Über Antje Vollmer und ihren Aufruf an die deutsche Linke zur Zusammenarbeit haben wir vor einem Dreivierteljahr hier schon breit diskutiert. Aus diesen Plänen ist nun die linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ geworden, an der Vollmer mitwirkt. Zusammen mit anderen InitiatorInnen, darunter an vorderster Front die Linken-Fraktionsvorsitzende im Bundestag Sahra Wagenknecht, soll „Aufstehen“ zu einer breiten Bewegung werden und dem so empfundenen Rechtsruck in Deutschland etwas entgegensetzen. Antje Vollmer darf mit Fug und Recht als „Streiterin für ein linkes Wir“ bezeichnet werden. Ob das für Sahra Wagenknecht im gleichen Umfang gilt, wage ich zu bezweifeln. Allzu oft hat sie in ihrer Partei, der Linken, ihre eigenen Positionen über die des Wir gestellt, der Partei. Es könnte passieren, dass auch bei „Aufstehen“ die Flüchtlingspolitik zum Spaltpilz wird, wenn es um das Ringen um gemeinsame Positionen und eine linke Haltung geht. Kein Wunder, dass „Aufstehen“ sogleich auf Kritik stößt: „Sahra Wagenknecht steht auf, andere winken schon ab „, hat  FR-Autor Markus Decker beobachtet, und Holger Schmale kommentiert: „‚Aufstehen‘ fehlt die Idee„. Im FR-Interview erzählt Sahra Wagenknecht von ihren Beweggründen.

VollmerNun ist allerdings „Aufstehen“ selbst erst einmal die Idee. Und insgesamt keine schlechte, denn wie Stephan Hebel kommentiert: „Es gibt viel zu bewegen„. Um ein Beispiel zu nennen: Viel zu lange hat die deutsche Öffentlichkeit hingenommen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Die Konzepte dagegen sind eigentlich bekannt (Steuern, Umverteilung, Bildungsoffensive u.a.m.), aber sie bleiben in der Schublade liegen, weil der politische Wille fehlt: In globalisierten Zeiten könnten die Investoren wegbleiben, wenn ihr Engagement in Deutschland in einem Maß besteuert wird, das sie als unangemessen empfinden. Dann gehen sie in andere Länder, wo die Steuerlast niedriger ist. Dieses Argument ist keineswegs völlig von der Hand zu weisen, aber es kann nicht dazu dienen zu rechtfertigen, dass deutsche Regierungen einfach nur zusehen, wie die Reichen immer reicher werden, während immer mehr Menschen in Deutschland abgehängt werden: Niederiglöhner, Alleinerziehende, arme RentnerInnen und natürlich auch Hartz-IV-BezieherInnen.

Es wäre ein großes Verdienst einer solchen Bewegung, wenn sie solche einfachen Gewissheiten stärker ins Bewusstsein der Menschen rücken würde. Ein weiteres Verdienst wäre es, wenn „Aufstehen“ das Bewusstsein dafür fördern würde, dass es in Deutschland eine strukturelle linksliberale Mehrheit gibt. Dazu gehören heutzutage sogar Teile der CDU, die von Kanzlerin Angela Merkel aus der konservativen Ecke herausgeholt wurde – um den Preis, dass dafür am rechten Rand ein Vakuum entstand, das nun von der AfD gefüllt wird. Doch obwohl es diese strukturelle Mehrheit gibt, wird daraus keine parlamentarische Mehrheit. Der hat sich die SPD nach der Wahl 2013 entzogen, als sie – anstatt zu versuchen, eine Regierung mit Grünen und Linken auszuhandeln – lieber in die große Koalition mit CDU/CSU ging. Ein Schritt, der in den Geschichtsbüchern möglicherweise einmal als großer strategischer Fehler der SPD stehen wird, denn er festigte den Trend ihres Niedergangs.

