Wissen Sie wirklich, was Sie für Ihre Enkel und Urenkel da anrichten, Frau May?

Das irre Stück mit dem schmissigen Namen „Ein Wahnsinn namens Brexit – Jetzt kommt’s drauf an!“ geht in die finale Runde. Die britische Premierministerin Theresa May hat in Brüssel mit EU-Unterhändler Michel Barnier zwei Papiere ausgehandelt: den Scheidungsvertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union und ein Perspektivpapier mit Absichtserklärungen zur künftigen Entwicklung. Der Scheidungsvertrag ist knapp 600 Seiten stark, das Perspektivpapier 28. Es war ein schmerzhafter, langwieriger Prozess, dessen Ergebnis den Briten eine Menge abverlangt. Da gibt es manche Kröte zu schlucken. Trotzdem ist die Premierministerin entschlossen, ihr Ergebnis durchzubringen. Sie muss auch. Ihre politische Zukunft hängt davon ab. Sie weiß: Ein für die Briten günstigeres Ergebnis wird sie der EU nicht abtrotzen.

Der Scheidungsvertrag enthält auf seinen rund 600 Seiten natürlich eine Menge von einzelnen Vereinbarungen. Die vier wichtigsten Einzelergebnisse betreffen grob zusammengefasst

  • die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland, die nach Mays politischem Willen unbedingt offen bleiben muss. Darum verbleibt nun das gesamte Vereinigte Königreich in der Zollunion, die es eigentlich verlassen wollte. Damit verbleibt es auch im Binnenmarkt und auch in der EU, allerdings ohne Mitspracherecht in Brüssel, ohne Beteiligung an der EU-Kommission und ohne Abgeordnete im EU-Parlament;
  • die Rechnung: Bis zum Austritt soll Großbritannien alle finanziellen Verpflichtungen mit der EU für den laufenden Haushaltsplan begleichen, für den UK-Beiträge eingeplant waren. Es geht schätzungsweise um mehr als 40 Milliarden Euro;
  • die Freizügigkeit. EU-Bürger, die auf der Insel leben, arbeiten oder studieren, wie auch für Briten auf dem Festland wird gewährleistet, d.h. diese Menschen können wie bisher ohne Einschränkungen zwischen UK und EU reisen;
  • die Neuordnung der Handelsbeziehungen, die bis Ende 2020 ausgehandelt werden soll. Dafür ist das Perspektivpapier wichtig, das jedoch lediglich Absichtserklärungen enthält. Ob es in diesem Zeitraum zu einem wie auch immer gearteten Vertrag kommt, möglicherweise einer Assoziation wie im Fall Norwegens, steht jedoch in den Sternen. Es kann daher sein, dass das Vereinigte Königreich, wenn es keine Einigung gibt, auch über 2020 hinaus im Binnenmarkt bleibt.

Zwei Streitpunkte gibt es, die bis einschließlich Samstagabend noch verhandelt werden müssen: die Frage, ob EU-Fangflotten weiterhin in den Gewässern der Insel fischen dürfen, und die Frage, wie das Verhältnis von Spanien zu Gibraltar geregelt werden wird. Spanien hat sein Veto zum Scheidungsvertrag für den Fall angekündigt, dass es in der verbleibenden Zeit nicht zu einer Einigung kommt. Damit würde es den Vertrag zu Fall bringen. Das Land kann ihm jedoch verständlicherweise ohne Klärung des Sonderstatus von Gibraltar nicht zustimmen.

MayBis auf diese beiden derzeit noch offenen Punkte hat sich die EU also weitgehend durchgesetzt. Vorausgesetzt, der Vertrag wird auf dem EU-Gipfel am kommenden Sonntag von allen 27 verbleibenden EU-Staats- und Regierungschefs unterzeichnet, liegt der Ball damit allein bei Theresa May. Ihr Kabinett hat dem Vertrag schon zugestimmt, aber ob sie ihn auch durchs Parlament bringt? Zurzeit ist das mehr als ungewiss. Die „Brexiteers“, also die Brexit-Hardliner, die ohne lieber einen harten Brexit, einen ohne Vertrag, gehabt hätten, laufen Sturm gegen die Vereinbarungen. 48 Stimmen werden gebraucht, um im Unterhaus ein Misstrauensvotum gegen May anzustrengen. Es sind Mays eigene Parteifreunde, die sie entmachten und damit den Scheidungsvertrag zu Fall bringen wollen. Und May, die einer Minderheitsregierung vorsteht, kann sich diesmal nicht auf die Duldung durch die Unionisten aus Nordirland verlassen, die ihre Regierung sonst stützen. Wie soll sie unter solchen Bedingungen eine Mehrheit bekommen?

