Kleine Oppositionsparteien im Bundestag haben keinen Anspruch auf mehr Kontrollrechte, schreibt FR-Korrespondentin Ursula Knapp über das Urteil des Bundesverfassungsgesetzes. Das gilt auch, wenn große Koalitionen mit einer erdrückenden Mehrheit regieren. Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur eine Klage der Linken abgewiesen. Der Zweite Senat hat zudem klargestellt, dass die aktuellen Zugeständnisse der Mehrheit an Linke und Grüne jederzeit zurückgenommen werden können. Der Zweite Senat begründet seine Entscheidung mit dem eindeutigen Wortlaut des Grundgesetzes und dem Willen der Grundgesetzgeber. Dazu als Gastbeitrag ein langer Leserbrief, den ich gekürzt heute im Print-Leserforum veröffentlicht habe.
Die Opposition kann ja noch die Zähne fletschen
oder Ohnmächtige Opposition im Parlament –
ist das wirklich der Wille der Verfassungsväter?
Gastbeitrag von Rolf Legien, München
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Das Bundesverfassungsgericht hat eine Klage der Linken, mit der die Oppositionsarbeit in zwei nicht unwesentlichen Punkten hätte erleichtert werden sollen, mit seiner Entscheidung vom Mai 2016 abgeschmettert. So sollte die Normenkontrollklage (Überprüfung eines Gesetzes auf seine Verfassungskonformität) auch von weniger als einem Viertel der Abgeordneten beantragt werden können (angesichts der zahlreichen Entscheidungen des Gerichts zu Gunsten der jeweiligen Kläger kein so ganz unberechtigter Wunsch). Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses sollte trotz Unterschreitens des Quorums (25 %) als zulässig festgeschrieben werden, wenn – das ist der in beiden Fällen springende Punkt – die Opposition diese Mehrheit selbst nicht aufbringen kann. Das ist in der seit 2013 laufenden Legislaturperiode der Fall.
Der Bundestag hat – bemerkenswertes, aber seltenes Zeugnis von lauterem Demokratieverständnis – in dieser Legislaturperiode der unter dem Quorum gefesselten Opposition über die Geschäftsordnung immerhin die Möglichkeit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses eingeräumt. Aber das ist ein Gnadenrecht, es verliert seine Gültigkeit mit Ablauf der Legislatur – die Klagepartei wollte dieses Recht gern festgeschrieben haben. Die Befugnis zur Erhebung einer Normenkontrollklage konnte die Bundestagsmehrheit gar nicht einräumen, weil der klare Wortlaut des Grundgesetzes dem entgegensteht (an dem auch das Bundesverfassungsgericht nicht vorbeizukommen meinte). Eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung könne der Bundestagsmehrheit nicht vorgeschrieben werden (so steht es zwar nicht im Urteil, aber von einer solchen Überlegung ist das Gericht ja wohl ausgegangen, dabei ignorierend, dass es dem Gesetzgeber nicht selten schon vorgeschrieben hat, in welcher Weise ein beanstandetes Gesetz verfassungskonform abzuändern sei).
So, wie es die Opposition haben möchte, geht es nicht, sagt das Gericht, denn „Mehrheit ist Mehrheit“ (so hat es auch der Pole Kaczynski gehalten). Die Parlamentsmehrheit darf ihr Mehrheitsrecht zwar (auch gnadenweise) ausleben, weshalb die zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses von der Bundestagsmehrheit eingeräumte Befugnis vom Gericht nicht beanstandet wird, weil es dem per Geschäftsordnung zu regelnden Willen der Mehrheit der Abgeordneten entsprach. Gleichwohl wird dies als systemwidrig (weil dem Gedanken des Grundgesetzes widersprechend) beurteilt. Denn das Grundgesetz kenne unter den Abgeordneten keine Klassenunterschiede, es kenne nur Abgeordnete, aber keine Abgeordneten der regierenden Parteien und Abgeordnete der Oppositionsparteien (auch keine Abgeordneten der Mehrheit oder der Minderheit?). Sie seien alle gleichgestellt, es gebe keine Privilegien – weder für die einen, noch für die anderen. Allerdings ergibt sich daraus eigentlich auch, dass es keine Beschneidung der Rechte der Minderheit geben dürfte – aber so weit hat das Gericht wohl nicht denken wollen.
