerten Leitartikels von Stephan Hebel „Gut bürgerlich“. Schade, dass Herr Hebel nicht schon vor der Hessenwahl die Wähler auf den Missbrauch des Begriffes „bürgerlich“ und die unglaubliche Arroganz der beiden „bürgerlichen“ Parteien hinweisen konnte. – Es bleibt zu hoffen, dass in diesem wichtigen Wahljahr die Wähler und die ehemaligen Nichtwähler aus dieser zur Schau getragenen stumpfsinnigen Arroganz der bürgerlichen Parteien den richtigen Schluss ziehen und so doch noch eine ökologische, den Atomausstieg bekräftigende linke Mehrheit ermöglichen. Voraussetzung wäre, dass die SPD ihre panische Angst vor einem innerparteiliche „Linksruck“ überwindet.
@ #2.BvG
Man kann nur danken für diese Apologie und Erklärung des Kapitalismus und der „Demokratie“, wie BvG sie sieht:
„Die linken oder rechten Sümpfe irgendwo im Abseits, wo sich die komischen Vögel treffen, gibt es jedenfalls nicht. Tiefen und übelriechenden Morast findet man , wie die letzten Jahre zeigten, auch in der Mitte.“
Klartext: An den Rändern findet man die „Sümpfe“ jedenfalls nicht, trotzdem findet man sie in der Mitte auch. – Das ist tiefe Philosophie: Etwas ist „auch“ (ein zweites Mal) da, obwohl es woanders nicht auch (ein erstes Mal) ist.
„Er (der Kapitaliost; j.u.t) braucht, um produktiv tätig zu sein, die Sicherheit der Wege und Ressourcen, den Schutz der Produktionsmittel und den Schutz des öffentlichen Raumes. Um diese sicherzustellen, nimmt er mäßigen Einfluß auf die Administration, stellt vernunftsmäßige Regeln auf und sorgt für die Mittel zu deren Überwachung.“
Klartext: Demokratischer Kapitalismus ist, wenn die besitzende Klasse (Kapitalisten), nicht aber “ geschäftsmäßig weniger tüchtige Menschen“ (Prekarier, vormals Proletarier), „mäßigen Einfluß“ auf die „Administration“ (Regierung, Staat) ausüben, um die Bedingungen für die ihnen dienende „Sicherheit der Wege und Ressourcen, den Schutz der Produktionsmittel“ herzustellen.
„Seine Stellung rechtfertigt er nicht aus roher Kraft oder ererbten Besitztümern, sondern aus Intelligenz und Fleiß, die ihn dazu befähigen, aus den rohen Anteilen “Arbeit und Rohstoff” edlere Güter zu machen.
Die Mittel, die ihn dazu befähigen sind Anstand und Fleiß, Kontaktfreude und Verläßlichkeit, Geschäftssinn und gesunderMenschenverstand, eine Welt, in der wie in einem Uhrwerk eins ins anderen greift und ein jeder sich ein Anrecht auf seinen Besitz erworben hat und jeder an seinem Platz dazugehört.“
Klartext: Auf diese Verkehrung der Quelle gesellschaftlichen Reichtums und diese reaktionäre Definition der Gesellschaft als Ständegesellschaft einzugehen, wäre so gerechtfertigt, wie es BvG gegenüber nutzlos ist.
„Problem bei dieser Uhrwerkwelt ist, daß sie nicht als perpetuum mobile laufen kann, Sie muss verbrauchen, gewartet werden und sie muss produzieren und sie hat Verluste.
Auf diesen Verlusten beruht das bürgerliche Profitsystem. Das veredelte Produkt zu verkaufen und den Mehrwert zu erhalten, ohne die Verluste auszugleichen ist eine unmögliche Kunst.
Verluste müssen also in Kauf genommen und gerechtfertigt werden.“
Klartext: Produktionskosten auf seiten des Kapialisten sind „Verluste“ die nicht hingenommen werden dürfen. Die Aneignung von durch den Beschäftigten geschaffenem Mehrwert schafft Verluste bei Beschäftigten, die dieser allerdings hinzunehmen hat. – Schöner kann Ausbeutung gar nicht definiert, „in Kauf genommen und gerechtfertigt werden.“
„EIne “bürgerliche Linke” hätte also dafür zu sorgen, daß geschäftsmäßige Befähigung und deren “Ersatz=(Arbeit, Lebenskraft)” verlustfrei belohnt werden, um trotzdem einen Mehrwert zu erwirtschaften.
Das geht nur durch Ausbeutung von Ressourcen.
Die Ausbeutung von Ressourcen geht aber hierzuwelt noch nicht ohne Ausbeutung von Menschen, und deshalb kann die Linke nicht bürgerlich sein.“
Klartext: BvG kann es immer besser: Nicht nur rechtfertigt und erklärt er Ausbeutung aufs schönste, sondern er beantwortet auch noch die von ihm selbst immer wieder gestellte Frage: „Was ist bürgerlich“. Seinen Antwort: Wenn Wirtschaften auf Ausbeutung beruht, obwohl ein „gerechter Lohn“ bezahlt wird, der aber eben nur deswegen „gerecht“ ist, weil der Kapitalist ja seine „unvermeidbaren“ „Verluste“ ausgleichen muss.
Wie zum Schluss die Frage nach dem Unterschied zwischen bürgerlichen „Privilegien“ und „Rechten“ angegangen wird, ist dann einfach grandios:
Offensichtlich erkennt BvG, dass bürgerliche Herrschaft gerade darauf beruht, daß die eine, die herrschende Klasse Rechte „vor“ der anderen Klasse hat (eben „Privilegien“), während die andere die ausgebeutete, beherrschte Klasse, zwar „Rechte“ hat, aber eben allenfalls solche, die immer hinter den Vorrechten der anderen zurückstehen müssen.
So wie BvG die Welt erklärt, wird er sehr, sehr lange von einer „guten“ Welt nur träumen können.
@jut
Brauchts wieder ein Sparringspartner?
Da bin ich das Gegenteel.
Nochmal Schule studieren:
Wenn einer was referiert, so ist das nicht seine Meinung, auch nicht seine „Welterklärung“.
Mein lieber Ungeliebter: Ich rechtfertige gar nichts! Ich diskutiere, bevor ich mir eine Meinung bilde. Sie machen das Gegenteel.
Gegen das haarspaltige „auch“ setze ich den „Kapitaliost“.
Wenn Sie ihre verunglückten Versuche, den Kapitalismus zu erklären zum Besten geben, halte ich Sie ja auch nicht für einen Kapitalisten. Oder war Marx gar der Erzkapitalist, weil er „Das Kapital“ geschrieben hat?
Schönen Gruß
Sie haben aber doch auch einiges verstanden von meiner Darstellung des Bürgerlichen, die ausdrücklich als Bild gekennzeichnet war.
jut
@ j.u.t
O.K. Und nun erklären Sie uns, wie wir schneller zu einer guten Welt kommen.
@Werner
Das steckte in der kleinen Auslassung von mir, die jut ausgelassen hat:
Eine bürgerliche Linke muß einen Weg finden, Mehrwert ohne Ausbeutung zu produzieren.
@jut
Ihre „Klartext“ Behauptungen weise ich zurück.
Sie verdrehen und verfälschen meinen Text.
Es steht ihnen nicht an, meine Texte zu „klären“. Sie können es nicht.
Der so genannte Klartext ist aus ihrer Perspektive gefärbt. Setzen!