Das kleine Zimmer gleich hinter dem Misthaufen
(Originaltitel: Heim ins Reich)
von Rudolf Reeh
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Heim ins Reich — so lautete der zynische Nachruf der Tschechen für uns bei der Vertreibung aus dem Sudetenland. Welche Vorstellung hat ein Elfjähriger vom damaligen Reich, in das er ‚heimkehren‘ sollte? In Erinnerung hatte ich die vorgegaukelte innere und äußere Größe des Reichs aus den Propaganda-Wochenschauen vor den Spielfilmen, die ich hin und wieder in Gablonz anschauen durfte.
Zweimal war ich bereits auf Reichsgebiet jenseits des Sudetenlandes: Meine Mutter nahm mich 1942 zu einem Kurzurlaub mit nach Berlin, wo mich weltstädtisches Getriebe, ein Fußball-Endspiel im riesigen Olympiastadion, ein Besuch im Wintergarten-Variete´, vereinzelt zerbombte Häuser und U-Bahnfahrten tief beeindruckten. 1944 zerrte meine Mutter mich Staunenden über die Bahnsteige des Leipziger Bahnhofs, um den Anschlußzug nach Grimma noch zu erreichen, wo wir meinen Vater in einer Kaserne zu seinem Russlandeinsatz verabschieden wollten. Die Frage, was er denn eigentlich dort zu suchen hätte, stellte ich mir erst einige Jahre später, noch wollte ich Pimpf werden, auf der untersten Stufe der Parteidiktatur dienen, vor allem Ski-Wettkämpfe und Geländespiele mitmachen in dieser ach so begehrten Uniform mit Koppel und Schulterriemen.
Auf Erfahrungen mit Menschen aus dem Reich konnte ich nicht zurückgreifen. Die wenigen Begegnungen mit gleichaltrigen Kindern aus dem Programm „Kinderlandverschickung“ -Kinder aus bombardierungsgefährdeten Städten wurden aufs Land verschickt – waren zu kurz, um Bindungen aufbauen zu können. Allerdings war mir der Begriff „ Einquartierung“ geläufig; in den letzten Kriegsmonaten beherbergten wir in unserem Haus einige Male Familien, die, im Fuhrwerktreck aus Schlesien vor der heranrückenden Front flüchtend, kurzzeitig Unterschlupf suchten.
Nach dem Einmarsch der Russen in unser Dorf nahm ein Offizier für einige Wochen Quartier bei uns. Diese und andere Ereignisse rund um den Sturz des 3. Reiches mussten einen Pimpf wie mich verwirren. Der endgültige Zusammenbruch seines bisherigen sehr beschränkten eigenen Weltbildes geschah nach dem Besuch des Kinos in Gablonz, der erzwungen war von den nunmehr machthabenden Tschechen. Mit unglaublicher Wucht und geradezu traumatischer Wirkung auf das Gemüt und den Verstand eines einfältigen Elfjährigen gruben sich die entsetzlichen Bilder des Dokumentarfilmes über die Öffnung der deutschen Konzentrationslager durch die Alliierten ein. Ich war infolge einer infamen staatlichen Verführung einerseits, aber auch aus einer gesunden, natürlich gewachsenen Vaterlandsliebe andererseits stark mit dem, was man unter „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ verstand, verbunden, sodass ich verstört mit tiefen Scham- und Schuldgefühlen am Ende aus der Vorstellung flüchtete. Von da ab betrachtete ich manche vergangenen und künftigen Geschehnisse aus einem anderen Blickwinkel.
Für mein bisheriges kurzes Leben bedeutete die Vertreibung aus unserem Haus, aus dem vertrauten Dorf, aus der Geborgenheit einer weitverzweigten Familie und nicht zuletzt auch aus dem Freundeskreis die einschneidendste Zäsur. Diese Trennung rief wohl Trauer und Wehmut in mir hervor, nicht aber Hass auf die Verursacher des Leids. Ich erkannte und anerkannte die Vertreibung als logische Folge einer vorausgegangenen verbrecherischen Politik. Obendrein ist eine Vertreibung nicht nur eine schmerzhafte Erfahrung, sie ist für einen gesunden Jungen in meinem Alter auch etwas zutiefst Abenteuerliches, einen Schauer der widersprüchlichsten Gefühle, Stimmungen und Erwartungen hervorbringend.
So sprang ich am 19. April 1946 aus dem Viehwagon auf Weißenborner Boden, heim im Reich.- Wie bereits gesagt, ich hatte schon Berlin kennen gelernt und befand mich wenige Zeit später in Görzhain, einem kleinen Bauerndorf, in dem ich zwei glücklich gelebte Jahre verbringen durfte.