Sie will kämpfen, und sie muss kämpfen. Sie und die Befürworter des Brexitvertrages werden versuchen, Abweichler in der Fraktion der Konservativen weich zu klopfen und Stimmen der Opposition zu gewinnen. Doch auch die ist sich nicht einig. Oppositionsführer Jeremy Corbin sieht wohl irgendwo am Horizont eine Hoffnung für Neuwahlen, die seiner Labour-Partei möglicherweise einen Sieg eintragen würden. Also wird er versuchen, seine Labour-Fraktion zusammenzuhalten.

Eine Niederlage bei der entscheidenden Abstimmung wäre wahrscheinlich Mays politisches Ende, auch ohne Misstrauensvotum. Und was dann? Doch ein harter Brexit? Oder doch noch mal ein Referendum? Je länger die Briten sich mit dem auseinandersetzen, was die Zukunft für sie bereit hält, desto größer scheint ihre Zustimmung zum Verbleib in der EU zu werden. Verschiedene Umfragen sagen zwischen 51 und 59 Prozent gegen den Brexit voraus, sollte es zum jetzigen Zeitpunkt zu einem neuen Referendum kommen. Derweil ist der Brexit bereits zum Brexodus geworden.

Wie auch immer es weitergeht: Die Idee des einstigen Premierministers David Cameron für ein Brexit-Referendum kann man nur als riesengroße politische Dummheit bezeichnen. Möge der Rest der EU daraus lernen!

Balken 4Leserbriefe

Karl-Wolfgang Kaiser aus Frankfurt meint:

„Sehr geehrte Frau May, es ist erschütternd, wie Sie sich als Politikerin entgegen aller Vernunft für eine Trennung Großbritanniens von der EU einsetzen. Das Referendum, auf das sich die Regierung stützt, ist das Ergebnis einer völlig nebulösen Kampagne Ihres Vorgängers, in der die Normalbürger keinen Durchblick über die Folgen des Austrittes bekommen konnten. Offensichtlich haben auch die Politiker keine klare Vorstellung gehabt, sonst hätte Herr Cameron nicht erst das Referendum angestoßen, um dann dagegen zu Felde zu ziehen. Auch Sie haben sich vorher gegen den Austritt geäußert, um heute mit unnachahmlicher Sturheit dieses Projekt durchzupeitschen.
Wenn bei einer so fundamentalen Frage wie dem Referendum zwar 72,2 Prozent Wahlbeteiligung erreicht wurden, aber nur 51,9 Prozent für den Austritt gestimmt haben, war eine große Mehrheit vom 62,5 Prozent gegen einen Austritt, also fast zwei Drittel der Wahlberechtigten.
Woher nehmen Sie und Ihre Parteigänger das Recht, den Willen der Bevölkerung so zu übergehen? Sind Sie sich darüber im Klaren, was Sie für Ihre Enkel und Urenkel da anrichten? Nur in einem vereinten Europa können unsere Nachkommen eine Zukunft haben. Dieses Verhalten hat mit Demokratie wirklich nichts mehr zu tun. Sie und all die anderen Abgeordneten sind als Volksvertreter gewählt worden, damit sie die Interessen der Bevölkerung wahrnehmen und nicht die Eigeninteressen.
Im englischen Wahlrecht, einem reinen Mehrheitswahlrecht, wird sowieso nicht sehr nach den Regeln der Demokratie gehandelt, wenn im schlimmsten Fall 49,9 Prozent der Stimmen unter den Tisch fallen, ist hier dringender Reformbedarf.
In einem neuen Referendum über die bisherigen Ergebnisse sollte folgendes gelten:
1. Wahlrecht ist Wahlpflicht, es gibt kaum einen Grund, nicht zur Abstimmung zu gehen.
2. Wenn nicht mindestens drei Viertel der Wahlberechtigt dem Ergebnis zustimmen, bleibt es bei der Mitgliedschaft von Großbritannien in der EU, sonst ist es kein Volksentscheid.
3. Alle Stimmenthaltungen sind als Ablehnung zu werten, da in so kurzer Zeit niemand in der Lage ist, 500 Seiten juristischer Texte mit allen Fallstricken zu verstehen.“

