Manche Mitmenschen werden sich wundern, wenn ich jetzt den Fokus auf ein Thema lege, das viele von Ihnen in Zeiten des Kriegs in der Ukraine nicht auf dem Radar haben. Doch auch bei uns, im angeblich so zufriedenen und reichen Deutschland, leiden Menschen. Und zwar unter der Kirche. Genauer gesagt: der katholischen Kirche. Diesem Thema ist mein aktueller Blogtalk gewidmet:
Queer-Sein in der katholischen Kirche
Gott liebt jeden Menschen – aber die Amtskirche definiert, unter welchen Bedingungen Gott das tut. An der Basis sieht es vielfach anders aus: Dort wird oft Toleranz gelebt. Oder? Nun, es war nicht die Kirche, die das gesellschaftliche Umdenken in puncto „Ehe für alle“ getragen hat. Ist diese Liberalität inzwischen in der katholischen Kirche angekommen? (Nur nebenbei: Zur „Ehe für alle“ habe ich 2017 einen Leitartikel zur FR beigesteuert.)
Wolfgang F. Rothe, ein geweihter katholischer Priester, der zurzeit in München als Seelsorger tätig ist, hat ein Buch herausgebracht, über das ich gern mit ihm sprechen möchte: „Gewollt. Geliebt. Gesegnet. Queer-Sein in der katholischen Kirche“. Es ist 2022 im Herder-Verlag Freiburg erschienen und versammelt zahlreiche Stimmen von Betroffenen, die von sich und ihrer Kirche erzählen: von ihrem Coming-Out, vom schwierigen Weg dorthin, von den Reaktionen. Manchmal von erschütternden Erlebnissen der Ausgrenzung, aber auch der Abnabelung, und manchmal von Erlebnissen des Aufgefangen-Werdens.
Die katholische Kirche in Deutschland befindet sich derzeit in einer schwierigen Situation, denn ihre Basis fordert immer lauter mehr Mitbestimmung. In der öffentlichen Wahrnehmung kreiste diese Auseinandersetzung, die sich in der Basisbewegung „Synodaler Weg“ manifestiert hat, vorwiegend um die Frauenordination: Warum ist es in der katholischen Kirche weiterhin nicht möglich, Frauen das Sakrament der Priesterinnenweihe zu geben? Hinter diesem Großthema liefen andere Themen „unter dem Radar“, wie wir Medienleute das nennen. Denn Frauen sind in diesem Land keine Minderheit. Homosexuelle und Trans-Menschen hingegen sind dies sehr wohl, queere Menschen generell.
Wie geht die katholische Kirche mit diesen Menschen um? Die Liberalität, die Gerechtigkeit einer Gesellschaft bemisst sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den Schwächsten umspringt. Dazu zählen auch jene Minderheiten, die sexuell anders orientiert sind als die Mehrheit und die darum über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren haben. Wie steht es in der katholischen Kirche unserer Tage um dieses Thema? Geht es homosexuellen Menschen und Trans-Menschen heute wirklich besser in ihrer Kirche also noch vor 20 oder 30 Jahren? Hat die Kirche sich bewegt?
Cover: © Verlag Herder GmbH
Wolfgang F. Rothe und ich, wir haben also viel Gesprächsstoff. Er ist Doktor der Theologie und des Kirchenrechts, engagiert sich aktiv gegen die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen in der katholischen Kirche und wird sicher im Lauf unseres Blogtalks noch mehr von sich erzählen. Und davon, wie sein Buch zustande gekommen ist, das ich vorstellen möchte.
Die Transparenz gebietet es, dass ich kurz auch etwas zu mir sage, bevor wir loslegen. Sie kennen mich als „Bronski“, ich organisiere für Sie das FR-Forum und dieses Blog. Mein „bürgerlicher“ Name ist Lutz Büge, und neben meinem Hauptberuf als Redakteur der FR habe ich noch weitere Interessen: Radfahren, Frankreich, Astronomie – und natürlich mein Schreiben, das überhaupt das Wichtigste für mich ist.
Foto: Peter Jülich
Der Spitzname „Bronski“ begleitet mich seit den 80er Jahren, weil ich als Discjockey gern Bronski Beat aufgelegt habe.
Mein neuer Roman erscheint im April. Hier links ist ein Cover-Entwurf abgebildet. Urheber des Entwurfs ist Maron Kussmaul vom Designwerk Kussmaul. Wer mehr über den Roman erfahren möchte, klicke bitte hier zu meiner Autoren-Webseite. Nur ganz kurz: Hauptfiguren der Geschichte sind drei schwule Männer und eine taffe Kopftuchträgerin. Und es geht um große Themen wie Leben, Schöpfung und „Warum gibt es überhaupt Heteros?“
Cover: Sparkys Edition
Designwerk Kussmaul
Bei Blogtalks im FR-Blog gilt diesmal wie sonst auch: Jeder kann mitreden und Fragen stellen. Ich als Gesprächsleiter nehme mir aber das Privileg heraus, Ihre Fragen zu ordnen, eventuell zurückzustellen und zu einem späteren Zeitpunkt einzuflechten, wenn sie mir besser in den Gesprächsfluss zu passen scheinen.
Es geht los am 27. Februar 2023 gegen 9.30 Uhr. Zu dieser Uhrzeit wird der Thread eröffnet, indem die Kommentarfunktion freigegeben wird, die bis dahin geschlossen bleibt.
Ich freue mich auf den Talk mit Wolfgang F. Rothe und hoffe auf rege Beteiligung Ihrerseits.
Ihr
Lutz „Bronski“ Büge
Guten Morgen, Herr Rothe. Zunächst einmal vielen Dank dafür, dass Sie zu diesem Blogtalk bereit sind.
Nur damit sich niemand wundert: Blogtalks sind langsam. Es geht nicht Schlag auf Schlag, sondern es werden Pausen entstehen, allein schon deswegen, weil Sie und ich ja auch noch arbeiten müssen. Ich beschäftige mich mit den Zuschriften der Leserinnen und Leser, die über das Wochenende hereingekommen sind, und produziere eine Zeitungsseite Forum, während wir hier sprechen. Worin besteht heute Ihr Arbeitstag?
Guten Morgen, lieber Herr Büge, aber zu danken habe ich, dass Sie sich des Themas annehmen. Um 10:00 Uhr beginnt die wöchentliche Besprechung unseres Seelsorgeteams. Aber bis dahin habe ich noch etwas Zeit.
Sie haben das Buch „Gewollt, Geliebt. Gesegnet.“ herausgegeben, in dem Sie Stimmen von katholischen Menschen versammeln, die „aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung nicht so leben, wie es ihnen die Kirche glaubt vorschreiben zu können“. So heißt es im Klappentext des Buches. Was genau hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu machen?
PS_ Die Halb-Zehn-Uhr-Konferenz ging länger als üblich; daher haben wir uns vorhin verpasst. Aber nun bin ich am Rechner.