Das wird Folgen haben für die Zukunft – weil Fairness unter Berufung auf das vorliegende Urteil des Bundesverfassungsgerichts unter dem Einfluss von profilierungssüchtig nach vorne drängenden Hardlinern (die es immer mehr geben wird) nicht mehr geübt werden, Gnadenrechte einzuräumen nicht mehr möglich sein wird.
Die Verfassungslage geht von unterschiedslosen, unprivilegierten, gleichgestellten Abgeordneten aus. So sieht es auch das Bundesverfassungsgericht, das der ihre unzureichenden Befugnisse beklagenden Opposition in beispielloser Naivität vorhält, es sei ihr ja unbenommen, Abgeordnete der Regierungsfraktionen auf ihre Seite zu ziehen und somit – also durch bessere Argumente – für eine ausreichende Mehrheit zur Erfüllung des Quorums zu sorgen.
Diese Sicht entspricht aber nicht der politischen Praxis, der Verfassungswirklichkeit, wie sie sich in den Demokratien weltweit und auch bei uns darstellt: Die Abgeordneten beider Lager unterliegen dem (nur gelegentlich in Gewissenfragen aufgehobenem) Fraktions- und bedingungslosen Gefolgschaftszwang. Zwar gebietet die Verfassung, alle Abgeordneten seien nur ihrem Gewissen verpflichtet und an Direktiven ihrer Wähler, ihrer Partei und ihrer Fraktionsführung nicht gebunden. Wer es aber wagt, dagegen eigenverantwortlich seinem Gewissen statt der Fraktionslinie zu folgen, gerät zum Outlaw, der spätestens bei der nächsten Wahllistenaufstellung erfahrungsgemäß nicht mehr in Erscheinung treten wird. Das sorgt schon für Disziplin. Dieses Phänomen ist übrigens in beiden Lagern (Regierungskoalitionen und Opposition) zu konstatieren.
Indem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von einer (im vorgenannten Sinne realitätsfernen) Gleichheit aller Abgeordneten ausgeht, die einer Privilegierung Einzelner oder eines Lagers entgegensteht (also auch der Minderheit keine besonderen Minderheitsrechte zugesteht, die der Arbeit der Opposition die für ihre Effektivität notwendige Power verleihen würde), folgt das Gericht der naiven Vorstellung, das gesamte Parlament – die Legislative – kontrolliere die Regierung. So wie es das Prinzip von Checks and Balances vorsieht, das erstmals in der Verfassung der Vereinigten Staaten, beeinflusst von europäischen Denkern wie Alexis de Tocqueville, kodifiziert worden ist.
Die Realität sieht anders aus: Die den Regierungsparteien angehörenden Abgeordneten sehen ihre Aufgabe darin, die Vorhaben der Regierung abzusegnen und gegen Vorhaltungen zu verteidigen, die Abgeordneten der Opposition nehmen ihre Kontrollfunktion so ernst, dass sie mitunter – und gar nicht so selten – Vorhaben der Gegenseite ungeachtet überzeugender Argumente allein deshalb ablehnen, weil sie von der Gegenseite kommen. Umgekehrt ist das genauso – was von der Opposition kommt, muss abgelehnt werden, auch wenn die Vorhaben sinnvoll sind. Man kann ja nach Verstreichen einer Schamfrist eine eigene entsprechende Initiative starten, nicht originalgetreu übernommen, sondern leicht abgewandelt vorgebracht, was dann die Ablehnung durch die Opposition provoziert (wer wundert sich darüber, dass der Wähler sich von solchen Spielchen mit der Verantwortung für das Wohl des Volkes angewidert abwendet?).
