Grißbritannien liefert derzeit ein ziemlich unwürdiges Schauspiel an politischem Chaos. Eine Regierungspartei, die in sich wegen des Brexits völlig zerstritten ist und zudem lediglich eine Minderheitsregierung stellt, welche von nordirischen Ultrakonservativen abhängt. Eine Oppositionspartei, welche die Chancen nicht nutzt, die Regierung zu stellen und zu zerlegen, obwohl sich solche Chancen wirklich reichlich bieten. Labour zögert, einen Misstrauensantrag zu stellen und zu versuchen, Premierministerin Theresa May zu stürzen. In diesem Fall würden sich ihre Tories und auch die nordirische DUP wieder hinter May versammeln und sie im Amt halten. Für einen solchen Fall hat der Labour-Parteitag beschlossen, dass die Partei dann die Forderungen nach einem neuen Referendum in der Brexit-Frage unterstützen will, d.h. dann würde ein Referendum wahrscheinlicher. Das aber will Labour-Chef Jeremy Corbyn anscheinend nicht, denn er ist ein verkappter Brexiteer, ein Anhänger des Brexit. Derweil hat May die Abstimmung über den Brexit-Deal im Unterhaus abgeblasen und ist noch einmal auf Europatour gegangen, um vielleicht noch etwas herauszuholen, was den Briten den Weg in den Brexit schmackhaft machen könnte. Zurzeit hat der Deal wohl keine Chance, angenommen zu werden. Die Folge wäre ein harter Brexit – oder doch noch ein neues Referendum? Ein Gastbeitrag von Sigurd Schmidt aus Bad Homburg.
Ein unbeugsames Volk
Von Sigurd Schmidt
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Der spätere französische Staatspräsident Charles de Gaulle hat bekanntlich während seines Londoner Exils seitens der damaligen politischen Klasse (oder umgangssprachlich: der politischen Elite) den für ihn gebliebenen Eindruck gewonnen, dass Großbritannien einen quasi unbeugsamen Selbstbehauptungswillen besitzt, der die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit anderen Nationen im Rahmen eines Staatenverbundes fast verunmöglicht. Deshalb hat auch das Frankreich unter de Gaulle noch geraume Zeit einem Beitritt des UK zur seit 1957 existierenden EWG widerstanden.
Der Brexit-Prozess zeigt nun, dass auch das heutige UK und der harte Kern von England im engeren Sinne (ohne Schotten, Waliser, Cornish People und Nordiren) sich einer gemeinsamen europäischen Identität schlicht verweigert. Insofern ist das Austrittsbegehren des UK geistig – aber nicht pragmatisch-politisch – nachvollziehbar, obwohl es nicht korrekt ist zu sagen, dass die gerade nur etwa 52-prozentige Mehrheit für den Brexit ausdrücke, dass das gesamte britische Volk in seiner überwältigenden Mehrheit den Brexit wolle. So wird dies aber von nicht wenigen britischen Politikern immer wieder hingestellt.
Bei aller Kritik und allem Unverständnis für den Brexit, die Befindlichkeiten der Kernländer der EU, darf nicht übersehen werden, dass der Brexit nicht mit den rechtspolitisch nun wirklich sehr problematischen Entwicklungen in Ungarn und Polen in einen Topf geworfen werden darf. Die Verhandlungen zwischen Brüssel und London haben gezeigt, dass die Rückabwicklung der EU-Mitgliedschaft des UK dem Versuch nahekommt, ein Pferd von hinten aufzuzäumen. Mit anderen Worten: Die Hausaufgaben der Kosten-Nutzenabwägung hätten im UK vor dem Volksreferendum und nicht erst nachher erfolgen müssen.
Man sollte den Brexit, dessen geordnete oder auch chaotische Umsetzung nun einmal aus britischer Sicht beschlossene Sache ist, weder als couragierte Selbstbehauptung des UK hochstilisieren noch im Sinne von Kassandrarufen in Sachen Europa zur Quelle eines unberechtigten Europa-Skeptizismus machen. Der kommerzielle Austausch zwischen dem UK und dem Kontinent wird weitergehen, aber das Vertrauen in eine enge und von engem gegenseitigen Vertrauen getragene Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und dem Kontinent ist jetzt nur noch ein frommer Wunsch. Eine Scheidung zwischen Staaten oder Staatengruppierungen lässt sich einfach nicht schönreden.
Sigurd Schmidt, Bad Homburg
Update: Ich hänge eine Reaktion von Sylke Uhde aus Göttingen hier an, die im Print-Leserforum am kommenden Montag in gekürzter Fassung erscheinen wird.