Aber nicht die SPD ist hier das Thema – um über ihre Entwicklung zu diskutieren, nutzen Sie bitte den Thread zu den 100 Tagen der Andrea Nahles -, sondern hier soll es um die Impulse gehen, die eine Bewegung wie „Aufstehen“ der Bundesrepublik geben könnte. Einfach nur ein aufklärerisches Gegengewicht zu den braunen Sümpfen zu etablieren, aus denen die AfD entstanden ist, das erscheint mir zu wenig. Wenn wir über ein linkes Projekt nachdenken, dann denken wir über die Zukunft nach. Dafür ist hier viel Platz.

Balken 4Leserbriefe

Jürgen Malyssek aus Wiesbaden:

„Sahra Wagenknecht sollte sich entscheiden, ob sie parteipolitisch die Linken stark machen will oder ob sie der Kopf einer neuen Bewegung werden will. Wenn sie das nicht auseinander halten will und kann, wird sie scheitern. Nun steht Wagenknecht nicht alleine da und hat Unterstützung von Antje Vollmer (Grüne), Marco Bülow (SPD) und Sevim Dagdelen (Linke).
Das ist schön und gut, soviel Prominenz, aber zur Stärkung der Partei Die Linke wird es nicht führen, zumal die Zerstrittenheit in der Parteiführung vor allem über die weitere Richtung in der Flüchtlingspolitik überhaupt noch keiner Lösung zugeführt worden ist.
Eine Bewegung muss von unten kommen, nicht von oben. Hilfreich sind Intellektuelle, von denen wir leider kaum noch was hören. Es muss von den Universitäten kommen. Es muss von der Straße kommen. Und es muss zu einer Unruhe kommen. Das ist ein Muss. Sonst können wir uns auch das Nachdenken über „1968 – 50 Jahre danach“ schenken. Ab in die Tonne der Geschichte! Ich zitiere den Sozialphilosophen Martin Saar (Uni Frankfurt): „Wenn etwas übrig ist von ‚68, dann wohl dieser Traum: Da fehlt etwas, das es jetzt nicht mehr gibt. Aber wenn es sich (re-) konstruieren lasse, dann wohl „auf den Trümmern und auch mit den Elementen von ‚68.“
Das wäre der großen Ungerechtigkeit in der Gesellschaft und der nicht eingelösten Teilhabeversprechens geschuldet. Eine Grande Dame zum „Aufstehen“ mag populär rüberkommen. Aber statt großer Gesten und Projekte, ist es dringend an der Zeit, Widerstand gegen Rechte, Nazis, Radikale, Rassisten und die Gleichgültigen zu setzen!“

Thomas Ewald-Wehner aus Nidderau:

„Mit „Aufstehen“ verbinde ich die holländische Gruppe „bots“, die vor 40 Jahren bei „Rock gegen Rechts“ auf dem Frankfurter Rebstockgelände mit über 100.000 Besuchern ein Fanal gegen die Neonazis setzten (damals noch auf „holländisch). Das Lied richtete sich an die vielen Benachteiligten, die gemeinsam (!) den Mut zur Gegenwehr finden sollten. – Die Bemühungen Sahra Wagenknechts gehen doch auch in eine solche Richtung.
Ich kann die Bosheit nicht nachvollziehen, mit der linke Zeitgenossen, diese Initiative bekämpfen. Die SPD verliert weiter dramatisch an Zustimmung; von „Erneuerung“ kann nicht die Rede sein. Jetzt liest man auch noch, dass die SPD sich ihr „historisches Gedächtnis“; ihrer „Historische Kommission“ aus finanziellen Gründen entledigt. Die „Grünen“ haben sich in Hessen (und nicht nur dort) in einer Koalition mit der CDU schön eingerichtet und fallen als Bündnispartner einer „linken“ Mehrheit gegenwärtig aus. Und die AfD „marschiert“ … Demnächst wird sie auch im Hessischen Landtag vertreten sein und auch dort gegen Minderheiten und Sozialpolitik hetzen. – Warum kann die „Partei Die Linke“ nicht mehr Menschen, die eine linke Orientierung haben, ansprechen und organisieren? Warum ist dieser Partei eine gute linke Dynamik und Entwicklung genommen worden?
Sahra Wagenknecht, Antje Vollmer und andere integre Linke haben doch recht: Wir brauchen neue Friedensinitiativen, den sozial-ökologischen Umbau, und eine Sozialpolitik die willens ist, vernünftige Sozialleistungen für die vielen Nichtbegünstigten zu organisieren. Und natürlich muss diskutiert werden, dass der Mangel an bezahlbaren Wohnungen zu unschöner Konkurrenz geführt hat, die finanziell gut ausgestattete Linke und Grüne nicht kennen. – Wenn die Linke sich nicht „sammelt“ und besinnt, werden spätestens die Auswirkungen der nächsten Wahlbewegungen (Landtagswahlen, Europawahl) die Riesenklatsche werden. Gar nicht will ich daran denken, wenn durch einen „Minsky“-Effekt die nächste große kapitalistische Krise ausgelöst und die politische Rechte den Riesensozialkahlschlag (vergleichbar mit „Griechenland!“) organisiert und die „Linke“ zerrissen und zersplittert darauf reagieren muss. – Deshalb wünsche ich mir mehr linke Bewegung und Sammlung!“

Manfred Kirsch aus Neuwied:

„Sicherlich ist es falsch, wenn man der neuen geplanten „Sammlungsbewegung“ von Sahra Wagenknecht mit Nazi-Vergleichen begegnet und sie pauschal als „rechts“ bezeichnet. Nun bin ich beileibe alles andere als ein SPD-Parteiegoist auch wenn ich dieser Partei Anfang des Jahres wieder beigetreten bin. Dennoch bin ich skeptisch, ob eine linke „Sammlungsbewegung“ der richtige Weg ist, um in dieser Republik wieder progressive Mehrheiten herstellen zu können. Man mag es nennen wie man will , aber ein SPD-Politiker aus Nordrhein-Westfalen liegt sicherlich nicht so ganz falsch, wenn er die SPD als älteste linke Sammlungsbewegung bezeichnet, die allerdings immer wieder Druck von links braucht. Erinnern wir uns: Zu Beginn der 1980 er Jahre hatten sich die damals als „neue soziale Bewegungen“ wie etwa die Friedensbewegung bezeichneten großen Initiativen auf den Weg gemacht die Republik im Sinne von mehr sozialer Gerechtigkeit, ökologischem Bewusstsein und gegen den damaligen NATO-Doppelbeschluss zu gestalten. Ich erinnere mich noch an die großen Demonstrationen wie etwa auf dem Bonner Hofgarten oder in Gorleben. Für die Jusos, bei denen ich damals aktiv war, bedeutete die Arbeit in den sozialen Bewegungen auch ein Stück ihrer „Doppelstrategie“, nämlich sowohl die Arbeit in den Institutionen als auch an der außerparlamentarischen Basis. Zumindest die SPD wurde dabei soweit verändert, dass am Schluss das „Nein“ zur Nato-Nachrüstung stand. Ich plädiere also dafür wieder im Sinne der alten Doppelstrategie auf die politischen Entscheidungsträger Druck auszuüben, um etwa in der öffentlichen Daseinsvorsorge etwas zugunsten der Menschen zu bewegen. Wenn sich die SPD dafür öffnen könnte und Bündnisgrüne und Linke ebenfalls, dann könnte aus einer solchen Bewegung auch eine
Anti-Rechts-Kampagne werden. Was die geplante linke Sammlungsbewegung betrifft komme ich allerdings aus den Erfahrungen mit Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht nicht umhin deutlich davor zu warnen, dass rechte und nationale
Töne in deren Selbstdarstellungsbedürfnis wieder hörbar werden könnten. Den beiden Protagonisten und anderen muss deutlich gemacht werden , dass jedwede Anbiederung an AfD-Töne verheerend sind. Eine linke Sammlungsbewegung muss immer und zwingend freiheitlich und internationalistisch sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann man linke Positionen für sich in Anspruch nehmen. Was wir brauchen ist eine breite Bewegung gegen die Gefahr von rechts und gegen Rassismus. Ich weiß nicht , wie glaubwürdiig eine solche Bewegung mit Wagenknecht und Co. sein könnte. Ich habe große Zweifel.“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:

„Während es in Radioberichten heißt, dass die neue Initiative „Aufstehen“ einen erstaunlichen Zulauf auslöse, sind viele Zeitungsberichte – auch der von FR-Autor Holger Schmale – deutlich kritischer. Generell wird von Versäumnissen der „klassischen „linken Parteien gesprochen und die neue Initiative könne mangels zündender Ideen keinen Ausgleich bieten. Nun fällt auf, dass schon seit geraumer Zeit beklagt wird, dass das linke Parteienspektrum in der Bundesrepublik nicht zu einer einheitlichen Front finde. Dieser rein statistisch gesamthafte Betrachtung der in Wirklichkeit sehr heterogenen linken Parteienlandschaft – Stichwort: es existiere doch eine linke strukturelle Mehrheit in der BRD – übersieht geflissentlich die gravierenden programmatischen Unterschiede zwischen der SPD und der Partei „DIE LINKE“.
Man wird sehen, ob der Initiative „Aufstehen“ (frz. Debout) , dennoch mehr gelingt, als bisher für möglich gehalten wird. Was allerdings unsinnig ist, ist eine Art von Zwangsverkoppelung linker Parteien herbei zu zitieren. So ist doch der konservative Vorwurf völlig absurd, Hitler hätte verhindert werden können, wenn SPD und KPD in der Weimarer Zeit gemeinsame Sache gemacht hätten. Die Nazis sind doch mit Hilfe bürgerlicher Parteien an die Macht gekommen.
Was die gegenwärtige politische Situation in Deutschland anbelangt, sollten sich die politischen Kommentare viel mehr den bedenklichen Zuständen in der Union zuwenden. Hier befehden sich CDU und CSU und dies stiftet doch erhebliche politische Unrast im gesamten Land. Es ist nicht Ziel führend, nur dem sogenannten linken Lager Verantwortung für die bundesrepublikanische Nation zu zuschieben, während die Unions-“Granden‘“ in Ruhe gelassen werden.“

Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:

„Alle, die nicht schweigen, auch nicht, wenn sich Knüppel zeigen, soll ‘n aufsteh‘n.“ Nein, das ist kein Satz von Sahra Wagenknecht, auch nicht von Oskar Lafontaine. Die Zeile ist einem Lied entnommen, das ab 1980 für einige Jahre sehr populär war. Es trug den Titel „Aufsteh’n“ und wurde von der niederländischen Gruppe „Bots“ gesungen. Auch mit einem anderen Lied ähnlichen Inhalts war diese sehr erfolgreich: „Das weiche Wasser bricht den Stein.“
Beide Botschaften wurden als politische Aufrufe verstanden. Sie einten über Parteigrenzen hinweg Jungsozialisten, ältere Sozialdemokranken vom linken Flügel der SPD, linke Grüne (vor allem solche, die über den Masseneintritt aus der Rechtspartei AUD empört waren) sowie nicht in den Parteien organisierte Atomkraftgegner und Friedensbewegte. Beide Titel waren sogar auf den Evangelischen Kirchentagen 1983 in Hannover und 1985 in Düsseldorf zu hören. Ebenso von Teilnehmern der Friedensdemonstrationen im Bonner Hofgarten (1981) und auf den Bonner Rheinwiesen (1982). Aber es waren nicht nur diese (und andere) Lieder, die eine Bewegung sichtbar machten, die augenscheinlich stärker war als die Studentenproteste der späten 60er Jahre. Ein erster politischer Erfolg war die rot-grüne Koalition in Hessen (1985). Und letztlich auch Gerhard Schröders Wahlsieg von 1998.
Vor diesem Hintergrund sind Zweifel an Ulrich von Alemanns These angebracht, die er im FR-Interview äußerte: Auch eine neue Bewegung könne dem Thema „soziale Gerechtigkeit“, das zwar viele Menschen bewege, nicht zum Durchbruch verhelfen.
Die von Alemann diagnostizierte aktuelle Schwäche des linken Parteienspektrums, das bei der letzten Bundestagswahl lediglich 38 Prozent der Stimmen erlangen konnte, ist jedoch vor allem eine der SPD. Sie hat innerhalb von 19 Jahren knapp die Hälfte ihrer Wähler eingebüßt. Mutmaßlich wegen der Agenda 2010. Als Martin Schulz im Frühjahr 2017 Korrekturen an dieser Politik andeutete, stiegen die Umfragewerte – so lange, bis ihn der rechte Parteiflügel zum Umfallen zwang. Darauf wies vor wenigen Tagen der undogmatische Linke Fabio de Masi in einem Interview mit dem Deutschlandfunk hin. Und begründete damit auch sein Eintreten für die Sammlungsbewegung „Aufstehen“.
Auf normalem Wege dürften SPD und Linke sowie der linke Flügel der Grünen eine rot-rot-grüne Koalition nicht hinbekommen. Es bedarf eines Drucks von unten – in diesem Punkt hat Alemann Recht. Doch wer verfügt über das notwendige Charisma, um ein solches Bündnis zu initialisieren und Strömungen zu kanalisieren? Andrea Nahles und Olaf Scholz scheiden aus, auch, weil sie es vermutlich gar nicht wollen. Sahra Wagenknecht könnte das gelingen, aber sie benötigte Unterstützung, sowohl von innerhalb als auch von außerhalb ihrer Partei.
Ein Blick nach rechts außen könnte die Notwendigkeit einer linken überparteilichen Sammlung besonders deutlich machen. Die AfD wurde auf einer Welle nach oben gespült, die von Pegida, NPD, Identitären, Querfront, Dritter Weg und nicht zuletzt von einer aktiven rechten Publizistik (Junge Freiheit, Antaios Verlag) in Bewegung gesetzt worden war. Alle, die nach einem neuen Reich mit den alten Verbrechen schreien, formieren sich längst. Die Linken und Linksliberalen hingegen warten mehrheitlich noch auf irgendeine Eingebung. Man möchte ihnen entgegenrufen: Aufwachen, Aufstehen!“

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Ein Kommentar zu “Eine Bewegung, die von oben kommt

  1. Zunächst zur Klarstellung, die notwendig erscheint, um nicht mit der generellen „Kritik“, das aus dem rechten Lager kommt, in einen Topf geworfen zu werden:
    Grundsätzlich halte ich die Idee einer linken „Sammlungsbewegung“ für richtig.
    Es geht in der Tat um die Frage,
    (1) ob „von oben“ überhaupt der richtige Weg ist, und
    (2) ob dies, nach ihren bekannten Positionen (insbes. in der Flüchtlingspolitik und gegenüber AfD-Positionen) unter Führung von Sahra Wagenknecht möglich erscheint.

    Zu (1)
    „Von oben“ ist streng zu unterscheiden von der Frage der theoretischen Fundierung.