Andreas Schulz aus Erkrath:

„Ein Trauerspiel: Ältere Menschen entscheiden über einen Brexit und beeinträchtigen so die Zukunftschancen vieler jüngerer Menschen. Was würde eigentlich passieren, wenn Menschen aus Nordirland in die Republik Irland ziehen. Oder Schotten. Werden sie zurück geschickt? Werden sie eingebürgert und bleiben dann Bürger und Bürgerinnen der EU? Gibt es dann EU-Migranten? Bestens ausgebildet.“

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30 Kommentare zu “Wissen Sie wirklich, was Sie für Ihre Enkel und Urenkel da anrichten, Frau May?

  1. Der Brexit macht in meinen Augen ökonomisch keinen Sinn – weder für die EU noch für GB. Allerdings müsste sich selbst nach einem zweiten Referendum, das den Brexit wieder rückgängig macht, etwas ändern. Der Ausgang des ersten Referendums hatte ja durchaus Gründe, die keineswegs aus der Welt wären, wenn GB bei der EU bleibt. Ich meine damit die soziale Frage. Die EU mag gut für den Handel sein, doch der dadurch erwirtschaftete Wohlstand geht an viel zu vielen vorbei.

    Ich wünsche den Briten nichts Schlechtes, aber vielleicht ist es für die Rest-EU gut, wenn den Menschen nach einem harten Brexit vorgeführt wird, wohin die „einfachen Antworten“ der Populisten führen.

  2. Anlässlich des von der „Süddeutschen Zeitung“ in Berlin vor wenigen Tagen veranstalteten Wirtschaftsgipfels rief der EU-Kommissionspräsident am Schluss seiner Rede aus: „Das Soziale ist kein Beiwerk, es gehört ins Herz der europäischen Einigung!“. Herr Juncker räumt damit implizit ein, dass in der bislang bestehenden Gestalt der Europäischen Union das Soziale nur am Rande vorkommt, obwohl es für die weitere Integration zentral ist. Solange der sich darin äußernde Widerspruch nicht aufgelöst ist, stellt sich schon die Frage, wozu ein Staat Mitglied in der Union sein soll, wenn ohnehin bloß ein kafkaesker Status des Nicht-Drinnen und gleichzeitigen Nicht-Draußen möglich ist. Vielleicht war es deshalb gar nicht so dumm von Briten, die Situation zu klären, indem inzwischen ausführlich die Modalitäten eines eventuellen Austritts diskutiert werden.

  3. Ja, möge der Rest der EU daraus lernen (Intro Bronski)!
    Und welch eine Arbeit und Zeit der Brexit der EU kostet und gekostet hat! Arbeit und Zeit, die gerade für den Zusammenhalt und die Zukunft Europas dringend gebraucht werden.
    May-oh-May!

  4. Meine Begeisterung für Volksabstimmungen hält sich sowieso in Grenzen. Auch manche Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene richten oft nur Schaden an.

    Aber noch zum Brexit, ob harte oder weiche Version: Wenn es jemals wieder zu Unruhen in Nordirland kommen sollen und das in Verbindung wieder aufflammender Probleme zwischen Katholiken und Protestanten mit der Grenzfrage zwischen Rebublik Irland und dem Norden, dann lastet eine Riesenschuld auf den Schultern der Pro-Brexit-Abstimmer. Mal ganz abgesehen davon, dass die junge Generation mit dieser Entwicklung gestraft wird.

    Man kann über den Sitz der bekannten großen Konzerne in Dublin (siehe Steuersparplatz) streiten. Aber eines ist so gewiss wie das Amen in der Kirche: Diese Stadt ist mit die europäischste Stadt, die ich bislang erlebt habe. In diesem Zusammenhang ist der Brexit ein Anachronismus sondergleichen, selbst wenn der Name Britanniens zur Zollunion erklärt wird.

