In unsere Diskussion über Alltagsrassismus hinein postete eine deutsche Userin, die überwiegend in Frankreich lebt — dort also Ausländerin ist –, folgendes Gedicht. Es passte nicht in die laufende Diskussion. Wollen wir also mal versuchen, dieses Gedicht, in dem es um Desinteresse, Verrohung und Gier geht und das ein Gebet ist, zum Anlass zu nehmen, um über die Ursachen der globalen Entwicklung zu sprechen. Die Autorin heißt Britta Bossu.
Oh, mon Dieu
Gebet einer Agnostikerin
Schau die Tausende,
auf der Flucht,
setzen ihr Letztes auf alte, marode Schiffe,
hoffen für ihre Kinder Sicherheit, Frieden,
FRIEDEN
zu finden.
Schau auf die Diktatoren
dieser Welt.
Sie betrügen,
quälen ihre Völker.
Sind korrupt und entmenschlicht.
Schau auf die Profiteure
dieser Welt.
Sie beuten die Natur aus,
reduzieren auf Profit,
Alles.
Menschlichkeit, Natur,
zählt nicht mehr.
Höre das Weinen, Schluchzen
der Geschundenen.
Höre das Schreien und Wüten
der Unbelehrbaren,
die so tun als gäbe es keine schreckliche Vergangenheit.
Gib uns Frieden,
gib uns Weisheit und Erkenntnis.
Vergib den Diktatoren, Profiteuren,
den Geschichtsvergesslichen,den Kleinmütigen.
Vertreibe sie ALLE aus deinen Häusern,
Synagogen, Moscheen, Kirchen und Tempeln.
Sei so klar wie dein Sohn es war.
Gratulation, ich finde das Gedicht treffend und hervorragend, es drückt auch die Verzweiflung aus, wenn Gebete nicht erhört werden.
Peter Boettel, mir ging ’s ähnlich. Ich habe gezaudert, die richtigen Worte zu finden. Das Gedicht hat mich übrigens schon an anderer Stelle beeindruckt.
Nicht leicht fällt mir allerdings zu unterschreiben:
„Vergib den Diktatoren, Profiteuren,
den Geschichtsvergesslichen,den Kleinmütigen“.
Da fehlt ’s mir noch an Grossmut.
Darf man sich über Religionen lustig machen? Wer sich an Charlie erinnert, hat noch das demonstrative Ja der politischen Prominenz vor Augen.
Darf man sich über Gebete lustig machen? Ich sage ja, wenn es sich um Gebetsformeln handelt, die von den Gläubigen gedankenverloren heruntergeleiert werden.
Darf ich mich über dieses ganz persönliche Gebet lustig machen? Was ich dazu zu äußern hätte, würde in dieser Form geschehen. Schweren Herzens leiste ich Verzicht. Vielleicht bringt’s ein paar Bonuspunkte für ein anderes Fettnäpfchen.
Sehr gut.
ach, manfred, du oberschlaule…ich hab s nun überhaupt nicht mit religion…
dennoch meine ich, dass man dieses gedicht nicht nur lesen, sondern im sinn von lutz als inspiration nehmen könnte/wollte/sollte.
kali nichta…
Etsi ine
Hübsches Gedicht, aber an wen richtet es sich? All diejenigen, welche verantwortlich zeichnen für die Zustände, werden es als Gegenwartslyrik abtun, sofern sie es lesen und verstehen.
Wie sagten wir mal früher: Schön, das wir darüber geredet haben. Derzeit scheinen mir Hoffnung und Verzweiflung zwei Seiten einer Medaille zu sein.
Ich lese daraus, als ebenfalls bekennender Agnostiker, die Aufforderung an einen klugen Allgeist, einen Verstand hinieden zu bringen, und zu schaffen, den es, aufgrund der Fehlkonstruktion genau diesen Schöpfers, oder Allgeistes, nie geben wird.
Der Casus knaxus liegt eben in der Fehlkonstruktion des Homo Sapiens. Aber vielleicht sitzt ja da einer auf CLOUD NINE und lacht sein homerisches Gelächter, über genau diese absurde Schöpfung.
Ich lese das Gedicht nicht als Gebet an ein überirdisches Wesen, sondern als einen Appell an die Menschlichkeit derer, die sich das Christentum (oder eine andere Religion) auf ihre politischen Fahnen schreiben, in Wahrheit aber die Ideale dieser Religion mit Füßen treten. Dafür spricht die letzte Zeile.