Das Grundgesetz kennt die Opposition als ein wesentliches Element für das Funktionieren der Demokratie. Opposition kann danach nur als effektive Opposition verstanden werden, die über die gleichen Rechte verfügen muss, wie die Regierungsmehrheit. Das ist schon deshalb illusorisch, weil hinter der Regierung ein gewaltiger Apparat von Technikern der Macht und des Rechtes steht, dem die Opposition mangels äquivalenter Mittel nichts entgegenzusetzen hat, weshalb ja auch Gesetzesinitiativen hauptsächlich von der Regierung ausgehen und die Legislative nur, wie dargestellt, reagieren kann.
Demokratie kann nur funktionieren, wenn ein Wechsel aus der Opposition in die Regierung möglich ist. Diesen möglichen Wechsel zu verhindern, bemühen sich zunehmend erfolgreich die Erdogans, Kaczynskis, Putins, al-Sisis und ihre Jünger, die weltweit immer mehr werden.
Checks and Balances – oder: Mehrheit ist Mehrheit. Die Zukunft wird es zeigen, wohin dieser Weg führt. Er ist längst beschritten, auch das Bundesverfassungsgericht – einst konsequenter Hüter des Demokratiegedankens – hat den Weg nun freigemacht. Es stößt sich nicht daran, dass die Opposition zahnlos ist, denn sie kann ja noch die Zähne fletschen.
Eine Fragmentierung der Parteienlandschaft ist, besonders in Deutschland, ausgesprochen gefährlich. Man sollte das wissen. Eine der wenigen Wortkombinationen, in denen ich das Wort „Volk“ ertragen kann, ist das Wort „Volkspartei“.
Es ist schon lange Zeit davon die Rede, daß die Volksparteien sich darauf einstellen müssen, die Randständigen nicht zu verlieren. Man muß aber auch darauf hinweisen, daß die Randständigen die Pflicht haben, sich in das Parteiensystem zu integrieren. Eine Zerfledderung der Parteienlandschaft wird zu mehr Radikalität führen, und wenn jeder XY seine Meinung zur Partei erheben kann, wird die Demokratie zur blossen Selbstdarstellung mit dem Willen zur Macht.
Zur Demokratie gehört auch, daß man sich nicht so wichtig macht.
Ich bin sicher, daß die Sonderrechte, die die jetzige Opposition einfordert, später in den Händen der Unrechten erheblichen Schaden anrichten werden.
„Die Befugnis zur Erhebung einer Normenkontrollklage konnte die Bundestagsmehrheit gar nicht einräumen, weil der klare Wortlaut des Grundgesetzes dem entgegensteht (an dem auch das Bundesverfassungsgericht nicht vorbeizukommen meinte). Eine entsprechende Änderung der Geschäftsordnung könne der Bundestagsmehrheit nicht vorgeschrieben werden (so steht es zwar nicht im Urteil, aber von einer solchen Überlegung ist das Gericht ja wohl ausgegangen, dabei ignorierend, dass es dem Gesetzgeber nicht selten schon vorgeschrieben hat, in welcher Weise ein beanstandetes Gesetz verfassungskonform abzuändern sei).“ (Rolf Legien)
Wenn ich das lese, frage ich mich, was sich Herr Legien unter einem Verfassungsgericht vorstellt. Das Verfassungsgericht hat nur eine einzige Aufgabe: Zu prüfen, ob ein Gesetz verfassungskonform ist. Das geht, wenn der Verfassungstext präzise genug ist, direkt am Wortlaut der Verfassung oder, wenn es sich um die grundsätzlichen Werte wie Menschenwürde handelt, die zwangsläufig nicht so genau definiert werden können, anhand des in langer Arbeit in Kommentaren herausgearbeiteten „Willens der Verfassungsväter“. Aber wenn der Wortlaut eindeutig ist, ist er bindend. Da meinen die Richter nicht nur, dass sie da nicht vorbeikommen können, sie sind genau dafür da, dass daran niemand vorbeikommt. Und genau das ist auch die grundsätzliche Basis jedes Rechtsstaates: Die bindende Wirkung gesetzlicher Texte.