    Insofern kann ich die eifrige Theresa May auch nicht in Schutz nehmen, weil ihr Handeln mehr auf ihr politisches Überleben ausgerichtet ist, als das noch eine Überzeugung zu erkennen ist.

    Zur Mehrbelastung der EU habe ich mich bereits geäußert. Da gibt es politisch nichts zu entschuldigen.

  5. @Henning Flessner
    Die direkte Demokratie muss natürlich erst geübt werden, in der Schweiz klappt das wunderbar – und das seit 1848. In den meisten westlichen Ländern sind Referenden dagegen nicht vorgesehen. Wenn das Volk lernt, dass es die Folgen der eigenen Abstimmung tragen muss, werden die Entscheidungen gewiss nicht so radikal ausfallen. Die repräsentative Demokratie ist ja bekanntlich kein Garant für Vernunft, wie man in Italien oder in den USA sieht.

  6. @ Henning Flessner

    Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Frau May war gegen den Brexit und versucht nun verzweifelt, zu retten, was zu retten ist. Die Schuld tragen Johnson und Farage, die das Volk mit Lügen an der Nase herumgeführt haben. Und natürlich die Remainers unter den Politikern, die den Wählern die Folgen eines Brexit nicht deutlich genug vor Augen geführt haben. Nicht zu vergessen auch die verpennten jungen Leute, die nicht an der Abstimmung teilgenommen haben.

  7. @Michael Schöfer
    Ich habe mir die direkte Demokratie in der Schweiz 20 Jahre aus der Nähe angeschaut und sie hat mich nicht überzeugt. Ohne die direkte Demokratie wäre die rechtspopulistische SVP wohl kaum zur stärksten Partei der Schweiz geworden. Die direkte Demokratie erlaubt den Populisten mit Hilfe der Volksinitiative permanenten Wahlkampf zu führen. Mit Hilfe der Volksabstimmungen wurde das Schächten (erste Volksinitiative überhaupt) und der Bau von Minaretten verboten, sowie das Frauenwahlrecht lange (bis 1971) verhindert.
    Heutzutage sind politische Vorhaben oft sehr komplexe Gebilde. Für eine Volksabstimmung müssen sie auf eine Ja/Nein-Frage vereinfacht werden. Vereinfachung ist ein Charakteristikum von Populisten.
    Die direkte Demokratie wird häufig missverstanden als Diktatur der Mehrheit.
    Sie hat dazu geführt, dass viele Schweizer die Volksabstimmung als oberster Instanz ansehen. In unserem Dorf herrschte Unverständnis darüber, dass ein Gericht anders entschied als die Volksabstimmung in der Gemeinde.
    Wenn man der Meinung ist, dass seine Grundrechte durch eine Volksabstimmung verletzt sind, hat man keine Möglichkeit dagegen in der Schweiz vorzugehen. Ein Verfassungsgericht hat die Schweiz nicht. Es bleibt einem nur der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (hat nichts mit der EU zu tun). Dies ist den Populisten ein Dorn im Auge und deshalb gibt es heute eine Volksabstimmung darüber, ob die Schweiz künftig nicht-schweizerische Urteile noch akzeptieren will. Bei Annahme würde dies bedeuten, dass die Schweiz neben Weißrussland der zweite Staat in Europa ist der die Europäischen Menschenrechtskonvention nicht akzeptiert. Umfragen erwarten immerhin eine Zustimmung von 40%.
    Natürlich ist die repräsentative Demokratie auch nicht das Ideale, aber man kann die Regierung nach einigen Jahren abwählen und die neue Regierung ändert die Gesetze wieder. Wie schwierig es dagegen ist, eine Volksabstimmung zu ändern, sehen wir ja gerade in GB.