Im Übrigen kann man die Grundidee, die ein Jesus von Nazareth verbreitet hat, bejahen, ohne ihn für den Sohn eines höheren Wesens zu halten.
„Gebet einer Agnostikerin“ – schon das Paradox des Titels hat genügend Qualität, Nachdenklichkeit hervorzubringen.
Nun kann man das einfach hinnehmen, auf sich wirken lassen, sich bemühen, die Spannung auszuhalten.
Oder man kann – wie Wolfgang Fladung (#7) – versuchen, die Spannung mit Pseudowissen (oder Vorurteilen) zu entschärfen, seinem eigenen Vorverständnis anzupassen.
Schon merkwürdig, sich selbst als „Agnostiker“ zu bezeichnen, dann aber zu meinen, so genau zu wissen, dass alles nur an „der Fehlkonstruktion des Homo Sapiens“ liegt, es „einen Verstand (…) nie geben wird“, und dass an dieser „absurden Schöpfung“ wieder die „Fehlkonstruktion genau diesen Schöpfers“ schuld ist.
Der Qualität des Gedichts tut solche dogmatische intellektuelle Selbstfesselung natürlich keinen Abbruch.
Ein gewisser Marx stand der Religionskritik eines Ludwig Feuerbach skeptisch gegenüber. Er hat sie aber auch nicht in Bausch und Bogen verdammt. Er ist vielmehr von der „Kritik des Himmels“ zur „Kritik der Erde“ fortgeschritten.
Der Fortschritt eines Marx gegenüber Feuerbach bestand übrigens in der Erkenntis, dass es darauf ankommt, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern „sie zu verändern“.
Auch dies ein Prozess, den man sicher zurückzudrehen versuchen kann, was dann aber nicht die Richtigkeit des historischen Prozesses widerlegt, sondern Aussagen zulässt über Fähigkeiten – oder Unfähigkeiten – des Interpreten.
Misslich wird es freilich dann, wenn man aus der Begrenztheit des eigenen Verstehens auf die Unmöglichkeit des Verstehens überhaupt schließen zu können glaubt.
Das (liberale) jüdische Gebetbuch beinhaltet für den Schabbatgottesdienst folgende zwei Gebete, die meiner Einschätzung nach auch von Andersgläubigen geteilt werden können. Atheisten oder Agnostikern können auf die Anrufung Gottes verzichten und „Herrschaft Gottes“ durch „gerechte Gesellschaft“ ersetzen, wenn sie die Wünsche mitsprechen wollen.
I. Gott, schenke der Regierung dieses Landes deine Weisheit; sei mit denen, die unser Land leiten und mit allen, die für die Sicherheit und das Wohlergehen unseres Landes Verantwortung tragen.
Gib uns allen die Kraft, unseren Verpflichtungen in Liebe nachzukommen, damit Gerechtigkeit und Güte in unserem Land wohnen. Lass unsere Herzen mit Frieden erfüllt sein. Lass die Verantwortlichen unseres Landes einander in Achtung begegnen. Lass sie sich einig sein in der Liebe zum Guten und in dem Willen, Gewalt und Streit abzuwehren.
Gemeinsam mit allen Nationen dieser Welt lass uns nach Frieden und Gerechtigkeit streben, damit wir und die kommenden Generationen in Frieden leben.
Darin möge unser Land seine Ehre finden und seinen Ruhm darin, dass es mitwirkt an der Erlösung und an der Verwirklichung der Herrschaft Gottes auf der Erde. Amen
II. Gott, Quelle des Friedens, sei mit denjenigen, die die Geschicke der Welt lenken, damit Stolz und Prahlerei ein Ende nehmen und die Herrschaft der Arroganz aus unserer Zeit verschwindet. Gib ihnen den Mut, die Wahrheit zu sagen, und die Demut, anderen zuhören zu können.
Hilf uns allen, dass uns das Wohl unserer Mitmenschen wichtiger ist als unsere eigenen ehrgeizigen Ziele. Hilf uns, dass uns mehr an der Wahrheit liegt, auch wenn sie uns schadet, als an einer Lüge, die uns nützt.
Dadurch können wir aufrecht stehen, frei und unbelastet von Furcht und Verdächtigungen und bereit, einander zu vertrauen.
Hilf jedem und jeder von uns, den eigenen Beitrag zur Verständigung und das eigene Opfer für den Frieden zu geben, damit wir in Frieden mit uns selbst und in Frieden mit unseren Mitmenschen leben.