Und genau so hält es sich mit Vorschriften des Verfassungsgerichtes an den Gesetzgeber: Wenn das Gericht zu der Auffassung gekommen ist, dass ein Gesetz verfassungskonform ist, ist das die einzige Aussage, zu der es ermächtigt ist – Punkt; auch das Verfassungsgericht hat kein Wunschrecht. Anders verhält es sich nur, wenn das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Dann hat des die Möglichkeit, dem Gesetzgeber Vorschläge zu machen, wie er seinen Willen in eine verfassungsgemäße Form bringen kann, oder wo er seinen Willen begrenzen muss, um innerhalb der Verfassung zu bleiben.
Wir sollten nicht vergessen, dass auch unser Grundgesetz nicht für ewig in Stein gemeißelt und unveränderlich ist. Immerhin gab es seit seiner Einführung 60 Änderungen. Natürlich werden diese mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat herbeigeführt, aber die Änderungen beweisen, dass man nicht immer nach dem Willen der „Verfassungsväter“ gefragt hat, weder bei der Einführung der Bundswehr noch bei der Einschränkung des Asylrechts. Das ist auch akzeptabel, denn Verfassungen werden in einer bestimmten historischen Situation von Menschen geschrieben und erheben zum Glück nicht, wie die „heiligen Bücher“ der Religionen, den Anspruch, von Gott diktiert worden zu sein.
Nicht zu bestreiten ist allerdings die Richtigkeit von Frank Wohlgemuths Einwand, dass das Verfassungsgericht im gegebenen Fall keine Änderung herbeiführen kann, auch wenn die derzeitige Verteilung von Regierung und Opposition eine gefährliche Machtkonzentration mit sich bringt, die dringend einer effektiven Kontrolle bedarf.
An diesem Punkt kann ich BvG nicht zustimmen: Gegen eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, die einer effektiven Parlamentsarbeit im Wege stehen könnte, haben wir bereits das Instrument der 5%-Klausel. Gefählicher waren in unserer Geschichte doch eher die Situationen, in denen die Opposition versagt hat, wie z.B. bei der Einführung des Ermächtigungsgesetzes 1933. Ich sehe also eher Gefahren dort, wo eine Große Koalition mit überwältigender Mehrheit angeblich „alternativlos“ durchregiert, als bei den kleinen Parteien am Rand. Zum Glück bilden die derzeitigen regierenden Parteien keine völlig geschlossene Phalanx (siehe die innerparteilichen Diskussionen zu TTIP und zur Verteilunsgerechtigkeit), so dass man nur hoffen kann, dass ein Teil der klassischen Oppositionsarbeit derzeit von Teilen der Koalition selbst geleistet wird.
Den Hinweis von Rolf Legien auf „die Erdogans, Kaczynskis, Putins“ in Zusammanhang mit diesem BVG-Urteil halte ich für unangebracht. Geht es bei letzterem um verfassungsgemäße Rechte einer Opposition, so haben die ersteren die Gewaltenteilung an sich im Visier bzw. schon lange im Interesse der Verewigung eigener Macht ausgehebelt, was sich besonders deutlich am Ignorieren von Gerichtsurteilen bzw. deren Vorgabe durch die Regierungsadministration zeigt. Ein völlig anderer Fall und nicht vergleichbar.
Auch kann ich nicht erkennen, weshalb durch dieses BVG-Urteil der Wechsel „aus der Opposition in die Regierung“ unmöglich gemacht werden soll. Daher stimme ich auch den Ausführungen von Frank Wohlgemuth zu.