Die Briten suchen den Retouren-Schein
Von Sylke Uhde
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Ja, eine „Scheidung zwischen Staaten oder Staatengruppen lässt sich einfach nicht schönreden.“ Aber nein, die „Umsetzung“ des Brexit ist eben nicht „aus britischer Sicht beschlossene Sache“. In seiner Konkretisation nicht im Unterhaus und – so der aktuelle Stand der Dinge – auch nicht in der britischen Bevölkerung. Vermutlich jedenfalls nicht, denn nach mehr als zwei Jahren der Verhandlungen und politischen Entwicklungen lässt sich ja zurzeit ohne ein Folge-Referendum über den Willen der Bevölkerungsmehrheit in Großbritannien nur spekulieren. Zeichen wurden allerdings gesetzt: Im Oktober haben über 600 000 Menschen in London demonstriert. Es war die bei weitem teilnehmerstärkste Demonstration seit den Protesten gegen den Irak-Krieg 2003. Sie zählte damit – nur mal zum Vergleich – doppelt so viele Menschen wie die allerdings spektakulären, leider auch in Gewalt ausgearteten Kundgebungen der französischen Gelbwesten.
Wie nirgendwo sonst in der EU stehen momentan in Großbritannien Menschen für ihre Unionsbürgerschaft ein und auf. Es kann nicht die Rede davon sein, dass sich „das heutige UK“ „einer gemeinsamen europäischen Identität schlicht verweigert.“ Und weshalb sollte „das Vertrauen in eine enge und von engem gegenseitigen Vertrauen getragene Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und dem Kontinent“ „nur noch ein frommer Wunsch“ sein? Gibt es irgendeinen Anlass für gegenseitiges Misstrauen? Die Brexit-Verhandlungen und das erzielte Abkommen sind als „alles in allem fair und vernünftig“ (so Achim Post, FR-Thema des Tages) zu bewerten. Die angesichts der Lage in Irland/Nord-Irland notwendige diplomatisch-juristische Quadratur des Kreises einer wirtschaftlich-politischen (Nicht-)Grenzziehung wäre ohne Kooperation gar nicht zustande gekommen. Wie das Ausscheiden gewisser Verhandlungsführer unterstreicht.
Das Argument, das „Austrittsbegehren“ der Briten sei „geistig“ „nachvollziehbar“, insofern es v.a. „im harten Kern von England“ einen schon von de Gaulle beobachteten „quasi unbeugsamen Selbstbehauptungswillen“ gäbe, der „die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit anderen Nationen im Rahmen eines Staatenverbundes fast verunmöglicht“, halte ich für äußerst problematisch. Was fände sich wohl ‚im harten Kern von Deutschland‘, wenn man Diagnosen der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts folgen wollte? Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Deutschen? Nach Nazi-Diktatur und zwei Weltkriegen? Wenn man will, kann man immer aus Vergangenem vermeintliche nationale Identitäten konstruieren, die allerdings vor allem etwas sagen über die Zählebigkeit von (unbewussten) Ressentiments. Gesellschaften wandeln sich doch, sind vielfältig. Die Europäische Union ist und bleibt vor diesem Hintergrund eine bedeutende Erfolgsgeschichte. ‚Geistig nachvollziehbar‘ ist für mich allerdings ein gewisses Gefühl der Fremdbestimmung durch Entscheidungen, die eine immer auch nationale Interessen verhandelnde EU-Kommission trifft, und nicht ein von mir gewähltes Parlament.
Teresa May kann sich nicht vorwerfen lassen, ihre Regierung habe nicht alles darangesetzt, Referendumsauftrag und Unterhausbeschluss zum Brexit zur Ausführung zu bringen. Sie muss nicht mehr, sie hat bereits „geliefert“, verantwortungsbewusster als viele andere, was bestellt worden war. Nur – der bestellte Artikel passt einfach nicht und der Empfänger sucht gerade dringend den Retouren-Schein …
Exit vom Brexit: Direkt gegenüber dem „Londoner Notausgang“ (siehe FR-Leitartikel) könnte sich übrigens ein weiträumiges, elegant-einladendes Foyer internationaler Begegnung befinden. Das Gemeinwesen EU braucht eine Verfassung. „Die in Brüssel“ müssen zur souveränen Volksvertretung aller Unionsbürger werden. Mühselige Beratungen verdienen lohnende Ziele.“
Mich wundert bei der Diskussion um den sog. Brexit, dass eine derart hauchdünne Mehrheit für den Austritt aus der EU den Ausschlag geben sollte. Ein Zufallsergebnis!