Das Buch hat ein Vorbild: Im Frühjahr 2021 veröffentlichte die Benediktinerin Philippa Rath ein Buch, in dem Frauen über ihre Berufung zur katholischen (!) Priesterin (!) berichteten. Da dachte ich mir: Diese Frauen sind nicht die einzigen, die in der katholischen Kirche ihre Berufung nicht leben können. Was ist zum Beispiel mit Frauen, die sich zur Ehe mit einer Frau berufen fühlen? Oder mit schwulen Männern, die sich zum katholischen Priester berufen fühlen? Ihnen und allen queren Menschen, die in der katholischen Kirche marginalisiert werden, wollte ich eine Stimme geben.
Da fällt bereits ein Wort, über das ich in Ihrem Vorwort zum Buch gestolpert bin: Berufung. Ich würde ja eigentlich gern zuerst Ihr Buch ein wenig näher vorstellen, aber vielleicht kommen wir auch auf diesem Weg näher ran. Berufung. Wenn man sich zu etwas berufen fühlt, dann hat das etwas Schicksalhaftes, dem man sich nicht entziehen kann und will und das mit einer Aufgabe verbunden ist. Sehen Sie sexuelle Orientierung als Berufung in diesem Sinn?
Die sexuelle Orientierung ist etwas, das einem Menschen vorgegeben ist – genauso wie vieles andere: anderweitige Vorlieben, Aussehen, intellektuelle Fähigkeiten. Aber ich denke, dass es über all das hinaus auch noch eine Art Bestimmung gibt, einen Lebensentwurf, der dem Menschen vorgegeben ist, ohne ihn zu präjudizieren. Zu einer Berufung kann man auch Nein sagen. Zur sexuellen Orientierung nicht.
Was aber nicht heißt, dass das, was einem Menschen vorgegeben ist – einschließlich seiner sexuellen Orientierung – nicht eine Berufung im eigentlichen Sinn hervorgehen kann.
Darüber könnten wir lange diskutieren, merke ich. Wir werden das Thema noch schneiden. Die sexuelle Orientierung ist also ein Wesensmerkmal von Menschen, etwas, was Identität stiftet. Also muss sie zwangsläufig gelebt werden (dürfen)?
Ich mach mal eine kleine Mittagspause. Zurück in etwa einer halben Stunde.
Ihre Frage enthält eigentlich zwei Fragen: Muss die sexuelle Orientierung gelebt werden? Und: Muss die sexuelle Orientierung gelebt werden dürfen? Ich würde die erste Frage mit einem Nein beantworten, die zweite mit einem Ja: Wie ein Mensch seine Sexualität lebt oder nicht lebt, sollte seine frei Entscheidung sein. Genauso sollte jeder Mensch aber auch das Recht haben, seine Sexualität und damit auch seine sexuelle Orientierung frei zu leben, solange dabei nicht die Rechte anderer eingeschränkt werden.
Müssen und Dürfen. Ihr Buch vereinigt Stimmen von Menschen, die gern wollen (würden). (Schon wieder zwei Fragen in einer, sorry). Bleiben wir beim Dürfen? Wenn ich mich nicht verzählt habe, bringt Ihr Buch 68 solcher Stimmen. Es gibt welche von Frauen und Trans-Menschen, aber die von Männern überwiegen. Warum ist das so?
Das stimmt. Ich wollte eigentlich für ein ausgeglichenes Verhältnis von Frauen und Männern sorgen. Es stellte sich aber sehr schnell heraus, dass queere Frauen (einschließlich Trans-Frauen) sehr viel weniger bereit waren, ihre Geschichten zu erzählen. Ich befürchte, dass sie einfach zu viel Angst haben, (erneut) verletzt zu werden, wenn sie ihre Geschichte erzählen.
Oder liegt es vielleicht auch daran, dass die katholische Kirche von Männern dominiert ist? Frauen, die diskursprägend wirken, muss man mit der Lupe suchen.
Die Dominanz der Männer ist in den diskursprägenden Kreisen zweifellos gegeben, ansonsten aber eher nicht. Das Gemeindeleben wird zum Beispiel in der Regel von weitaus mehr Frauen als Männern getragen. Dort, an der Basis, habe ich nach Menschen Ausschau gehalten, die zur Mitarbeit an meinem Buch in Frage kamen.
Begonnen habe ich mit queren Menschen, die mir persönlich bekannt sind, und dann den Radius mit deren Hilfe immer größer gezogen. Auch Organisationen von queren Menschen innerhalb der katholischen Kirche habe ich um Hilfe geben. In den Schaltstellen der kirchlichen Macht habe ich hingegen nicht angefragt.
Nur am Rande: Ohne das direkt vergleichen zu wollen, mache ich in meinem Arbeitsumfeld eine ähnliche Beobachtung: 90 Prozent der Menschen, die Meinungsbeiträge (früher sagte man „Leserbriefe“ dazu) an die Frankfurter Rundschau schicken, sind männlich. Und jene Frauen, die mitreden wollen, halten sich meistens auch noch kurz. Aber in der Frage um die Priesterinnenweihe machen die Frauen in der katholischen Kirche zurzeit ziemlich Druck.
Auch die queren Menschen und ihre Unterstützer*innen machen Druck. Und es hat sich ja auch schon ein bisschen was bewegt. Die sexuelle Orientierung und der Familienstand sind mittlerweile kein Kriterium mehr, um die Mitarbeiter*innen katholischer Einrichtungen und Organisationen zu gängeln, zu unterdrücken oder gar zu entlassen.
Haben Sie für diese Entwicklung einen Kipppunkt ausgemacht?
Es ist eher eine langsame Entwicklung: Papst Franziskus hat immer wieder verbale Hoffnungszeichen gegeben, ohne allerdings die lehramtliche Doktrin zu ändern. Das Diskursklima innerhalb der katholischen Kirche hat sich merklich verbessert. Man kann – selbst als Kleriker – heutzutage Positionen vertreten und äußern, für die man vor zehn oder fünfzehn Jahren noch sanktioniert worden wäre. Wenn dann wieder mal aus dem Vatikan ein gegenteiliges Signal kommt – wie das 2021 ausgesprochene Verbot der Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften – gibt es inzwischen regelmäßig Widerspruch. Und nicht nur Widerspruch, sondern auch entsprechende Handeln. So wurden im Mai 2021 über 100 öffentliche Gottesdienste von katholischen Seelsorger*innen gefeiert, in denen sie gleichgeschlechtlichen Paaren Gottes Segen zugesprochen haben. Einige von ihnen wurden zwar gemahnt und verwarnt, aber sanktioniert wurde meines Wissens niemand.