@ BvG sagt: 17. Mai 2016, 21:22 :
„Eine Fragmentierung der Parteienlandschaft ist, besonders in Deutschland, ausgesprochen gefährlich. (…) Eine Zerfledderung der Parteienlandschaft wird zu mehr Radikalität führen.“
Auch wenn ich keinen direkten Zusammenhang mit dem Gerichtsurteil sehe: Genauere Überlegungen zu diesen Hinweisen können hilfreich sein.
Dabei ist die Zersplitterung der Parteienlandschaft als Vorstufe für den Umschlag in das Gegenteil der absoluten Majorität einer Partei („Volksherrschaft“) anzusehen. Bedingt erstere unstabile politische Verhältnisse (Weimar, Italien der Nachkriegszeit) und politische Lähmung, so ist letztere insofern weit gefährlicher, als sie auch die Gewaltenteilung zumindest partiell aufhebt. Das gilt auch für den „Populismus“ eines Berlusconi und zeigt sich tendentiell an der „direkten Demokratie“ nach Schweizer Modell, die nicht von ungefähr von populistischen und radikalen Parteien so hochgelobt wird. Diese tendiert dazu, juristische Abwägungen (so unbefriedigend sie im Einzelfall sein mögen) durch Bauchgefühl zu ersetzen und somit Fremdenfeindlichkeit, Aggressivität gegen Minderheiten und Chauvinismus zu bestärken.
Dies zeigt sich auch im Fall der Schweiz, nicht nur etwa am „Minarett-Volksentscheid“, sondern auch in der Nichtanerkennung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sofern sie etwa die extrem rigide und z.T. menschenrechtswidrige Abschiebepraxis der Schweiz betreffen. Z.B. Abschiebung eines seit über 12 Jahren in de Schweiz ansässigen Ausländers und Zerreißen der Familie wegen eines Begatelldelikts. Ich beziehe mich dabei auf eine Dokumentation des Europamagazins auf Arte/Phoenix.
Der Kernpunkt scheint mir bei allen „populistischen“ bis autoritären Herrschaftsformen die direkte oder implizite Außerkraftsetzung der Gewaltenteilung zu sein, wobei zudem eine gewaltfreie Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen als eher oder sehr unwahrscheinlich anzusehen ist.
@ Brigitte Ernst
„…denn Verfassungen werden in einer bestimmten historischen Situation von Menschen geschrieben und erheben zum Glück nicht, wie die „heiligen Bücher“ der Religionen, den Anspruch, von Gott diktiert worden zu sein.“ (Brigitte Ernst)
Da kann und will ich nicht widersprechen. Und „Verfassungsväter“ sind auch nicht nur die, die uns nach dem Krieg eine neue Verfassung gegeben haben, diesen Titel bekommen automatisch auch alle die, die diese Verfassung umschreiben (werden). Verfassungsänderungen, das heißt Anpassunge der Verfassung an die Zeit, sind in der Verfassung gewollt – aber eben mit Hürden versehen.
Aber diese Änderungen können nur vom Parlament ausgehen und nicht von einem Gericht, und deshalb kann man dem Gericht nicht vorwerfen, hier keine Änderung anzustreben. Das war mein Punkt.
Eine Verringerung der Hürden für eine Normenkontrolle aus dem Parlament würde ich auch begrüßen.
@Engelmann
Es ging mir darum, daß verbriefte Sonderrechte für kleine Parteien einer solchen Zersplitterung Vorschub leisten.
Gleichwohl ist das Argument von B.Ernst ernstzunehmen, der Mehrheit nicht die Möglichkeit zu geben, Opposition einfach beiseitezuschieben. Dagegen müsste man aber andere Mittel finden, als Ungleichgewichte im Parlament.