Was scherten mich die Schwierigkeiten des Bürgermeisters, mit all den Problemen fertig zu werden, die sich aus der Zwangseinweisung so vieler Menschen auf einen Schlag in seine Gemeinde ergeben! Wir brauchten ein Dach über dem Kopf. Und das erhielten alle und noch einiges mehr.
Heute bewerte ich die Eingliederung der vielen Millionen Menschen, die aus den Randgebieten in das Innere des weitgehend zerstörten, besiegten und besetzten Deutschlands strömten, gerade im Zusammenhang mit dem Lastenausgleich als eine der größten Leistungen, die je ein Staat erbracht hat. Und Görzhain mit seinen Menschen hat seinen angemessenen Anteil daran. Als einer der vielen Nutznießer jener ungeheuren Kraftanstrengung möchte ich an dieser Stelle vornehmlich den älteren Görzhainern meinen Respekt bekunden und meinen späten Dank aussprechen.
Das neue Zuhause.
Foto: privat
Meine Mutter und ich landeten auf dem Hof der Familie Blumenauer mitten im Zentrum des Dorfes, gleich hinter dem Misthaufen das kleine Zimmer, da wohnten wir 2 Jahre lang, zeitweilig zu dritt, weil meine ältere Schwester auch noch einzog. Es war eng, zugegeben, meine Schwester musste auf den 2 Kisten schlafen, die unsere gesamte Habe beinhalteten, und ich schlief mit meiner Mutter in einem breiten Bett. Ein Schwälmer Stockwerkofen lieferte Wärme, weil er unheimliche Mengen Holz fraß, Holz, das wir auf dem Rücken aus dem Wald schleppten. Ein kleiner Tisch, zwei Stühle, das war die Ausstattung, an einen Schrank kann ich mich nicht erinnern. Ja, und was macht denn nun dabei glücklich?
Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Gut, Görzhain liegt nicht am Mississippi, aber der alte Steinbruchteich am Sebbel hinter dem Ottrauer Bahnhof ist auch nicht zu verachten, man kann dort ein Floß bauen und herumschippern, Laubfrösche fangen, dunkelbraune Schilfkolben paffen, übergroße Ringelnattern am hinteren Ende aus einer Röhre ziehen und kurz danach entsetzlich stinken, weil Ringelnattern das nicht so gerne haben und einen weißen Saft aus der Kloake verspritzen.
Durch Görzhains Fluren schlängeln sich zwei Bäche, damals zumindest voller Forellen, die meinem Freund und mir viele Stunden lustvolle Jagd abverlangten. Mit den Händen, versteht sich. Nur einmal verging mir die Lust, als ich statt der Forelle eine Wasserratte an die Innenseite des Bachbettes drückte.
Eine maximale Strecke von 9 kapitalen Forellen fischten wir mit der Staumethode eines Tages kurz oberhalb der ersten Mühle ab. Eine strategische Meisterleistung, weil in kürzester Zeit zahlreiche Rasenbatzen und Steine als Staumauer aufgeschichtet werden mussten. Den gesamten Fang teilten wir nicht etwa auf, um unseren Müttern eine seltene Freude zu bereiten, nein, wir verscherbelten die Beute ausgerechnet an einen Freund oder Verwandten der Familie Blumenauer aus Kassel, der irgendetwas mit der Jagd zu tun hatte. Er zeigte uns nicht an wegen Wilddieberei, er nahm die Forellen mit Freude. Ich glaube, wir legten danach unser ergaunertes Geld in „Quatsch“ an, der einzig käuflichen Limonade jener Tage, ein rotgefärbtes gezuckertes Gebräu.
Das liefert mir das Stichwort zu einer anderen bedeutsamen in den Schulsektor gehörende Begebenheit: „ Quatsch“, eine zerbeulte 2 Liter fassende Alu-Milchkanne voller süßer roter Brühe war das Entgelt für einen alten, freundlichen Herrn, dessen Name mir entfallen ist, der einen Nachmittag lang auf seiner Ziehharmonika uns Schülern zum Tanz aufspielte. Ein unerhörtes Begehren von uns forschen Knirpsen, schon tanzen zu wollen, auch noch in der Schule. Der Bürgermeister, dem ich unser Anliegen vortrug, stutzte- und genehmigte. Unser Musikus beherrschte vornehmlich Lieder wie „Waldeslu-hu-hust“, also Walzer, das war mir gerade recht, denn den Dreivierteltakt mochten meine Beine; und den Walzer mit der scheuen Elisabeth behalte ich als Höhepunkt des Nach- mittags gern in Erinnerung.