  8. In ihrem „letter to the nation“ hebt Frau May hervor, dass das mit der EU ausgehandelte Abkommen „works for our whole country and all of our people, whether you voted ‚Leave‘ or ‚Remain'“. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich demnach darauf, die ohnehin bloß inszenierte, weil real niemals mögliche Spaltung des Vereinigten Königreichs endlich hinter sich zu lassen. Grundlage für die soziale Einheit des Landes soll das nunmehr vorliegende Vertragswerk sein, das allseitig die Wünsche befriedigt. Sollte das Unterhaus in seiner im Dezember anstehenden Abstimmung den so genannten „Deal“ abweisen, müsste den Abgeordneten deshalb noch eine sehr gute Begründung einfallen. Darauf darf man gespannt sein, was die Kritiker dann in Anschlag bringen.

  9. @Henning Flessner
    Ich gebe Ihnen recht, die Demokratie darf nicht zur Diktatur der Mehrheit mutieren (ihr eigentlicher Sinn ist der Minderheitenschutz), deshalb halte ich ja auch die Ewigkeitsgarantie für die Grundrechteartikel des GG so wichtig. Das darf natürlich selbst durch ein Referendum nicht geändert werden.

    Ich bin der Auffassung, dass jedes Volk potenziell verführbar ist, davor schützt auch die repräsentative Demokratie nicht. In der repr. Demokr. gibt es jedoch das Problem, das mit „die machen eh, was sie wollen“ gut umschrieben ist. So pauschal stimmt das zwar nicht, aber es trifft den Nagel leider allzu oft auf den Kopf. Elemente der direkten Demokratie hätten hier eine korrigierende Wirkung. Und wenn die Menschen merken, dass sie einerseits wirklich etwas selbst entscheiden können, aber andererseits bei unklugem Abstimmungsverhalten die Suppe, die sie sich selbst eingebrockt haben, auch auslöffeln müssen, hat das einen disziplinierende Effekt. Die Schweiz ist jedenfalls bislang nicht untergegangen. Dort gibt es Referenden, da sträuben sich mir die Haare, aber andere halte ich durchaus für sinnvoll. Wie im richtigen Leben halt. Kein System ist ohne Nachteile.

  10. Wenn man für den Vorgang schon einen saloppen Ausdruck wählen will, dann wäre anstelle von „Die EU lässt Großbritannien ziehen“ die Formulierung „Großbritannien macht sich aus dem Staube“ schon angemessener gewesen. Denn Reisende muss man bekanntlich immer ziehen lassen, wenn man klug ist, und ihnen nicht nachlaufen! Europa sagt „Good bye“ hätte es deshalb korrekter heißen müssen: Die EU billigt den Brexitvertrag, aber mit völligem Unverständnis für die Motive des UK.
    Es ist zwar historisch richtig, dass das UK an imperialen Halluzinationen leidet. Aber dies ist nicht das einzige Motiv für den Brexit. Vielmehr ist das UK gegenüber wichtigen Exportländern des Kontinents in der Ausdeutung des modernen Wettbewerbsprinzips unterlegen. England hängt einem völlig überkommenen Handelskonzept von Marktwirtschaft und moderner Geldwirtschaft an. England machte sich lustig , dass auf dem Kontinent noch weiter Wertschöpfung à la source, also echt vor Ort, in Waren-und Güterproduktion betrieben wird. Rolls Royce gehört aber heute zu BMW, Bentley zu Volkswagen usw. Mit dem Austritt aus der EU gesteht Großbritannien ein, von moderner, sophistischer oder auch von digitaler Modernität wie etwa in Estland, also von moderner Wertschöpfung nichts zu verstehen. Der Finanzplatz London allein kann dieses Manko nicht wettmachen. Somit hat in Wirklichkeit das UK vor der eigenen Bevölkerung einen Offenbarungseid geleistet.
    Es ist ein Ärgernis, wenn im Zusammenhang mit dem Ausscheiden des UK aus der EU immer wieder der Trumpsche Begriff „Deal“ gebraucht wird. Wir befinden uns in diesem Kontext doch nicht auf einem Pferde- oder Viehmarkt! Wesentliche Kräfte im UK, die den Brexit betreiben, übersehen die rechtlichen Implikationen des von David Cameron völlig unbedacht vom Zaun gebrochenen, britischen, Vorgehens. Es ist doch das UK, das Kontinentaleuropa die kalte Schulter zeigt und nicht etwa umgekehrt.
    Eine ganz andere Frage ist und bleibt es, ob der Brexit im Kontext von auf die Zukunft gerichteter Frühwarnung und Früherkennung als ein Symptom der generell auseinanderdriftenden Teile Kontinentaleuropas aufzufassen ist? Das könnte so sein, muss aber nicht. Wenn es gelingt , einen engeren Zirkel der wirklich integrationsbereiten EU-Mitglieder zu schaffen, wird dies auf die Zauderer unter den EU-Mitgliedern Auswirkungen haben. Allerdings sind vorläufig – nach dem Brexit – große Integrationsschritte, wie sie Emmanuel Macron zumindest rhetorisch vorschweben, kaum zu erwarten. Europa wird weiterhin in Trippelschritten wachsen.