Nachdem nun der Wind abgeflaut ist, drängt es mich doch zu ein paar Anmerkungen: Herr Wohlgemuth fragt sich, was ich mir denn unter einem Verfassungsgericht vorstelle, dieses habe gar nicht anders als wie geschehen urteilen können.
Ich stelle mir ein Verfassungsgericht so vor, wie es sich früher mehrfach hervorgetan hat – sensibel für Gefahren, die der demokratischen Verfasstheit des Staates drohen und auch findungsreich auf Auswege bedacht, die das geschriebene Recht und ihre Autoren nicht beschädigen, aber dem Rechtsuchenden Beistand leisten.
Solch ein Verfassungsgericht ist nicht auf das Urteil schwarz oder weiß beschränkt, wie ja auch Herr Wohlgemuth konstatiert, aber es habe im Fall der Erkenntnis, dass die beanstandete Norm verfassungsgemäß sei, nichts mehr zu tun. Punkt. Soweit – so richtig.
Immerhin hat sich das Gericht aber im vorliegenden Fall die offenbar nicht ganz abwegige Frage gestellt, ob ein Verfassungswandel zu beobachten sei, der Anlass geben könnte für eine Neuinterpretation (sic!) des Grundgesetzes. Es hat die Frage verneint und ist so folgerichtig und zwangsläufig zu seiner dann einzig möglichen Entscheidung gelangt (Herrn Wohlgemuth ist zuzustimmen, dass im Falle der Feststellung von Verfassungskonformität dem Gericht nichts anderes übrig bleibt, als die Akten zuzuklappen, aber davor steht eben die Frage, ob die beanstandete Norm – noch – als verfassungsgemäß anzusehen ist).
Genau darum geht es mir, wenn ich den Blick auf Sensibilität und Findungsreichtum zu lenken versuche (ich bin ja nicht allein mit meinem Unbehagen an diesem Urteil – selbst wenn man die Klagepartei außer Betracht lässt).
Denn wer wie Herr Wohlgemuth meint, der Wortlaut des Gesetzes sei bindend, wenn er nur eindeutig sei, der verkennt, dass Verfassungsgerichte – die gibt es ja auch in den Ländern – in der Vergangenheit auch schon mal am eindeutigen Wortlaut einer Vorschrift vorbeinterpretiert haben (nicht immer zum Wohle des Rechtsstaates). Das Bundesverfassungsgericht hat sogar schon völlig neue Grundrechte geschaffen, die das Grundgesetz bis heute nicht kennt – niemand hat gefragt, ob die das denn dürfen.
Es gibt eben mehr als nur die „bindende Wirkung gesetzlicher Texte“. Nebenbei – wenn ich etwas spöttisch sein wollte, würde ich anmerken: Das Rechtsinstitut der Verfassungsbeschwerde wie auch das der Normenkontrollklage sind auch so Plattformen, von denen aus die Wirkung gesetzlicher Texte überprüft werden kann. Ich weiß, dass Herr Wohlgemuth etwas anderes gemeint hat – ich hätte aber auch von Herrn Engelmann gleiche Verstehensbereitschaft erwartet bei meinem Hinweis auf die Erdoğans, Kaczynskis, Putins…, denen ich nun wirklich keinen auch nur indirekten Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts zugeschrieben habe. Mein Hinweis auf diese Figuren, die derzeit auch den internationalen Diskurs beherrschen, sollte darauf aufmerksam machen, dass die „Wehret den Anfängen“-Bewegung voller Vertrauen in die Wehrhaftigkeit der Demokratie blauäugig die Anfangsphase verschlafen hat (Polen, Türkei) und sich nun in der fortgeschrittenen Phase hoffentlich nicht nur die Augen reibt. Demokratische Usancen sind – und dahin zielte mein Hinweis auf diese Figuren – überall auf der Welt auf dem Rückzug und, was viel schlimmer ist, eine Gewöhnung der Bevölkerungen an dahingehende schleichende Entwicklungen auch in noch nicht infizierten Ländern gibt es auch, auch bei uns. Denken wir nur an die wiederholt zu hörenden Appelle, man könne unsere Freiheit nicht dadurch bewahren, dass wir sie abschaffen.