Dann können wir in Gelassenheit beginnen, dein Reich in dieser Welt zu bauen, bis die Erde erfüllt ist von der Erkenntnis Gottes, wie das Meer mit Wasser gefüllt ist. Amen.
@ # 9, W. Engelmann: Seither habe ich Ihre Beiträge bzw. Kommentare immer als die eines Wissenden geschätzt. Aber bei Ihrer Definition meines Beitrages springen Sie doch ein wenig – zu kurz. Ich schrieb: „Ich lese etwas heraus“, also eine Annahme, und keine Behauptung eines Wissens. Also künftig bitte sorgfältiger lesen und nicht mit Unterstellungen arbeiten.
Bis zu Ihrem ersten Satz gehen wir einig, aber dann machen Sie aus einem von mir eher ironisch-zynisch-verzweifelt geschriebenen Beitrag eine zu nichts führende Debatte über Agnostizismus. Ich habe nur versucht, aus eben diesem widersprüchlichen „Gebet einer Agnostikerin“ diese Widersprüchlichkeit weiter zu führen. Ich möchte hier keine Debatte über den A. lostreten, aber wenn Sie sich einmal in all die unterschiedlichen Richtungen des A.vertiefen, die WIKIPEDIA aufführt, werden Sie feststellen, das ich mich da, mit all der mir von Ihnen unterstellten Widersprüchlichkeit, in bester Gesellschaft befinde.
Agnostizismus ist nach meiner Überzeugung keine Lehre, sondern eine Grundhaltung, des „ich weiß, das ich nichts weiß“, und will davon auch niemand überzeugen.
Wie sangen die Rolling Stones doch mal so schön: „Symphathy for the devil“. Für mich damals ein Grund für einen Wechsel, weil ich mit dem Anderen nichts (mehr) anfangen konnte.
„dogmatische intellektuelle Selbstfesselung“: Klasse für einen Agnostiker, weil dies eher auf Atheisten oder Theisten zuträfe. Ein Koch, den ich mal kannte, formulierte dies so: „Ich weiß, das es Scheiße schmeckt. Ich habe es schließlich selbst gekocht.“
Manchmal richtet sich ein Gebet gar nicht an „den da oben“, sondern an den Banknachbarn.
Da betet eine Agnostikerin oder schreibt ein Gedicht, wie auch immer, und schon runzeln sich hier deutsche Denkerstirnen, um endlich hinter das wahre Wesen des Agnostizismus oder die virtuelle Kraft, die dem Beten innewohnt, zu kommen.
Die Betende kokettiert mit ihrem Agnostizismus. In Wahrheit ist sie eine Gläubige; denn Agnostiker, die im Normalfall keine Erkenntnis über die Existenz eines oder mehrerer höherer Wesen haben und dennoch versuchen, mit ihnen zu kommunizieren, sind gläubig.
Über das Gebet selbst möchte ich mich nicht äußern. Vor 33 Jahren sang „ein Mädchen, das sagt, was es fühlt“, und obwohl es wußte, „meine Lieder, die ändern nicht viel“, den schönen Schlager „Ein bißchen Frieden“. Nicole gewann damit den Eurovision Song Contest. Ob sie ihren eigenen Frieden gefunden hat, ist mir nicht bekannt. Sonstige Auswirkungen hat es meines Wissens auch nicht gegeben. Es darf noch gebetet werden.
Übrigens könnte der Ausruf „Oh mon Dieu“ (oh mein Gott) von den Anhängern aller drei Hauptrichtungen stammen: Theisten, Atheisten und Agnostikern. Brauchtum, halt.
„Oder man kann – wie Wolfgang Fladung (#7) – versuchen, die Spannung mit Pseudowissen (oder Vorurteilen) zu entschärfen, seinem eigenen Vorverständnis anzupassen.“ (W.Engelmann#9 in Bezug auf W. Fladung#7)
„Ich lese etwas heraus“ (W.Fladung#11 in Bezug auf W.Engelmann#9)
Aus meiner Sicht:
Ein Gedicht ist ein tiefer persönlicher Ausdruck, der in einer anderen Person ein tiefes, persönliches Verstehen sucht.
Über Gedichte und deren Wirkung zu sprechen ist ein so schwieriges Unterfangen, daß es nicht unpersönlich geschehen kann. Ein Gedicht ist verdichtet, konzentriert, sagt vieles und sagt vieles nicht. Dies liegt daran, daß kein Leser den Schöpfungsprozess eines Gedichtes nachvollziehen kann. Man kann nur den Schöpfungsprozess nachvollziehen, den es in einem selbst auslöst. Auch dieser ist kaum mitteilbar, geschweige denn nachvollziehbar oder kritisierbar.