Jeder Naturwissenschaftler weiß, dass ein solches Ergebnis nicht reproduzierbar ist, und führt daher eine Versuchsreihe durch. Übertragen auf solch wichtige und knappe politische Entscheidungen wie den Brexit hieße das dann – bspw.- man führe drei Abstimmungen (etwa im Abstand von 8 Wochen) durch, und bilde einen Mittelwert.
Statistisch gesehen immer noch dünn, aber um Längen aussagekräftiger als ein einmaliges zufälliges Ergebnis! Naturwissenschaftlich ist das Routine, aber Politiker haben davon keine Ahnung.
@Helmut Lindner
Bei einer naturwissenschaftlichen Messung gibt es immer eine Messungenauigkeit. Das Ergebnis einer Abstimmung ist immer genau, wenn man richtig zählen und addieren kann. Das Ergebnis ist also nicht zufällig, aber das Abstimmungsverhalten einiger Menschen ist vielleicht zufällig. Bei Sonnenschein ist man vielleicht weniger missmutig und vergisst seinen Zorn auf Brüssel. Wenn man jetzt mehrere Abstimmungen macht, hängt das Ergebnis vielleicht vom Wetter ab, aber das wäre wieder zufällig.
Den Titel „ein unbeugsames Volk“ halte ich in diesem Zusammenhang für wenig passend. Näher kommt dem schon die Einschätzung, dass ein vor allem aus kolonialer Vergangenheit erwachsener und verinnerlichter Überlegenheitsdünkel eine nicht unwesentliche Rolle spielt, der gleichberechtigtes Miteinander mit anderen Partnern erschwert, Eingeständnis von Fehlern ganz unmöglich macht.
In neun Jahren Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus allen EU-Ländern an einer Europäischen Schule habe ich solches mehrfach erfahren. Einzuschränken wäre, dass meine Beobachtungen sich auf englische, nicht aber schottische und irische Kolleginnen und Kollegen beziehen. Auch bei Anerkennung lobenswerter Initiativen (etwa eines „Model European Parliament“ unter Schülern) war die Neigung unverkennbar, gemeinsame Initiativen entweder anzuführen oder zu boykottieren. Der Anspruch auf Sonderrechte war sehr oft erkennbar.
Ein Beispiel: Nach vielen Jahren Diskussion hatte sich die Regelung einer einheitlichen, begrenzten Dienstzeit durchgesetzt, von britischen Kollegen, deren Dienstzeit damit endete, angefochten. Mit dem Argument, es gebe keine Arbeitsplatzsicherheit in Großbritannien. Gleiches galt auch z.B. für dänische Kollegen. Ergebnis: Die Dänen wurden verdonnert zu gehen, die britischen Kollegen und Kolleginnen konnten nach Intervention des britischen Inspektors bleiben.
Ähnliches Denken, dass die EU gefälligst für britische Probleme gerade zu stehen habe, nicht aber umgekehrt, lässt sich ja auch an den Brexit-Verhandlungen deutlich erkennen. Die „Empörung“ und die Forderungen auf Nachverhandlungen, die nun aus London auf die EU einprasseln, weil die sich nicht hat breitschlagen lassen, sind nach meiner Auffassung an Unverfrorenheit kaum zu überbieten.
Dies scheint vor allem dadurch motiviert zu sein, das lächerliche Schauspiel, welches das „Musterland der Demokratie“ seit dem Brexit-Referendum bietet, zu übertünchen.
Zunächst das höchst fragwürdige Referendum selbst, worauf Helmut Lindner zu Recht hinweist (auch wenn sein naturwissenschaftlicher Vergleich ziemlich hinkt).
Völlig unverständlich, warum keine Sicherheitsmaßnahmen gegen die vielfach um sich greifenden demagogischen Entgleisungen der Brexiteers ergriffen wurden. Etwa durch Einforderung grundsätzlicher Überlegungen zur Neugestaltung, vor allem der Nordirland-Frage. Wo sich doch jeder, der bis drei zählen kann, sich von Anfang ausrechnen konnte, dass sich diese Frage stellen würde. Nationalismus macht aber offenbar blind.
Dann zur Frage der rechtlichen Haltbarkeit dieses, nach meiner Ansicht pseudodemokratischen, Referendums.
Jede einigermaßen stabile Demokratie sieht für Umgestaltungen, welche Auswirkungen auf grundlegende Bereiche der Verfassung haben, qualifizierte Mehrheiten vor. Die BRD etwa nach Art.79, Abs.2 GG „eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats“.