Warum soll nicht eine qualifizierte Minderheit unter 25 Prozent ausreichen, um eine Sondersitzung des Bundestages einzuberufen? Warum soll dem Bundesminister, der eine Regierungserklärung vor dem Parlament abgibt, eine Redezeit von einer Stunde zustehen, auf die zu antworten einem Oppositionsabgeordneten ganze 8 Minuten Redezeit zugestanden werden. Im Falle der üblichen Regierungserklärung eines Kanzlers oder einer Kanzlerin nach Beginn der Legislaturperiode dürfen die Minister vierzehn Mal (oder wie viele Minister die Regierung zählt) jeweils eine Stunde (Kanzlerin und Vizekanzler bis zu zwei Stunden) ihre Statements abgeben, die Oppositionsabgeordneten sind auf 8 Minuten Redezeit reduziert. Augenhöhe, oder?
Der Bedeutungsverlust des Parlamentes als dem Ort, an dem um die besten Lösungen für aufgetretene Probleme gerungen wird, hat seinen Grund auch hierin. Da werden auch viele Reden gar nicht mehr gehalten, sondern zu Protokoll gegeben. Und wer liest die Protokolle? Noch viel weniger als die, die Debatten im Informationsradio oder in Phönix verfolgen. Was ist mit dem auch das demokratische Gesetzgebungsverfahren beherrschende Öffentlichkeitsgebot, das dem Sichtbarmachen von politischen Entscheidungsprozessen dienen soll? Es ist manchmal schon schwer genug, sichtbar gemachte Entscheidungsprozesse wegen der Komplexität des Hintergrundes zu verstehen – wie sollen dann Prozesse, die im Geheimen entschieden werden sollen (TTIP), verstanden und akzeptiert werden? Die Regierungsmehrheit wird auf Verstehen und Akzeptieren getrimmt, die Opposition wird mit ihrer Wut alleingelassen. Tolle Aussichten für den zukünftigen Diskurs zwischen Bevölkerung und herrschender Mehrheit!
Natürlich ist ein Wechsel aus der Opposition in die Regierung immer noch möglich, aber die Zunahme der Hindernisse für die Oppositionsparteien ist nicht zu übersehen. Eine Folge davon könnte sein, dass die Wähler immer mehr Zuflucht zu Ein-Thema-Parteien nehmen, die ihre Foren auf der Straße sehen, das Parlament verachten, dieses gleichwohl als Plattform in Anspruch nehmen, wenn sie die 5%-Hürde überwinden. Die Zersplitterung der Opposition – Menetekel von Weimar – wird durch das Vorenthalten von Rechten, die zur Effektivität der Oppositionsarbeit im Parlament dienen könnten, gefördert und nicht verhindert.
Den Widerspruch zwischen der zu ermöglichenden effektiven Opposition (ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz) und der Zahnlosigkeit der Opposition werden sie, die Splitter, nicht auflösen, auch nicht auflösen wollen, denn davon leben die Splitter. Ein zu beachtender Verfassungswandel, den das Gericht im behandelten Fall nicht gesehen hat, wird in dem Fall, dass es um elementare Rechte der Opposition geht, kaum von den jeweiligen Regierungsmehrheiten ausgehen, den können nur die Opposition oder die Straße einleiten. Die Straße genießt da schon wieder einen zweifelhaften Ruf, die Opposition ist zahnlos, ihr wird schon das Instrument der Normenkontrollklage entwunden, wenn sie nicht das Quorum erreicht. Einen Wandel kann nur das Bundesverfassungsgericht schaffen. Es hat – ich bleibe dabei – eine Chance verpasst.