Man kann, wie es Bronski anregt, dieses Gedicht zum Anlass nehmen, über Dinge zu sprechen, man kann aber nicht über das Gedicht und auch nicht über dessen Entstehen, Verstehen und Bedeutung sprechen.
Über das Verstehen eines Gedichtes zu streiten ist daher müßig. Es kommt nur darauf an, zu sagen, was man nach der Lektüre denkt. Das ist, im besten Falle, etwas anderes und besseres als zuvor.
Es war dann ein gutes Gedicht.
Lieber Herr Engelmann,
Dieses Gedicht löst in mir einen Sturm von eigenen Verzweiflungsgedanken über den Zustand der Welt aus. Manchmal zünde ich Kerzen an und spreche innige Gebete ins Nichts. Es möge Frieden sein, lege alle meine Gedankenkraft ins Feuer dieser Kerzen. Denn irgendwo nistet Hoffnung in meiner Seele, dass die Menschheit doch „endlich mit sich selbst Erbarmen“ habe.Aber all dieses Sehnen der Gebete, die schöne Lyrik der Leidenden, die Rufe der Klugen, die Analysen der Weisen, nichts hilft, um die Grausamkeiten der Welt zu verändern. Es entstehen immer neue Grausamkeiten, gestützt von den modernen Technologien. Meine unbefangene Kindheit war überschattet von den Kriegserzählungen der Erwachsenen, es war eine Kindheit des fröhlichen Spielens und der nächtlichen Angst vor Krieg und Flucht, Alpträume bis ins Erwachsenenalter. Kriege haben Nachwirkungen in der Seele und auch ganz real. Immer wieder werden alte Kriegsbomben entdeckt, Häuser evakuiert, siebzig Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Erstaunlich, dass wir nicht schon vorher mit diesem explosiven Stoff in die Luft gegangen sind.
Schön, diese jüdischen Gebete, Abraham, schön auch, dass es so viele friedenwollende Menschen gibt, ein Silberstreifen am Horizont, aber desillusionierend. Eine Auflehnung mit Gewalt bringt uns auch nicht weiter, wenn wir Frieden wollen. WAS KÖNNEN WIR TUN?
(nicht nur) # 16 I.Werner: Wir können viel tun. Z.B. wie meine Frau aktiv bei Sprachförderung für Flüchtlinge und Hausaufgabenhilfe. Oder wie ein guter Freund als Fahrer bei den Tafeln. Wir könnten uns aber auch endlich einmal überlegen, ob wir die richtigen Parteien wählen und ob die Richtigen kandidieren. Wir könnten auf Parteiveranstaltungen unangenehme Fragen stellen, z. B. zu Waffendeals, zur Gerechtigkeit und wachsenden Ungleichheit, zum Abbau von sozialen Standards, zum Voranschreiten des neoliberalen Virus, zum Abbau der sozialen Demokratie hin zu einer „marktkonformen“, in dem nur die Starken überleben und alle anderen irgendwann nur noch vegetieren. Wir können bloggen, posten, an Unternehmen wegen fragwürdiger und unrichtiger Werbung – z.B. wie derzeit PENNY bei „Nachhaltigkeit“ anschreiben
Wir könnten auch aufhören, uns mit Flachsinn zu bedröhnen und einlullen zu lassen, und wieder Romane und Lyrik lesen, oder selbst Gedichte verfassen, oder Musik machen, oder Theater spielen, oder ins Kabarett gehen, oder Freunde, vielleicht auch mal Fremde, zum gemeinsamen Kochen einladen, oder hinaus ins Freie gehen und die Kraniche bei ihrem Zug beobachten.
Mit Religion lässt sich alles rechtfertigen.
Also schaffen wir die Religion ab.
Der größte Verbrecher aller Zeiten nannte sich auch gottgesandt. Wenn es keine Religion mehr gibt, vielleicht haben wir dann Frieden.
@ 14; Wolfgang Fladung
Den Ausruf „Oh, mon Dieu“ hielt ich bislang für eine der Möglichkeiten, seiner Überraschung frankophon Ausdruck zu verleihen. Ein Gebet damit einzuleiten, ist freilich auch überraschend.
#19, M. Petersmark: Da gebe ich Ihnen voll und ganz Recht, und möchte dies sogar noch erweitern.