  11. Falls die vielen Zuschreibungen falsch sind, dass die Briten mehrheitlich nicht auf der Höhe der Zeit sind, übt die Umdeutung der Wirklichkeit seit längerem einen Zwang auf sie aus, aus der Europäischen Union auszutreten. Das Referendum vor zwei Jahren war insofern die Antwort der Bevölkerung auf die Frage der Regierung, ob man sich der unzulässigen Gewalt entziehen soll. So betrachtet, ist die Entscheidung der Briten durchaus nachvollziehbar. Hätten die anderen 27 Mitgliedsstaaten der EU den bedrängten Briten im Vorfeld in der Weise geholfen, die gegen die vitalen Interessen der Union gerichtete, aber nicht nur in Europa weithin verbreitete Praxis zu unterbinden, hätte sich die Situation längst nicht so zugespitzt. Ein baldiges Verlassen der EU wäre dann nicht unausweichlich gewesen.

  12. @ Jutta

    Können Sie bitte konkret erläutern, welche „unzulässige Gewalt“ die EU auf die Briten ausgeübt hat und was Sie unter „Umdeutung der Wirklichkeit“ verstehen?

  13. @ Jutta

    Ist die EU GB nicht wiederholt weit entgegengekommen? Weiter als jedem anderen Land der Gemeinschaft?

  14. @ JaM, Brigitte Ernst
    Davon auszugehen, dass die Briten nicht bei Sinnen waren, als sie mehrheitlich für „Leave“ anstatt für „Remain“ stimmten, scheint nicht besonders plausibel zu sein. Zudem war die Abstimmung frei und geheim. Über die Gründe des Entscheids kann deshalb ohnehin bloß spekuliert werden. Sich wenigstens heute um eine rationale Erklärung zu bemühen, kann insofern nicht abwegig sein.

  15. @ Jutta

    „Über die Gründe des Entscheids kann deshalb ohnehin bloß spekuliert werden. Sich wenigstens heute um eine rationale Erklärung zu bemühen, kann insofern nicht abwegig sein.“ Dem widerspreche ich nicht. Damit beantworten Sie aber nicht meine ernst gemeinte Frage, was sie damit meinen, die EU hätte „unzulässige Gewalt“ auf die Briten ausgeübt, und wer welche „Umdeutung der Wirklichkeit“ unternommen hat.

  16. @JaM
    Es geht um die vielen Zuschreibungen wie etwa denen von Sigurd Schmidt hier im Blog und der Rede von „imperialen Halluzinationen“ oder der Behauptung „England machte sich lustig“, die womöglich falsch sind. Treten solche durch nichts belegten Umdeutungen der Wirklichkeit in Massen auf, üben sie unzulässig Gewalt aus. Dass die Briten sich dem entziehen möchten, ist angesichts dessen nicht verwerflich. Nicht die EU als Institution verhält sich also gewalttätig, wie Sie unterstellen, sondern die auf diese Weise mit Macht beförderten Verhältnisse strangulieren dort die Gesellschaft.

  17. Nochmal: Wer nicht irgendwie weiß, welche Risiken mit der Grenzfrage (die nach der Einigung offen bleiben würde) zwischen Irland und Nordirland (resp. Katholiken und Protestanten [Derry, Belfast]) beim Brexit verbunden sind, kann England für dieses Manöver nicht einfach die Absolution erteilen.