„Ein Stock aus Weißdorn
ist gut für allen Weiberzorn“:
das Backhaus.
Foto: privat
Was braucht ein langsam in die Pubertät schlitternder Junge noch, um sich glücklich zu schätzen? Er braucht vor allem Freiheit; Freiheit von jeglicher Bevormundung, der elterlichen sowohl wie der schulischen, und er braucht die nötige Zeit, diese Freiheit zu nutzen, und schließlich braucht er einen Freund, einen eben wie Huckleberry Finn, der die gleiche Sehnsucht nach Freiheit und freier Zeit mit ihm teilt. Dann benötigen beide noch Natur, reichlich Wald, Wiesen , Wild, halbreifes Obst an den Bäumen und jede Menge Zwillen. Dieses ortsansässige Wort mochte ich nicht. Das entsprechende aus meiner Heimat lautete „Gummischnappe“, es war, wie mir jeder bestätigen muss, viel sinnfälliger.
Mein Freund Günter mit Nachnamen „Wind“ und ich besaßen das alles: Freiheit, weil unser beider Väter fehlten, und Mütter allein sowieso zu Aufsichtspersonen für Jungen sich nicht eignen, keine Polizei weit und breit; Zeit: keine Schule, keine Hausaufgaben, keine Vereine, keine Klavier- oder sonstige -Stunden; Natur: pur, Görzhain liegt wie mitten im Paradies!
Und wir wussten es zu nutzen. Eines Tages stießen Günter und ich auf einen unflüggen Kuckuck. Wir nahmen natürlich an, dass ihn die inzwischen überforderten Zieheltern einfach aus dem Nest geworfen hatten und wir deren Pflichten nun zu übernehmen hätten. Frau Wind übernahm die ihre, sie putzte nun künftig einen alten Vogelkäfig.
Nach einer Woche intensivster immer beschwerlicher werdender Regenwurmsuche waren wir fast so weit wie die vormaligen Zieheltern mit dem Rauswurf, da nahm uns der junge Kuckuck die Entscheidung ab und ertränkte sich bei einem Freigang in einem dumm herumstehenden Wassereimer.
Gewissermaßen die prähistorische Geschichte zur Geschichte des Rasthauses am Rimberg kann ich liefern: Bei einem unserer Pirschgänge an der wenig bis nicht genutzten Autobahn entlang stießen wir auf ein amerikanisches Armeefahrzeug, unterdessen Kühlerhaube zwei Soldaten sich eifrig um eine Reparatur mühten. Es war sehr heiß, und die Beiden schwitzten. Wir beobachteten respektvoll aus Distanz; russische Soldaten kannte ich, die waren eigentlich freundlich zu Kindern, die hatten mich in Reinowitz (aus diesem Ort stamme ich) in Lastwagen, die demontierte Maschinen aus dem Zeisswerk zum Bahnhof transportierten, für ein paar gestohlene Äpfel sogar mitfahren lassen; aber mit amerikanischen Soldaten hatte ich keinerlei Erfahrung. Dennoch traten wir näher, als sie uns zu sich riefen. Soviel verstanden wir aus ihrer Gestik, sie hatten Durst, großen Durst. Wir sollten sie tränken.
Die Soldaten waren verrückt. Sie kannten auch nicht die Entfernung nach Görzhain, für Kinderbeine wohlgemerkt! Das würde Stunden dauern, bis sie ihre Flaschen hätten. Wir vertrauten schließlich ihrer Unfähigkeit, die Reparatur vor unserer Rückkehr erledigt zu haben, und rannten los. Erst Geld bei der Mutter holen, dann zwei Flaschen Wasser bei Hahns, dann wieder zurück- alles unter Zeitdruck und Angst vor Vergeblichkeit, das Wasser in den Flaschen musste fast kochen, so heiß war der Tag.
Auf halber Strecke, dort, wo der Bachlauf der Straße am nächsten kommt, holten wir uns die riesigen Blätter einer Sumpfpflanze zur Kühlung. Schließlich hielten die Soldaten ihre Flaschen an den Mund. Und sie bezahlten uns fürstlich in US-Währung. Auf dem Rückweg das 4.Mal dieselbe Strecke- rechneten wir. Und rechneten den Gewinn aus diesem famosen Geschäft, vergaßen allerdings den Stundenlohn für uns zwei einzubeziehen, weil wir noch keinen hatten, und kamen zu dem Schluss: Auf jene Ausbuchtung der Autobahn müssen wir ein Wasserhäuschen bauen. Wir hatten sogar schon – natürlich in Englisch- die Beschriftung des Häuschens im Kopf: „Refreshments“ sollte weithin zu lesen sein. Das Vorhaben unseres großen Geschäftes scheiterte leider an den unüberschaubaren Problemen der Ausführung. Doch die Idee war richtig und durch uns geboren. Wir erheben aber keinerlei Ansprüche an die jetzigen Betreiber des Rasthauses am Rimberg.