Aufgrund langjähriger Freundschaft mit einem in Perpignan aufgewachsenen Deutschen kenne auch ich die vielen Varianten in der Bedeutung des „Oh,mon Dieu“, von Erstaunen, über Überraschung, Schock, verpatztem Tun bis hin zu einer versteckten Warnung. Für mich war die treffendste Übersetzung immer: Ach Du meine Güte. Könnte also immer passen, vom Ehemann, der seine Ehefrau mit dem Liebhaber ertappt, bis zur eingezogenen Scheckkarte.
Um aber auf den Inhalt des Gedichtes zurück zu kommen, der Zeitenfluß, in dem unsere Welt sich bewegt, scheint sich beschleunigt zu haben. Was gestern noch als richtig galt, wird jetzt infrage gestellt. Ursachen für mich: das Einander-näher-rücken, aufgrund des Bevölkerungswachstums, und aller damit verbundenen Folgen und Nebenwirkungen. Und die dieses Wachstum begleitenden Verteilungskämpfe, unterfüttert nicht nur von Religionen, G. Krause # 18, sondern auch von den neuen Pseudoreligionen, wie Neoliberalismus, Faschismus, und die ganzen Abarten und Mischformen, siehe Islam-Islamismus.
Es scheint ein allgemeiner Auflösungsprozeß im Gange zu sein, es wird debattiert über Querfronten, Linke werden als Rechte diffamiert und umgekehrt. (auch in der FR)
Mir fehlt die Debatte um Grundsätzliches: Die Vermögenden sagen: die „unten“ können nicht mit Geld umgehen, machen den Staat kaputt, kennen keine Verantwortung, machen sich auf unsere Kosten einen Lenz.
Und die unten wollen Teilhabe, mit gutem Recht, schießen dabei aber gerne auch mal über das Ziel hinaus. Eine Gesellschaft wird nicht funktionieren, in welcher sich Menschen tagträumend sich dies von eben dieser Gesellschaft finanzieren lassen wollen. Funktionieren würde es, wenn sie bereit wären, vormittags ausländische Kinder zu betreuen und nachmittags Alte im Pflegeheim. Dann wären die Verteilungs-Forderungen auch berechtigt – und würden vielleicht auch „oben“ auf mehr offene Ohren stoßen.
Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein. In alter Manier werden wieder Sündenbücke, eben Flüchtlinge, Hartzer, und andere gesucht, und auch gefunden.
Leider wird es, meine Befürchtung, nicht gut ausgehen. Humanität ist schließlich viel anstrengender als die Pflege und Umsetzung von Vorurteilen.
@ BvG 15
Sehr schön, sehr treffend. Das hätte ich meinem Deutschlehrer damals auch gern gesagt, als er eine Gedichtinterpretation von uns verlangte. Wir durften uns aus dem großen Fundus der deutschen Lyrik eins auswählen. Ich nahm mein damaliges Lieblingsgedicht, es entsprach meiner Stimmungslage. Aber auf die kam es dabei ja nicht an. Was ich dann abgegeben habe, entsprach weder meinem Empfinden noch den Regeln einer guten Interpretation. Nie wieder würde ich für so eine Aufgabe ein Gedicht wählen, das mich wirklich bewegt.
# 2: „Vergib den Diktatoren, Profiteuren,
den Geschichtsvergesslichen,den Kleinmütigen.“
Auch ich habe damit angesichts des vielen Unrechts, das auf der Welt geschieht, meine Probleme, ob Diktatoren à la Erdogan, Orban etc., ob gierigen Bank- und Konzernvorständen, ob Bachmänner, Seehofers u.a., es fällt schwer, für sie alle um Vergebung zu bitten.
# 19 u. 20, oh mon Dieu, in vielen Fällen ist es einfacher, zu sagen: Ach du Scheiße!
@ 19, 20, 23:
alternativ dazu noch:
heiliger bimbam,
jesses,
potzbliz,
jööö,
ach,
hmhmhm
und vieles andere mehr. das soll nicht das gedicht verhohnepipeln, geschweige denn den ernst dahinter.
Ich möchte noch einmal auf das Gedicht selbst zurück kommen. Ich könnte sagen: „Ich höre die Worte, allein, es fehlt mir der Glaube“ – an Besserung“. Das ist ja das Vertrackte in unserer Zeit, das Stoßseufzer oder Gebete nichts bewirken, sondern allen Taten. Aber genau hier haperts es, weil es zu den Taten unterschiedlichste Auslegungen gibt, und wiederum daraus erwachsende Rechtfertigungen, Gewalt auszuüben – die dann wiederum zu neuen Taten und Rechtfertigungen führt.