  18. @ Jutta

    Es tut mir leid, ich habe Ihre verklausulierten Ausführungen immer noch nicht verstanden. Welche konkreten Verhältnisse strangulieren Ihrer Ansicht nach inwiefern die britische Gesellschaft?

  19. @ Brigitte Ernst
    Sollten Sie in dem, was von mir geschrieben wird, eine Nähe zu UKIP erkennen, täten sie mir bereits Gewalt an. Genauso sind Briten darin frei, für „Leave“ zu stimmen. Nach der Abstimmung ihnen etwa „imperiale Halluzinationen“ vorzuwerfen, missachtet ausgerechnet gegenüber dem Mutterland der Demokratie den demokratischen Grundsatz, dass das Referendum geheim war und deshalb keiner die Gründe der Entscheidung wissen kann. Es gibt also genug Anlässe, rasch aus der EU auszutreten. Vor allem auch deswegen, weil keines der anderen 27 Mitgliedsländer dem Vereinigten Königreich dabei behilflich war, die fortgesetzten Angriffe auf deren souveräne Willensbildung abzuwehren. Ob das Verlassen der EU eine angemessene Form ist, sich der unzulässig verübten Gewalt zu entziehen, ist sicher fraglich. Womöglich wählten die Briten den falschen Weg.

  20. Wer hat denn je seit den römischen Kohorten Gewalt gegen Engländer in England ausgeübt. Eher hat seitdem doch wohl die „Royal Army“ in anderen Teilen der Welt Gewalt ausgeübt.
    Politische Auseinandersetzung mit Ausübung von Gewalt gleichzusetzen, erscheint haarsträubend.
    Eher könnte der permanente britische Wunsch nachExtrawürsten in der EU als „Gewaltausübung“ karikiert werden. Der größte Vorteil des Brexit ist: man braucht England nicht der EU zu verweisen. Es geht (hoffentlich) von allein.
    Dies ist eine inständige Bitte.

  21. @ Helmut Wielpütz

    „Wer hat denn je seit den römischen Kohorten Gewalt gegen Engländer in England ausgeübt.“
    Zum Beispiel Deutschland mit seinen Bombardierungen von London und Coventry in der Luftschlacht um England 1940/41, von den Engländern „The Blitz“ genannt.

  22. Seltsam, dass hier im FR-Blog noch darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass das Kapitalverhältnis ein Gewaltverhältnis ist. Nach Möglichkeiten zu suchen, sich der Rücksichtslosigkeit des Kapitals gegen Gesundheit und Lebensdauer zu entziehen, ist keinesfalls „haarsträubend“, sondern dient einfach dazu, den auf diese Weise ausgeübten Druck der Gesellschaft zu überleben. Den Briten zu unterstellen, irrational zu handeln, weil sie nach Auswegen Ausschau halten, bedarf deshalb eher der Erklärung und Begründung.

  23. @ Jutta:

    Ausgerechnet das Kernland des „angelsächsischen Kapitalismus“, mit neoliberaler Deregulierung bis zum Exzess, horrenden Mieten, desolaten sozialen Verhältnissen in vielen Städten im Zuge des Privatisierungwahns, seit 2000 durchgehend steigender Staatsverschuldung, Verweigerer jeglicher Transaktionssteuer, das sich hauptsächlich durch Finanzspekulationen der City of London aufrecht erhält – ausgerechnet das sollte sich „der Rücksichtslosigkeit des Kapitals gegen Gesundheit und Lebensdauer (…) entziehen“ wollen?
    Und dabei soll ausgerechnet der Brexit helfen? –
    Das bedürfte doch wohl einer differenzierten Erklärung!

  24. Ob die Torries oder die Labours am Ruder waren, England war doch in den letzten Jahrzehnten voll auf neoliberalem Trip, einschließlich verheerender Privatisierungsstrukturen in öffentlichen Sektoren. Dazu kam u.a. in der Ära Blair/Schröder New Labour usw.
    Will sagen: UK stand unter keiner Knute der EU, sondern machte schon lange auf sich aufmerksam, eine Extrawurst braten zu wollen. Vielleicht auch besonders wegen des Finanzsektors London – weiß ich nicht?
    Es ist doch vollkommen sinnlos, den Briten auch noch eine Befreiung aus der „Knechtschaft des Kapitalismus“ anzudichten. Herausgekommen ist doch durch den Brexit nur ein heilloses politisches Durcheinander, die Ausgrabung alter Grenz-Konflikte sowie der Verrat an den jüngeren Generationen. Für die ist doch dieses Theater eine Erblast, die sie schwerlich abtragen werden können.
    Nach 1984 (dem großen Bergarbeiterstreik) das nächste Desaster auf der Insel.