Viele der Beiträge in Ihrem Buch sind anonymisiert. In meiner Arbeit mit den Meinungsbeiträgen von Leserinnen und Lesern kommt es vor, dass hin und wieder der Wunsch auftaucht, dass eine Zuschrift nur anonymisiert veröffentlicht werden soll. Ich erfülle diesen Wunsch aber nur dann, wenn jemand berufliche Nachteile zu fürchten hat durch das, was sie/er da schreibt, oder wenn er/sie Hass und Hetze oder gar Morddrohungen fürchtet. Grundsätzlich stehe ich aber auf dem Standpunkt, dass wir in einem Land leben, in dem jeder Mensch mit seinem Namen zu seiner Meinung stehen können sollte, sofern die Gesetze eingehalten werden. Ein Viertel der Beiträge in ihrem Buch sind anonymisiert. Warum wollen diese Menschen nicht mit ihren Klarnamen zu ihren Positionen stehen?
Wenn jemand sich an ein Medium wendet und seine Meinung von sich aus öffentlich äußern möchte, dann sollte er – da bin ich ganz Ihrer Meinung – das in aller Regel mit Namen tun und so zu seiner Meinung stehen. Im Fall meines Buchs war es aber umgekehrt: Ich war derjenige, der queere Menschen gebeten hat, ihre Geschichten öffentlich zu erzählen. Insofern empfand ich es nur als gerecht, diesen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, dies auch anonym zu tun – aus welchen Gründen auch immer. Die Gründe habe ich im Einzelfall nicht erfragt. Aber ich bin gewiss: Sie werden ihre Gründe haben.
68 Stimmen sind unter diesen Umständen ein beachtliches Ergebnis. Wie lange haben Sie gebraucht, um all diese Beiträge zusammenzutragen?
Nicht einmal ein halbes Jahr. Es war aber zugleich auch ein seelsorgerisches Projekt: Vielen Beiträgen gingen lange Gespräche voraus, sei es am Telefon, sei es face to face. Einige der Autorinnen und Autoren haben sogar eine lange Reise auf sich genommen.
Lassen Sie uns hier einen Schnitt machen und uns auf Morgen vertagen – mit Dank für den Verweis auf das Seelsorgerische, denn das interessiert mich, und ich möchte gern mehr darüber erfahren. Bis morgen? Sagen Sie durch, ab wann Sie starten können.
Ich habe um 08:00 Uhr Gottesdienst und danach einen Termin. Gegen 09:30 Uhr sollte ich am Computer sein können, wenn auch nicht lange.
Dann kriegen Sie meine nächste Frage morgen gegen 9.30 Uhr. Haben Sie einen schönen Abend. Wir lesen uns!
Guten Morgen, Herr Rothe.
Ich habe heute einen prallen Tag, so dass unser Talk ein bisschen langsamer werden wird als gestern.
Wie war Ihr Gottesdienst? Worüber haben Sie gepredigt?
Guten Morgen, Herr Büge, da bin ich – leider etwas verspätet. Bei mir ist heute auch so einiges los. In Werktagsgottesdiensten wird gewöhnlich nicht gepredigt.
Da sehen Sie mal, wie gut ich informiert bin. Aber ich war Protestant und kaum Kirchgänger. Bin vor rund 30 Jahren ausgetreten, unter anderem wegen des Umgangs der evangelischen Kirche mit https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-J%C3%BCrgen_Meyer_(Pastor), der offen schwul gelebt hat. Er ist kürzlich gestorben. Das hat die Landeskirche und die evangelische Kirche insgesamt ziemlich beschäftigt, war aber letztlich einer der Anstöße, zu einer liberalen, zeitgemäßen Form des Umgangs mit dem Thema Homosexualität zu kommen.
Sie haben bereits davon berichtet, dass Autorinnen aus Angst davor zurückgeschreckt seien, einen Beitrag zu Ihrem Buch beizusteuern. Trotzdem haben sich einige getraut, sogar mit Klarnamen. Welche Reaktionen haben sie erfahren?
Solche Menschen sind wie Prophetinnen und Propheten. Sie sind ihrer Zeit voraus, müssen Widerspruch, Anfeindungen und Repressalien ertragen, bewirken aber Veränderung. Dazu gehört oft viel Geduld. Auch die Autorinnen und Autoren meines Buchs – gerade solche, die mit Klarnamen auftreten – sind solche Prophetinnen und Propheten. Auch sie tragen zur Veränderung bei. Mir ist kein einziger Fall bekannt, dass eine Autorin oder ein Autor meines Buchs negative Erfahrungen machen musste, weil sie oder er daran mitgewirkt hat. Das heißt aber nicht, dass ihre Angst unbegründet war, sondern dass ihr Tun Veränderung bewirkt hat.
Und gab es positives Feedback?
Positiv war zuallererst, dass etliche Autorinnen und Autoren das Schreiben ihres Beitrags als Befreiungsschlag empfunden haben: Erstmals haben sie ihre Geschichte erzählt, erstmals das Schweigen durchbrochen, erstmals dem Leid etwas entgegengesetzt. Insgesamt gab es viele positive Reaktionen auf das Buch. Mir ist keine einzige negative bekannt.
Das heißt, dass auch Sie als Initiator und Herausgeber keine Nachteile erlebt bzw. zu fürchten haben?
Nein, die Zeiten scheinen vorbei zu sein. Es gab aber durchaus auch andere Zeiten.
Angst muss man also nicht mehr haben, jedenfalls anscheinend in der deutschen katholischen Kirche. Wie schätzen Sie die Situation in anderen Ländern ein?
Das Angstpotential ist hierzulande in letzter Zeit zumindest deutlich geringer geworden. Allerdings gibt es Unterschiede: queere Kleriker haben – und zwar mit gutem Grund – nach wie vor noch sehr häufig Angst. Das ist aber mit der Situation in vielen anderen Ländern nicht zu vergleichen. Nach wie vor gibt es Länder, in denen queere Menschen, wenn sie ihrer Natur entsprechend leben, mit Strafen bis hin zur Todesstrafe rechnen müssen. Die christlichen Kirchen sind ihnen dabei nicht selten treibende Kraft: In Afrika beschweren sich regelmäßig Bischöfe, dass der Staat nicht energisch genug gegen queere Menschen vorgeht. Ihnen hat Papst Franziskus kürzlich eine klare Botschaft geschickt: Homosexualität ist kein Verbrechen! Das ist aus europäischer Perspektive ein Gemeinplatz, für manche afrikanische Länder hingegen eine geradezu revolutionäre Botschaft.
Sehen Sie darin auch ein Indiz dafür, dass der Papst – und mit ihm die katholische Amtskirche – verschiedenste Interessen global auszutarieren hat? Also gerade bei einem der zentralen Punkte der christlichen Botschaft, der Nächstenliebe?
Darauf wollte ich hinaus, ja. Gerade haben ja erst wieder anglikanische Bischöfe in Afrika damit gedroht, die anglikanische Gemeinschaft zu verlassen, weil die Church of England beschlossen hat, homosexuelle Paare offiziell zu segnen. In der katholischen Kirche ist es noch einmal komplizierter, weil sie sich nicht nur als eine weltweite Gemeinschaft von Kirchen, sondern als Weltkirche versteht.
Es ist naheliegend, dass Menschen, denen mit solcher Ablehnung begegnet wird, Ängste entwickeln. Oder bringen sie diese Ängste ohnehin schon mit? Damit müssen Sie als Seelsorger doch sicher irgendwie umgehen.