Die ökonomischen Bedingungen für uns Flüchtlinge waren in den Jahren 46 bis 48 selbst in einem Bauerndorf nicht besonders rosig. Es gab Monate, da konnte der Bezug auf Lebensmittelkarten ergänzt werden durch mehr oder weniger fette Wurstbrüh oder Dreschkuche; oder mit mehr oder minder großer Sammelleidenschaft gestoppeltes Getreide in Mehl umgetauscht werden oder Bucheckern zu Öl. Beeren aller Art wurden heimgeschleppt und Pilze!
Vertriebene
in Görzenhain.
Foto: privat
Weil meine Mutter aus großen Steinpilzkappen auch richtige Schnitzel backen konnte, waren diese echter Fleischersatz. Hin und wieder , wenn wir bei der Feldarbeit mithelfen durften, gab es eine von der Oma zubereitete kräftige weiße Specksoße zu Kartoffeln, das war jedes Mal ein Fest für meinen Bauch. Wenn die Golle oder Frau Blumenauer selbst ein Wochen altes im Dorfbackhaus gebackenes Brot aus der Truhe holte, und der Duft dieses wunderbaren Brotes sich ausbreitete, erging es mir wie dem Pawlow`schen Hund nach dem Glockensignal: Es bildete sich reichlich Speichel im Mund.
Seit dieser Erfahrung mag ich kein frisches Brot und bevorzuge schön abgelagertes. – Übrigens, was mir zum Brot noch einfällt: Den aus der Vorzeit der Emanzipation stammenden, über der Backhaustür eingeritzten Spruch: „Ein Stock aus Weißdorn ist gut für allen Weiberzorn“ habe ich wohl bewundert und verinnerlicht, aber nie beherzigt.
Bleiben wir noch ein wenig beim Kulturangebot unseres Dorfes vor der Fernsehzeit: An Ostern waren wir eingetroffen und zu Pfingsten hatte ich schon meinen ersten gewissermaßen öffentlichen Auftritt in Sachen Heimatbräuche. Ich wurde ruckzuck im wahrsten Sinne des Wortes in Folklore eingebunden: Man trieb mich wie einen Tanzbär durchs Dorf, nachdem eine ganze Horde Kinder mich im Wald vollständig mit grünen Zweigen eingeschnürt und danach auf einem Leiterwägelchen ins Dorf gekarrt hatten. Ich durfte erst- und letztmalig „Pfingstmännchen“ sein.
Der Autor in seiner Rolle
als Sandmännchen.
Foto: privat
Etwas anspruchsvoller war mein zweiter öffentlicher Auftritt in Görzhain zunächst und anschließend sogar in Oberaula und Neukirchen wiederum als Männchen (ich hätte viel lieber richtige Männerrollen übernommen ), diesmal als Sandmännchen in Humperdincks Märchen „Hänsel und Gretel“. Ich musste wohl schauspielerisches Talent haben, denn in den auswärtigen Aufführungen wurde ich vor Beginn des ersten Aktes vor den Vorhang geschickt, gewissermaßen als Conferencier. Diese Bewährungen reichten aus, um meinen Bezug zum Theater bis zum heutigen Tag aufrecht zu halten: Meine kleinen Enkel und ihre Freunde sind begeisterte Zuschauer, wenn ich in meinem eigenen Kasperletheater selbst geschriebene Stücke spiele. Dank sei gesagt dem Schauspieler-Ehepaar Schöppe für ihren aufwändigen Einsatz, auch im Namen meiner Enkel.
Wenn ich schließlich ein Fünfunddreißigstel meiner Lebenszeit, also zwei Jahre, in Görzhain in einem Satz zusammenraffen wollte, käme ein neuer Spruch über der Tür des Backhauses heraus:
Brot zu essen macht satt.
Brot zu backen macht glücklich.
Dieser Text erschien im Jahr 2004 im Buch „Görzhain — Ein Haus- und Heimatbuch“
Rudolf Reeh, Groß-Umstadt.
Foto: privat