    Ich bin gerade bei der Lektüre von Gretchen Dutschkes Neuerscheinung: „1968 – Worauf wir stolz sein dürfen“. Wobei der Titel (vielleicht vom Verlag etwas reißerisch gewählt) etwas verfehlt sein dürfte. Denn es handelt sich um eine recht sachliche Schilderung mit vielen Details aus der Sicht ihrer persönlichen Erfahrung.
    Aufschlussreich vor allem an den Anfängen der Studentenbewegung, dass dies damals sehr genau unterschieden wurde: Die (wohl notwendige) Existenz einer charismatischen Führungspersönlichkeit mit enormem theoretischen Wissen in der Person Rudi Dutschkes war keinesfalls gleichbedeutend mit Führung „von oben“.
    Erstaunlich die Lernfähigkeit gerade Rudi Dutschkes – im Unterschied zu den selbstdarstellerischen Dogmatikern um Kunzelmann, Teufel und Langhans, welche seine Idee der „Kommune 1“ klauten und pervertierten. Auffällig die Bemühung, jede neue Aktion mit der Theorie rückzukoppeln und daraus zu lernen. In diesem Sinne war es tatsächlich, wie Jürgen Malyssek sagt, eine „Bewegung von unten“.
    Insofern durchaus auch ein Modell dafür, wie eine solche „Bewegung“ sich entfalten kann.

    Zu (2)
    Zu den Prinzipien der 68er gehörte (zur Dutschke-Zeit) nicht nur der anti-autoritäre Ansatz, sondern auch die Solidarität mit der 3. Welt, insbesondere mit Vietnam.
    Ein Rudi Dutschke erkannte die Möglichkeit, über Thematisierung der Gräuel des Vietnamkriegs (und der Opfer auch für die USA), eine breite Protestbewegung bis weit ins bürgerliche und vor allem intellektuelle Lager zu erreichen.

    Zur aktuellen Diskussion:
    Die Flüchtlingsproblematik könnte heute ähnliche Relevanz und auch Funktion haben wie der Vietnamkrieg seinerseits. Sie könnte vielleicht auch ähnliches Potential entfalten.
    Beispiele:
    – Schlagzeile der TAZ von heute, 13. 8. (sehr sinniges historisches Gedenken!): „Seehofers Kreuzzug gegen Kirchenasyl“. Inhalt: Ausdehnung der Verantwortlichkeit bei Ablehnung der „Härtefälle“ durch das Bamf von 6 auf 18 Monate.
    – Ähnlich: Forderung an Bürgen von Flüchtlingen, auch nach Anerkennung (!) finanziell über Jahre für die Gebürgten aufzukommen.
    Mitunter in beiden Fällen eine Art soziale Kriegführung gegen alle, welche der Politik der radikalen Abschottung unter Inkaufnahme Tausender von Opfern (neueste Zahl allein für dieses Jahr: über 700) entgegenwirken.

    Diese menschenverachtende Politik mit dem Versuch der Umkehrung jeglicher Moral im Trumpschen Sinn berührt fundamentale christliche oder nur menschliche Grundüberzeugungen und enthält ein Empörungspotential, das sehr wohl in Widerstandaktionen umschlagen kann.
    Eine Gemeinsamkeit in dieser Hinsicht gibt es bei Anhängern aller „linken“ Parteien, aber auch bei überzeugten Christen. Diese wird gegenwärtig, aus Angst vor der AfD, von keiner der Parteien in angemessener Weise berücksichtigt. Allein die Grünen unter Führung von Habeck und Baerbock scheinen dies erkannt zu haben.

    Eine Bewegung, die dieses Potential zusammenfasst, ergibt also durchaus Sinn. Voraussetzung für möglichen Erfolg ist freilich, dass auch perspektivisch eine Orientierung gegeben werden kann (z.B. Was heißt „Bekämpfung von Fluchtursachen?“). Auch diese zu erarbeiten erscheint unter einer solchen Organisationsform günstiger als unter parteipolitischen Perspektiven, die von Reaktion auf Tagespolitik bestimmt sind.
    Ob freilich Sahra Wagenknecht die hierfür geeignete, charismatische und zugleich offene Persönlichkeit darstellt, wage ich sehr zu bezweifeln.

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