Diese Ängste sind nicht einfach so da, sondern entstehen aus Erfahrung: aus Ablehnung, Diskriminierung, Benachteiligung, Ächtung, Unterdrückung, Verfolgung… Auf der andren Seite ist es für mich eine wunderbare Erfahrung, dass hierzulande gerade auch eine junge Generation querer Menschen heranwächst, die diese Ängste nicht mehr haben – nicht mehr haben müssen, weil ihre Rechte vom Rechtsstaat geschätzt und ihr Anderssein von der Gesellschaft respektiert wird. Davon ist die katholische Kirche noch weit entfernt. Als Seelsorger muss ich aber sagen: Da will ich hin! Auch in der katholischen Kirche – GERADE in der katholischen Kirche – sollten Menschen frei leben und aufwachsen dürfen.
Sehen Sie es mir bitte nach – ich habe einen Einwand. Der betrifft aber nicht Sie, sondern die Ängste und die Frage, woher diese Ängste kommen. Wenn jeder Mensch so angenommen werden würde, wie sie/er/div ist, dann hätten wir hier kein Problem. Offensichtlich ist es aber nicht so, dass jeder Mensch als Selbst angenommen wird. Ihr Buch zeugt davon – und von den Versuchen, sich freizumachen. Also bleibt die Frage: Woher kommen diese Ängste? Was fördert sie?
In Ihrer sehr berechtigten Frage steckt die Antwort m. E. schon drin: ES ist eben nicht so, dass jeder Mensch so angenommen wird, wie er nun mal ist. Das fängt beim Bewusstsein an, anders zu sein. Denn das Anderssein setzt ein Maß, eine Norm, eine Normalität voraus, die es aber gar nicht gibt. Sobald man eine bestimmte geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung als normal deklariert, schafft man automatisch das Unnormale, Abweichende, Schlechte(re). Und wer sich als unnormal, abweichend oder schlecht(er) empfindet, bekommt es – meines Erachtens verständlicherweise – erst mal mit der Angst zu tun. Mein Anliegen als Seelsorger ist, queren Menschen zu sagen: So wie Du bist, bist Du gut. So wie Du bist, bist Du von Gott gewollt. So wie Du bist, darfst Du sein.
So wie ich bin, bin ich gut. Das ist eine Haltung, die ich mir ganz persönlich über Jahre hinweg erarbeiten musste, weil mein Umfeld mir vermittelt hat: Ich bin nur dann gut, wenn dem mein Umfeld zustimmt. Von sich heraus zu sich selbst Ja zu sagen, ist gar nicht so einfach.
Ja, das stimmt – vor allem, wenn einem eingeredet wird, dass irgendetwas mit einem nicht stimmt. Und das geschieht oft ganz subtil. So steht zum Beispiel im Katechismus der katholischen Kirche der lapidare Satz, dass die „psychische Entstehung“ von Homosexualität „noch weitgehend ungeklärt“ sei. Das klingt zunächst einmal völlig harmlos. Nur wird damit suggeriert, dass Homosexualität im Unterschied zu Heterosexualität eine Ursache haben muss, eine psychische noch dazu. Wer so etwas liest, muss automatisch denken, dass mit ihr oder ihm etwas nicht stimmt. Diskriminierung hat viele Gesichter. Und manche davon lächeln mitleidvoll.
„Eingeredet“ – auf welchen Wegen? Spielt die Kirche dabei eine Rolle?
Ich will hier keine grundsätzliche theologische Diskussion anfangen, aber die Ablehnung, die Sie ansprechen, hat ja einen endlos langen ideengeschichtlichen Hintergrund, der bis heute – das ist jedenfalls mein Eindruck – auf die Menschen einwirkt, die Sie in Ihrem Buch haben zu Wort kommen lassen. Diese Einstellungen hatten, sag ich mal, weite Ausstrahlung. Ich habe diese Ablehnung auch ganz persönlich in dem ostholsteinischen Dorf erlebt, in dem ich aufgewachsen bin, das aber protestantisch geprägt war/ist. Haben Sie seelsorgerisch auch mit Potestant:innen in diesem Problemkomplex zu tun?
Die Kirche spielte und – mehr noch! – spielt dabei eine erhebliche Rolle. In der Vergangenheit hat die Kirche das vermeintlich nicht Normale ebenso abgelehnt wie Staat und Gesellschaft. Nachdem Staat und Gesellschaft ihren Irrtum erkannt haben, ist die Kirche bemüht, ihre bisherige Haltung theologisch zu untermauern – was sie früher übrigens nicht versucht hat. Ihr Versagen war dadurch allerdings nicht geringer – im Gegenteil: Anstatt den diskriminierten und marginalisierten Menschen nach dem Beispiel Jesu Schutz zu bieten und ihre Würde zu verteidigen, hat sie fleißig mitgehetzt und Hass geschürt. Heute ist sie – anders als früher – ursächlich am Entstehen von solcherart Hass und Hetze, weil sie behauptet, dass sei so von Gott gewollt. Mit queeren Protestant*innen habe ich gelegentlich zu tun. Gerade in evangelikalen Kreisen geht es mitunter sogar noch schlimmer zu als in der katholischen Kirche.
Wir vertagen uns auf morgen, einverstanden? Es gibt noch viel zu fragen.
Es ist spät nachts, ich habe alles in Ruhe noch einmal nachgelesen, so wie ich es gern mache, indem ich den vorangegangenen Tag sacken lasse. Wundern Sie sich also bitte nicht über dieses späte/frühe Posting.
Die Evangelikalen sind ein eigenes Thema, auf das ich nur einsteigen werde, wenn Sie das wollen. Wir kämen meines Erachtens damit zu weit weg von dem, worum es hier eigentlich geht. An dieser Stelle von mir daher nur so viel: Den größten Einfluss auf die globale Gesellschaft erzielen die Evangelikalen derzeit in den USA. Auch dort spielt das Thema Homosexualität eine große Rolle, es wird dort aktiv genutzt, um politisch zu mobilisieren, analog zur Abtreibungsdebatte, die in den USA ebenfalls eine große Rolle spielt. Allen, die sich für diese Hintergründe interessieren, sei das Buch „Amerikas Gotteskrieger“ von Annika Brockschmidt empfohlen, die wir auch schon in der FR hatten: „Gewalt in Gottes Namen“. Exkurs Ende, Vertiefung gern bei Gelegenheit.
Aber nun wieder „back to the roots“, und die sind weder protestantisch noch katholisch, sondern jüdisch. Im dritten Buch Mose (3. Mose 18, 22) steht: „Du sollst nicht mit einem Mann schlafen, wie man mit einer Frau schläft; ein Gräuel ist das.“ Der Text ist sozusagen ein Klassiker für Homophobe. Kurz darauf wird noch schärfer formuliert: „Wenn ein Mann mit einem Mann schläft wie mit einer Frau – ein Gräuel haben beide verübt, sterben, ja sterben sollen sie, ihr Blut über sie!“ (20, 13)
Todesstrafe für Homosexuelle – wir sind im Iran?