Die mehrfach grundlegenden Veränderungen des Rechts- und Verwaltungssystems bei erfolgreichem Brexit (nicht bei deren Ablehnung) waren von Anfang an völlig klar. Die Reduzierung des Referendums auf die primitive Alternative „yes“ oder „no“ bei zwei in keiner Weise vergleichbaren Gegenpositionen hat mit seriöser, demokratischer Form von Mitbestimmung nun nichts mehr zu tun. Und das Ergebnis entlarvt einmal mehr die sich für jede Demagogie öffnende Forderung nach pseudodemokratischer „direkter Demokratie“.
Die gegenwärtigen Diskussionen auf der Insel erweisen meines Erachtens ein hohes Maß an Realitätsverlust. Wenn selbst eine Theresa May sich gegen eine mögliche Revision dieses unseligen Pseudoreferendums sträubt, so kann ich mir das nur aus der eingangs genannten verinnerlichten Haltung erklären, dass Briten eben niemals irren. Was aber mit „Unbeugsamkeit“ nicht viel zu tun hat.
Ob die EU gut beraten wäre, eine im selbstverschuldeten Chaos versinkende Insel ohne weiteres wieder mit offenen Armen zu empfangen, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Ich habe meine Zweifel daran. Schließlich gibt es genügend eigene interne Probleme zu lösen.
Die spinnen, die Briten und halten den EU-Betrieb auf. Ein einziges politisches Fiasko!
Ansonsten stimme ich Werner Engelmann gerne zu: Die Aspekte der „kolonialen Vergangenheit“.
Es bleiben nur noch die Trostpflaster: Monty Python, der englische Humor und das schöne Oxford-Englisch.
Wenn man an all die leidigen Brüsseler Verhandlungen wegen englischer Sonderwünsche zurückdenkt, kann man Herrn Engelmann nur hundertprozentig zustimmen. Seine persönlichen Erfahrungen ließen sich um unzählige weitere Beispiele ergänzen. Charles de Gaulle hatte eben doch recht mit seiner zögerlichen Haltung zu dem Punkt „England in der EU“. Für den Fortbestand und die Weiterentwicklung der EU bleibt nur zu hoffen, dass der „Brexit“ gelingt – egal auf welche Weise – und England aus der EU ausscheidet. Die europäische Idee hätte es verdient.
Selbst wenn unter Anspielung auf Obelix die Briten (und diesmal nicht die Römer) spinnen mögen, so sind sie dennoch nicht fähig, den gesellschaftlichen Zusammenhang in seiner quasi objektiven Natur auszuhebeln. Anstatt bis zum Überdruss die von Menschen gemachten Werte zu beschwören, täte es der Europäischen Union daher ganz gut, sich den Blick auf diese Unzulänglichkeit nicht verstellen zu lassen. Solch eine universale Grundlage böte zumindest die Möglichkeit für einen vernünftigen Umgang miteinander.
@Henning Flessner
Natürlich meinte ich das „Atmosphärische“, und nicht das Auszählen der Stimmen. Das beschränkt sich aber keinesfalls auf das Wetter! Gerade beim brexit – so habe ich das jedenfalls in Erinnerng – haben es viele, vor allem junge, Stimmberechtigte bereut, nicht zur Wahl gegangen zu sein, weil sie nie geglaubt hatten, dass sich die EU-Gener durchsetzen. Auch dürften in den Wochen zwischen den Abstimmungen rege Argumente ausgetauscht werden.
Nach drei Abstimmungen wäre das Ergebnis als Mittelwert wesentlich fundierter als nach einer einzigen. Also viel mehr als nur die Abhängigkeit vom Wetter!
@Helmut Lindner
Also gut. Wir machen drei Abstimmungen. Bei den beiden ersten gewinnt «Remain».
Daraufhin gehen viel «Remainer» bei dritten Mal nicht mehr zur Abstimmung, weil sie ja schon wissen, wie es ausgeht und «Exit» gewinnt knapp.
@Henning Flessner:
Dann wird ein Mittelwert aus den drei Abstimmungen gebildet, und wenn dann die EU-Gegner besser abschneiden, dann ist es eben so. Meine Intention war es nicht, die Briten auf biegen oder brechen in der EU zu halten, sondern eine breitere Basis für solch einen wichtigen Schritt zu bekommen.
Derartige Referenden (die ja noch nicht einmal rechtlich bindend sind) sollten eine Wahlteilnahme von 75% und 66% als Mehrheit einfordern. Ansonsten wedelt der Schwanz mit dem Hund. Eine britische Regierung, die augenscheinlich wissend auf einen harten Brexit zusteuert, sollte zu dem Entschluss kommen, dass der Rücktritt vom Austritt die bessere Alternative ist. Das würde nichts an der Tatsache ändern, dass die EU reformbedürftig ist. Aber eben dieses würde erleichtert.