  25. Brigitte E.
    Der Bombenterror des 2.Weltkriegs war natürlich eine schlimme Form von Gewaltausübung. Danke für den Hinweis.
    Nach all den hier vorgetragenen Punkten bin ich in meiner Auffassung bestärkt worden, dass es auf Dauer besser für die EU wäre, wenn England nicht mehr Mitglied ist. Mich beschleicht allerdings immer mehr das Gefühl, die Engländer könnten im letzten Moment einen Rückzug vom „Brexit“ machen.

  26. Sehe es ähnlich wie Herr Engelmann und Herr Malyssek. Hinzufügen möchte ich noch, dass auch bei Teilen der Bevölkerung der Nationalismus keine geringe Rolle gespielt hat. Das Bedürfnis sich abzuschotten gegen den Zuzug der Nationalitäten, die sich nicht aus den Zeiten des Kolonialismus ergeben, bzw. die aus dieser Zeit resultierende Zugehörigkeit zu Grossbritannien.
    Kann mich an Beiträge auf Arte erinnern, wie sich das Klima nach dem Ja zum Brexit z.b. gegenüber den aus Polen stammenden Mitbürgern verändert hat und nicht zum Positiven.

    Vielleicht wäre den Briten anzuraten, sich aus Snobismus und Dünkel zu befreien und nicht wie „Jutta“ meint, aus der Importierung der Knechtschaft des Kapitals.

    Ihr Herrschaftsgebiet auszuweiten war für Britannien zu Kolonialzeiten eine „Selbstverständlichkeit“.
    Umgekehrt durch den Zuzug aus europäischen Ländern und die Zugehörigkeit zu Europa, ist plötzlich die Eigenheit und Eigenständigkeit bedroht. Ein Denken, dass sich hauptsächlich um sich selbst dreht, wobei dieses Selbst den Umgang mit den Ureinwohnern sowohl Australiens als auch Neuseelands völlig ausblendet.
    Vielleicht ist es aber auch das tiefsitzende Trauma aus grauen Vorzeiten, als die Römer dort eingefallen sind? Davor die Sachsen, die Pikten und diverse andere, oder war’s danach? Zu lange her!

  27. @ Werner Engelmann, Anna Hartl, Jürgen Malyssek
    Anstatt der wahlberechtigten Bevölkerung des Vereinigten Königreichs zuzuschreiben, womöglich völlig den Verstand verloren zu haben, ist es legitim, davon auszugehen, dass dort die Zeichen der Zeit erkannt worden sind. Das heißt: Anstalten zu unternehmen, die über die gegenwärtige Situation mit all ihren Einschränkungen hinausgehen. Ob das gelingt, ist sicherlich eine offene Frage.

  28. @ Anna Hartl

    Bei den Punkten: zunehmender Nationalismus, Abschottung (etwa gegenüber den Polen-stämmigen), Herrschaftsdenken und Snobismus stimme ich Ihnen zu.
    Obwohl ich in symbolischer Hinsicht („guten“)Königshäusern gegenüber eher positiv gestimmt bin, wäre doch noch die Frage, welche Bedeutung „The Kingdom“ für die Mentalität der britischen Bevölkerung spielt? Stolz? Arroganz? Herrschaftsdenken? Oder?

  29. Ich möchte darum bitten, sich vor Verallgemeinerungen zu hüten. Fast die Hälfte derjenigen Briten, die sich an der Volksabstimmung beteiligt haben, waren für den Verbleib in der EU. Und bei einer Wiederholung des Plebiszits wären es wahrscheinlich noch mehr. Genauso wenig, wie es „den“ Islam gibt, gibt es „die“ Briten.

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