Ich frage das natürlich vor Hintergrund, denn als ich mein Coming-Out hatte, begegnete mir mein Vater (Protestant, kein Kirchgänger) mit den Worten: Du bist widernatürlich, das steht schon in der Bibel. Das steckte also wohl tief drin in seinem Kopf. Kulturell bedingt? Was wird da transportiert? Inwiefern lösen solche Bibelverse Angst aus? Denn hier geht es ja um Angst.
Lassen Sie sich Zeit für die Antwort. Splitten Sie sie nach Belieben in mehrere Kommentare zu den einzelnen Fragen. Mir ist klar, dass dies ein riesiger Themenkomplex ist. Ich hätte gern Ihre spezielle Perspektive als Seelsorger, der jeweils mit dem individuellen Leid konfrontiert ist – vermutlich direkter als sonst jemand in der Kirche.
Back to the roots – da bin ich gerne mit dabei. Allerdings muss ich da zunächst etwas weiter ausholen. Tatsächlich führt uns Ihr Hinweis auf Levitikus 18,22 und 20,13 zum Ursprung der christlichen Homophobie und Queerfeindlichkeit – oder auch nicht, denn diese Stellen wurden erst relativ spät herangezogen, um eine bestimmte moralische Doktrin zu begründen. In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die Erzählung von Sodom und Gomorra in Gen 19. Im Katechismus der katholischen Kirche (Nr. 2357) wird zum Beispiel behauptet, die Bibel bezeichne Homosexualität als „schlimme Abirrung“, wobei u. a. auf Gen 19 verwiesen wird. Das ist allerdings offenkundig Blödsinn, denn in Gen 19 wird ausdrücklich davon berichtet, dass „die Männer von Sodom, Jung und Alt, alles Volk von weit und breit“ danach verlangt hätten, mit den beiden Gästen von Lot zu „verkehren“. Wenn es hier um Homosexualität ginge, müsste man also annehmen, dass alle Männer einer Stadt, ja einer ganzen Region schwul seien. Insofern erklärt sich von selbst, dass es hier nicht um die Ächtung Homosexualität geht. Es geht um etwas ganz anderes: um die Verletzung von Gastfreundschaft und deren Ächtung. Gott zerstört Sodom und Gomorra nicht, weil Männer mit Männern Sex haben wollten, sondern weil Männer ihre Macht missbrauchen wollten, um Sex mit Schutzbefohlenen zu erzwingen. Es geht also um Missbrauch und dessen Ächtung. Dass die Opfer dieser Missbrauchsversuchs ebenso wie die Täter Männer waren, treibt die Darstellung lediglich auf die Spitze, weil die sexuelle „Verwendung“ eines Mannes nach Art einer Frau in der Betroffenen Zeit und im betreffenden Kulturkreis als Ausdruck maximaler Macht auf Seiten der Täter und maximaler Ohnmacht auf Seiten der Opfer galt. Aus demselben Grund wird der Sex eines Mannes mit einem anderen Mann, also dessen „Verwendung“ als Frau, auch in Levitikus 18,22 und 20,13 verurteilt: Verurteilt wird der sexuelle Missbrauch von Männern durch Männer – was zur betreffenden Zeit und im betreffenden Kulturkreis eine durchaus übliche Praxis war. Auf diese Weise erfolgte z. B. mitunter die maximale Demütigung und Unterwerfung von Kriegsgefangenen. DAS wird in der Bibel verurteilt – nicht der einvernehmliche Sex zweier homosexueller Menschen. Solche Bibelstellen heranzuziehen, um Hass und Hetze gegenüber Homosexuellen zu betreiben, ist nichts anderes als ein Missbrauch der Bibel.
Im Übrigen war Homosexualität als integraler Bestandteil der Persönlichkeit mancher Menschen zu biblischer Zeit noch gar nicht bekannt. Bekannt war lediglich, dass es Männer gab, die Sex mit Männern hatten bzw. haben wollten – was die heterosexuelle Mehrheit als Abweichung, als Abirrung, als Perversion verstand. Man ging davon aus, dass es sich um eigentlich heterosexuelle Menschen handelte, die – aus welchen Gründen auch immer – wider ihre Natur handelten. Dass sie gemäß ihrer Natur handelten, konnte die heterosexuelle Mehrheit damals noch nicht verstehen. Es dauerte bis ins 19. Jahrhundert, dass man allmählich zu verstehen begann, dass Homosexuelle ihrer Natur nach homosexuell sind. Was aber zu biblischer Zeit gar nicht bekannt war, kann in der Bibel auch nicht thematisiert, geschweige denn verurteilt werden. Biblische Texte stehen oft in einem historischen und kulturellen Kontext, den man kennen und berücksichtigen muss, um sie zu verstehen. Solche Texte aus ihrem Kontext zu lösen und zur Begründung der eigenen Homophobie heranzuziehen – DAS ist pervers.
Interessanterweise stammt der älteste Text des katholischen Lehramts, der sich systematisch mit Homosexualität befasst, erst aus dem Jahr 1975. Alle früheren lehramtlichen Äußerungen zu diesem Thema waren allenfalls kurze Normen im Zusammenhang mit vielen anderen Normen über das gesellschaftliche Zusammenleben, die keiner Begründung bedurften, weil sie sich mit der gesamtgesellschaftlichen und auch politisch getragenen Homophobie deckten. Man brauchte die Bibel nicht, um dies zu untermauern. Mit anderen Worten: Das Christentum ist nicht aus sich selbst heraus homophob. Und damit gehört die Homophobie auch nicht zu ihrem Wesensbestand, wie nicht wenige Kirchenleute suggerieren.
Also alles ein riesiges Missverständnis?
Missverständnis bei denen, die es nicht besser wissen, Missbrauch bei denen, die es besser wissen (müssten).
Da fragt man sich doch, woher diese Homophobie kommt. Denn allgemein menschlich kann sie nicht sein. Es gibt genug Beispiele aus der menschlichen Geschichte dafür, dass Kulturen gut und friedlich mit integrierter Homosexualität funktioniert haben. Dazu muss man nicht bis ins antike Griechenland zurückgehen. Auch bei den Römern gab es vielleicht Gerede, aber keine Probleme, obwohl es als ehrenrührig galt, sich als Mann hinzugeben. Die katholische Kirche aber hat offenkundig ein Problem mit Homosexualität bzw. queeren Menschen. Und das, obwohl der Vatikan voller Homosexueller sein soll. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?
Antike Beispiele werden aus heutiger Sicht oft ein wenig verklärt. Im antiken Griechenland war lediglich das „Erziehungsverhältnis“ eines älteren Mannes zu einem jüngeren Mann gesellschaftlich akzeptiert. Und von Gleichberechtigung waren Homosexuelle auch im Alten Rom weit entfernt – und das ohnehin nur in der Stadt.
Da ändert sich der Fokus möglicherweise gerade ein wenig. Der Fall des römischen Kaisers Elagabal wirft ein Schlaglicht auf die römische Kultur. Und im antiken Griechenland war Homosexualität weitgehend toleriert. Wie auch immer: Bleibt die Frage, woher die Homophobie der Amtskirche kommt.
Die Homophobie der katholischen Kirche speist sich ganz wesentlich aus ihrem Machtanspruch, der durch einen Wahrheitsanspruch zu legitimieren versucht wird. In der Vergangenheit waren sich Staat, Gesellschaft und Kirche darin einig, dass Homosexualität unmoralisch ist. Staat und Gesellschaft haben – zumindest hierzulande – eingesehen, dass sie sich darin geirrt haben. Das aber kann und will die Kirche nicht zugeben, weil sie damit ihren Wahrheitsanspruch preisgeben würde. Darum versucht sie seit den 68er Jahren – nun gegen Staat und Gesellschaft – zu begründen, warum ihre vormals eher beiläufige, weil allgemein geteilte Homophobie richtig war. Zu diesem Zweck werden besagte Bibelstellen herangezerrt und in Stellung gebracht – allen exegetischen Erkenntnissen zum Trotz.
Dass Staat und Gesellschaft diesen Wandel umgesetzt haben, kann man also wohl als Fortschritt bezeichnen. Ich denke dabei unter anderem an die „Ehe für alle“. Andere Staaten, etwa Spanien oder Irland, hatten ähnliche gesetzliche Regelungen lange vor Deutschland, obwohl sie stark von der katholischen Kirche geprägt sind. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Kirche – nicht nur bei diesem Thema – ins Hintertreffen gerät. Oder wie sehen Sie das? Verschlafen die alten weißen Männer im Vatikan den Wandel?
Absolut. Meinem Eindruck nach ist sie längst ins Hintertreffen geraten.
Ich hätte jetzt eher erwartet, dass Sie mich watschen, wegen der „alten weißen Männer“. Denn zu denen gehören wir beide ja ebenfalls, und wenn man im Glashaus sitzt …
Nun denn. Ich möchte gern noch ein bisschen mehr über Sie und Ihre Arbeit erfahren – und natürlich auch noch über das Buch. Zuerst über Ihr Wirken als Seelsorger, wenn Sie einverstanden sind. Ich stelle mir diese Arbeit ziemlich anstrengend vor, weil man Empathie aufbringen und zugleich auf Distanz bleiben muss, damit Ihnen die Schicksale, mit denen Sie da konfrontiert werden, persönlich nicht zu nahe kommen. Also zum Selbstschutz. Oder stelle ich mir das falsch vor? Wie bekommen Sie diesen Spagat hin, wenn es ihn denn gibt?
Ich werde oft gefragt, warum ich überhaupt noch in der katholischen Kirche und sogar für die katholische Kirche tätig bin, da es doch so viel in der katholischen Kirche gibt, mit dem ich nicht einverstanden bin. Der wichtigste Grund: Ich kann mir keine schönere Arbeit vorstellen! Ich bin – trotz allem – wirklich gerne Priester und Seelsorger. Den Spagat, den Sie schildern, gibt es in der Tat, aber den gibt es auch in vielen anderen Berufen, z. B. bei Ärztinnen und Ärzten. So wäre z. B. den Angehörigen eines Verstorbenen nicht gedient, wenn ich mich bei dessen Begräbnis in Tränen auflösen würde. Da erwarten die Angehörigen sogar eine gewisse Distanz und Professionalität. Das lernt man in der Ausbildung und das geht einem im Laufe der Zeit in Fleisch und Blut über.
Ich kann mir durchaus Gründe vorstellen, warum sich jemand in der Kirche engagiert. Einer davon: die Begegnung mit Menschen. Aber ist es nicht frustrierend zu erleben, dass sich diese Kirche praktisch nicht bewegt? Es gibt seit langem die HuK e.V., also die Homosexuellen und Kirche, es gibt den Eckigen Tisch e.V., es gibt den Synodalen Weg und Maria 2.0. Also eine Menge Basis- und Graswurzelbewegung, jedenfalls bei uns in Deutschland. Es geht um Erneuerung. Aber die katholischen Bischöfe haben so was wie eine Sperrminorität. So ganz verstanden habe ich das nicht, aber sie haben jedenfalls verhindert, dass im Zuge des Synodalen Weges für eine erneuerte Sexualethik eingetreten wird. Demokratie geht anders, oder?
Mittlerweile hat tatsächlich auch eine deutliche Mehrheit der Bischöfe erkannt, dass Reformen nötig sind. Ein Grundsatztext zur Sexualmoral fand zwar in der Tat nicht die nötige Mehrheit unter den Bischöfen, alle danach zur Abstimmung gestellten Texte hingegen schon. Ja, es ist frustrierend, dass es so langsam – zu langsam – vorangeht. Aber immerhin geht es voran. Noch vor einem Jahrzehnt hätte ich mich an diesem Blogtalk nicht beteiligen können, ohne mit Sanktionen bis hin zum Jobverlust rechnen zu müssen.
Ja, das ist mir bewusst. Ich fördere diese Entwicklung gern durch kritische Fragen und dadurch, dass wir – unter anderem durch diesen Blogtalk, aber es gab ja auch sonst viel Berichterstattung – über die Notwendigkeit von Reformen reden. Und Sie fördern sie mit Ihrem Buch.
Ich hab bei der Presseabteilung des Herder-Verlags schon am Montag um eine Erlaubnis zur Veröffentlichung einer Leseprobe aus Ihrem Buch angefragt, weil ich gern konkret an einem Textbeispiel entlang weiterfragen würde, nicht zuletzt – ich behalte das im Hinterkopf – wegen der Angst. Und wegen der Frage, woher diese Angst kommt, woran sie festzumachen sein könnte. Der Verlag hat bisher nicht reagiert. Dann machen wir es eben ohne Erlaubnis. Ich habe einen Favoriten, aber ich möchte Ihnen nicht vorgreifen: Möchten Sie vielleicht einen aus den 68 Beiträgen auswählen, der exemplarisch für die Probleme der Betroffenen steht? Dann könnten wir das alles mal am individuellen Beispiel beleuchten.
Hab soeben noch mal beim Herder-Verlag angerufen und nochmals um Erlaubnis für die Veröffentlichung einer Leseprobe nachgefragt.
Ich schlage vor, wir machen Schluss für heute. Hab nachher noch einen Video-Call mit meinem Verleger wegen meiner Auftritte auf der Leipziger Buchmesse und muss vorher was essen. Morgen wieder so gegen 9.30 Uhr? Dann können wir auch fertig werden.
Gerne, dann bis morgen. Schon mal zur Vorwarnung: Ich habe morgen eine Menge Termine. Bezüglich der Leseprobe: Ich bin mit Ihrem Favoriten selbstverständlich einverstanden. Dass die Presseabteilung von Herder nicht reagiert, wundert mich. Normalerweise sind die sehr fit und kooperativ.
Guten Morgen, Herr Rothe,
angesichts Ihrer vielen Termine heute – wie gehen wir vor? Haben Sie heute überhaupt Zeit?
Jetzt habe ich kurz Zeit, aber dann bin ich bis in den Nachmittag hinein mit Begräbnissen beschäftigt.
Bei mir ist es eher umgekehrt. Aber der Vorteil eines Blogtalks ist ja, dass ich jederzeit was fragen kann und dass Sie antworten, sobald Sie die Zeit dazu finden.
Ich habe – abweichend von dem, was ich gestern angekündigt habe – zunächst eine Frage. Ich lese heute in der FR, dass der Synodale Weg möglicherweise vor dem Scheitern steht. Es liegt wohl vor allem an der Frage der Frauenweihe. Die Synodalversammlung hat rund 230 Mitglieder. Davon sind 67 Bischöfe (27 Ortsbischöfe und 40 Weihbischöfe). Nur 23 Neinstimmen von ihnen reichen aus, um jede Vorlage zu Fall zu bringen. Papst Franziskus hat verkündet, dass wegen des „petrinischen Prinzips“ kein Platz für Frauen im ordinierten Dienst sei. Das petrinische Prinzip ist die vom Apostel Petrus gegründete kirchliche Leitungsstruktur. Behalten die konservativen Kräfte in der katholischen Kirche die Oberhand? Und was bedeutet das für die queeren Menschen in der Kirche?
Da in München heute die öffentlichen Verkehrsmittel bestreikt werden und ich kein Auto habe, war ich jetzt fast fünf Stunden unterwegs, um zu einem Friedhof am anderen Ende der Stadt zu kommen, ein Begräbnis zu halten und wieder heimzufahren. Gleich muss ich leider wieder los – tut mir leid.
Das sind gute Gründe. Wir lesen uns morgen.
Zu Ihrer sehr berechtigten Frage: Der Synodale Weg war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil er einerseits ein Format ist, das keinerlei kirchenrechtliche Legitimation besitzt. Er bewegt sich sozusagen in einem kirchenrechtlichen Vakuum. Insofern hat er Erwartungen geweckt, die er nicht einlösen konnte. Nichtsdestotrotz war es richtig, ja notwendig, den Synodalen Weg zu beschreiten. Die Texte, die er hervorbringt, sind von beeindruckender theologischer Qualität. Die Gegner dieser Texte haben dem wenig bis nichts entgegenzusetzen. „Das war schon immer“ so ist nun mal ein äußerst schwaches „Argument“, weil nichts schon immer so war. Die Texte des Synodalen Weges setzen, auch wenn sie konkret wenig bewirken, Maßstäbe, an denen man nicht mehr vorbeikommt. Und auch wenn der Synodale Weg ein Projekt der Kirche in Deutschland ist, wird er weltweit beobachtet und bewundert. Insofern wird der Synodale Weg die Diskussionskultur in der Kirche nachhaltig verändern – genauer gesagt hat er das schon. Der synodale Prozess, den Papst Franziskus für die Weltkirche in Gang gesetzt hat, wäre ohne den Synodalen Weg in Deutschland kaum denkbar. Und auch inhaltlich wird der Synodale Weg die innerkirchlichen Diskussionen voranbringen, denn allein die Tatsache, DASS man auf einmal über Fragen diskutieren kann, die einige längst für beantwortet halten, trägt zur Veränderung bei. Die Kirche wird, wie auch immer der deutsche Synodale Weg und der vatikanische synodale Prozess ausgehen, danach nicht mehr dieselbe sein. Sie wird ihre Identität wahren, aber ihr Denken, Reden und Tun verändern.
Das alles gilt natürlich auch für die queeren Themen. Die Segnung homosexueller Paare z. B. ist und wird in Deutschland künftig ein ganz normales seelsorgliches Angebot sein – ob das den Herrschaften im Vatikan nun passt oder nicht.
Das heißt, die Priester und Seelsorger setzen sich über das vatikanische Gebot hinweg?
Und gleich noch eine Frage hinterher: Kirchenrecht hin und her – das sind ja ewig dauernde, quasi-scholastische, also selbstreferenzielle Debatten. Nichts war schon immer so, wie Sie sagen. Eine große Wahrheit. Aber Angst war anscheinend immer im Kirchenboot? Einerseits Erlösung, andererseits Angst – widersprechen Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind!
Ja, selbstverständlich setzen sich Priester und Seelsorger*innen über unchristliche vatikanische Vorgaben hinweg. 2021 haben nicht weniger als 2600 (!) katholische Seelsorger*innen in Deutschland erklärt, sich nicht an das vatikanische Segnungsverbot für homosexuelle Paare halten zu wollen. Ich war einer davon – ebenso wie bei der Initiative #liebegewinnt, als ebenfalls 2021 in über 100 öffentlichen Gottesdiensten homosexuelle Paare von katholischen Seelsorger*innen gesegnet wurden.
Die Angst reist seit langem im Kirchenboot mit – da haben sie völlig recht. Dabei lautet eine der wichtigsten biblischen Botschaften, die auch Jesus bei vielen Gelegenheiten wiederholt und betont hat: „Fürchtet euch nicht!“ Nichts pervertiert die biblische Botschaft mehr als wenn sie dazu missbraucht wird, Menschen Angst zu machen.
Lieber Herr Rothe, ich hoffe, Sie hatten ein schönes Wochenende. Am vergangenen Freitag war ich ja leider verhindert, so dass wir heute noch einen Tag dranhängen – danke für Ihr Entgegenkommen diesbezüglich.
Vor allem möchte ich noch ein wenig konkret über Ihr Buch reden. „Das Wohl und Wehe von Minderheiten“ sei „der Maßstab des Christlichen“, schreiben Sie im Vorwort. Christus habe „‚ein Beispiel gegeben‘ (Joh. 13,25) – und zwar ein Beispiel der Wertschätzung, des Respekts und der Liebe“. Davon haben sich Teile der Amtskirche weit entfernt, wie Sie ja bereits herausgestellt haben. Gleich im ersten Beitrag fällt ein weiteres Stichwort, über das wir ebenfalls bereits gesprochen haben: „übermächtige Angst. Der junge Mann schreibt, dass er kurz vor seiner Volljährigkeit – das muss also gegen Ende der 00er Jahre gewesen sein – ganz knapp vor dem Suizid gestanden habe. Wir berichten in der Zeitung nicht über Suizide, weil wir keine Anreize von Beispielen setzen wollen, aber hier geht es ja um etwas Grundsätzliches. Begegnen Sie oft solchen Schicksalen? Was raten Sie solchen Menschen?
Ich könnte mir vorstellen, dass es ein weiter Weg ist hin zu dem Bewusstsein, von Gott gewollt zu sein, so wie man ist. Vor allem wenn man wie der Mann aus dem ersten Beispiel das aus totaler Vereinsamung zu schaffen versucht. Und nicht alle Betroffenen erfahren dann wenigstens rudimentäre Stärkung wie der Künstler im zweiten Beispiel, der davon berichtet, dass seine Mutter „als gefühlt Einzige im gesamten Dorf“ verstanden habe, dass sich ihr Sohn „zu keinem Zeitpunkt verändert hatte“.
Ich habe hier wieder zwei Fragen gestellt (oder gar noch mehr?). Ich selbst werde heute erst gegen 9.30 Uhr wieder online sein, aber so haben Sie Zeit (wenn Sie Zeit haben), schon mal ein paar Antworten zu schreiben.
Okay – offenbar hat etwas in unserer Kommunikation nicht geklappt, die wir im Hintergrund hatten. Hoffentlich ist kein Unglück passiert, dass Sie davon abhält, heute hier noch mal mit mir zu reden.
Ich bitte aufrichtig um Verzeihung: Ich hatte unseren Diskurs komplett aus dem Auge verloren. Zu Ihrer Frage: Ja, ich begegne immer wieder Menschen, die unter dem Spagat zwischen der lehramtlichen Homophobie und ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität leiden. Wenn, dann rate ich ihnen immer ganz klar, sich aus diesem Dilemma zu befreien. Da man die sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität nicht ändern kann, gibt es zunächst nur einen Weg. Und dieser Weg besteht darin, sich von der Kirche bzw. der kirchlichen Lehre zu emanzipieren. Wenn das zur Folge hat, dass die betreffende Person sich im Zuge dessen ganz von der Kirche verabschiedet, dann ist das halt so. Mir geht es nicht darum, jemanden in der Kirche zu halten. Viel wichtiger ist es, sich so zu akzeptieren, wie man ist. Wo es keine Freiheit gibt, gibt es keinen Glauben – und was nützt die Mitgliedschaft in der Kirche ohne Glauben? Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, sich von der Kirche bzw. der kirchlichen Lehre zu emanzipieren, ohne die Kirche zu verlassen. Wenn ich kann und darf, helfe ich Betroffenen gerne dabei, diesen Weg zu finden und zu gehen. Es ist aber kein leichter Weg, weil alle, die ihn gehen, stets damit rechnen müssen, verletzt zu werden.
Schön dass Sie da sind.
In einem weiteren Text kommt eine Trans*-Person zu Wort, deren Wortwahl man genau anmerkt, wie intensiv sie ihr Leben reflektiert hat. Darum erschließt sich ihr Text nicht ganz so unmittelbar wie die vorangegangenen. Sie, die heute der Er ist, der er immer war, spricht vom enormen Verletzungspotenzial, das aus der Kollision mit der „binär konstruierten Geschlechteranthropologie“ einer „cis-normativen Weltsicht“ entstehe. Er schreibt dann auch, dass die Institution Kirche hier noch eine Menge lernen kann. „Binär konstruierte Geschlechteranthropologie“ – soll ich frei übersetzen: „Mann-Frau-“ bzw. „Schlüssel-Schloss-Prinzip“?
Es ist jedenfalls ein Konstrukt, dass die Realität in ein angeblich vorgegebenes Schema pressen will – vorgegeben von der Natur und damit letztlich von Gott. Nur lässt sich die Natur eben nicht in ein Schema pressen – und Gott schon gart nicht. Wer behauptet, Gott hätte bestimmte Gegebenheiten gewollt und andere nicht, will Gott und seiner Schöpfung Grenzen setzen und macht sich damit selbst zu Gott. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive sind solche Bemühungen, der Natur vorschreiben zu wollen, wie sie zu sein hat, einfach nur lächerlich.
Nun wehrt sich die Amtskirche ja schon lange gegen das, was von Minderheiten an sie herangetragen wird. Haben Trans*-Personen es noch schwerer als homo- oder bisexuelle Menschen?
Eine bisexuelle Frau berichtet, dass ihr Outing in ihrem Umkreis „positiv oder weniger neutral“ aufgenommen worden sei, doch das Auftreten von Amtsträgern der Kirche habe ständig ihr Unwohlsein vermehrt. Sie hat sich von der Institution Kirche „entkoppelt“, wie sie das nennt, aber ihr Glaube sei ihr geblieben. Auch dies war anscheinend ein Prozess, in dem die Autorin sich jahrelang an der Kirche abgearbeitet und gerieben hat, bis sie irgendwann an einen Punkt war, an dem sie sich entschieden hat, mit den Konventionen zu brechen.
Die Schwere der Last lässt sich unmöglich vergleichen – jede und jeder trägt anders daran. Fakt ist, dass es diese Last gibt – und sie ihnen vom kirchlichen Lehramt aufgebürdet wird.
Was diese bisexuelle Person geschafft hat, kann ich nur begrüßen und bewundern. Natürlich freut es mich, wenn jemand in der Kirche ist und bleibt und mit darauf hinarbeitet, diese Kirche zum Besseren zu verändern. Aber nicht um jeden Preis! Wenn der Preis zu hoch wird, ist es allemal besser, auf Abstand zu gehen.
An einigen Stellen musste ich schmunzeln, etwa wenn unter Eingeweihten vom spöttischen Gelächter über den Kölner Kardinal Joachim Meisner erzählt wird, der ernsthaft behauptet, „niemals habe er Homosexuellen die Hände zur Weihe aufgelegt. Oder ich schlucke, wenn ein Priester Homosexualität gar als Waffe definiert. Und zwar offenbar als Mittel zur Ausgrenzung innerhalb der Amtskirche?
Manches kann man wirklich nur mit Humor nehmen – etwa wenn sich Leute, die als besonders homophob aufgefallen sind, plötzlich als schwul erweisen. Aber im Grunde handelt es sich um ein ernstes, ja trauriges Thema. Denn dass Homosexualität als Waffe verwendet wird, ist real: Menschen werden dadurch in ihrer Existenz bedroht, manipuliert, ausgenutzt, ihrer Freiheit beraubt usw.
Lieber Herr Rothe, ich denke, das ist ein gutes Schlusswort. Ich danke Ihnen für diesen Blogtalk und melde mich in den kommenden Tagen bei Ihnen, wenn ich das Interview fertig habe, das ich für die FR aus unserem Gespräch machen möchte.
Beste Grüße
Lutz „Bronski“ Büge
Sehr gerne, lieber Herr Büge, und zu danken habe ich: allein schon dafür, dass Sie sich des Themas angenommen und umso mehr, dass Sie ihm so breiten Raum gegeben haben. Ich freue mich von Ihnen zu hören!
Die von der katholischen Kirche ungern gesehenen Naturgesetze zeigen: Eine Kreatur oder auch eine Institution, die Veränderungen der Umwelt nicht wahrnehmen und keine notwendigen Anpassungen vornehmen will, wird aussterben. Diese Erkenntnis ist der katholischen Kirche vom Heiligen Geist bisher offensichtlich noch nicht offenbart worden. Die „Ewige Garantie“-Aussage bei der Schlüsselübergabe an Petrus wird dies nicht ändern.