Leider sind wir Menschen so verkehrt gestrickt, oder geschaffen, das wir genau dies nicht begreifen.
Dazu fällt mir das kurze, aber hier durchaus treffende wunderschöne Gedicht „Glück“ von Hermann Hesse ein. Falls gewünscht, schreibe ich es im Blog.
Da Gedichte und deren Rezeptionen und Rezensionen nicht immer nur ein wahres Gedicht sind, bevorzugen manche deshalb „noch`n Gedicht“, denn alles hat seine Zeit, ein jegliches hat seine Zeit, aber auch seine Unzeit.
Ausnahmsweise auch wieder mal einen Link zum „Glück“ von mir, für die, die es brauchen:
http://www.dr-mueck.de/HM_Denkhilfen/Hermann-Hesse_Glueck.htm
Vielleicht ist dieser Blog weder das richtige Forum noch das richtige Medium. Aber ich möchte trotzdem die Frage stellen: Wie sieht es bei Ihnen allen mit dem Überdruß oder auch Mitleiden aus? Überdruß, gefüttert durch Reizüberflutung, Unübersichtlichkeit und Unmöglichkeit, alle Informationen zu verarbeiten, samt Quer-Links etc. Und last but not least Hilflosigkeit, weil es zuviele Baustellen gibt und zuviele Brände, welche alle gleichzeitig gelöscht oder zumindest eingedämmt werden müßten. Und Mitleiden ändert ja auch nichts.
In unserem Umfeld treffen meine Frau und ich auf immer mehr Menschen, die bekennen: Ich kann nicht mehr, ich schalte ab jetzt ab oder besser gar nicht erst ein. Auch meine „cui bono“-Frage kann ich ja nur noch rhetorisch stellen, weil praktisch keine Antwort erfolgt. Ist ja auch eine andere Sache, ob mensch als (hilfloser) Helfer in einer Flüchtlingsunterkunft sitzt oder (Achtung:Vorurteil!) in einer Villa im Stadtwald.
@27 Wolfgang Fladung
Man kann nicht alle Informationen verarbeiten, bei weitem nicht.
Wir haben alle eine selektive Sicht der Welt. Ich hatte einen Kollegen, der mir immer erzählt hat, wie schrecklich alles in Deutschland ist. Dabei ist er seit Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen. Aber er sieht abends im deutschen Fernsehen alle politischen Magazine und Talkshows.
Meine erste Empfehlung: fahren Sie diese Informationsquellen runter. Ich schaue diese Sendungen schon seit Jahren nicht mehr und ich glaube nicht, dass ich dadurch schlechter informiert bin.
Wenn Sie schlechte Nachrichten lesen, rechnen Sie die Zahlen mal nach. Sie werden überrascht sein, wie oft sie gar nicht so schlimm sind.
In der Arktis sind einige Kubikkilometer Eis geschmolzen. Wenn man mal nachrechnet in wieviel Jahren dann die befürchteten 8m Meeresspiegelanstieg erreicht sind, kommt man auf erstaunliche 8300 Jahre.
Die Steuerschätzer erwarten für 2019 100 Milliarden Euro höhere Steuereinnahmen (heute in der FR). Teilen Sie es durch die Anzahl der Flüchtlinge und schon machen Sie sich weniger Sorgen.
Ändern Sie ihre Sicht der Welt. Ich arbeite seit diesem Monat in einer amerikanischen Firma. Die Kulturunterschiede sind frappierend. Die Deutschen jammern, dass immer noch über Milliarde Menschen keinen elektrischen Strom und kein sauberes Trinkwasser haben. Die Amerikaner nehmen sich vor, das zu ändern und nicht weil es einfach ist, sondern weil es schwierig ist. Das Problem ist erstmal immer noch da, aber die Welt sieht schon mal besser aus. Man kann sich im dunklen Tunnel fürchten oder auf das Licht am Ende des Tunnel freuen.
Seit 2500 Jahren wird gejammert, dass alles immer nur schlechter wird. Dabei wird die Welt immer besser. Wenn Sie sich die Zeit aussuchen könnten, in der Sie leben, was würden Sie wählen? Die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft? Ich würde mich für die Zukunft entscheiden.
Natürlich ist noch nicht alles gut, aber dann bräuchte es Leute wie uns auch nicht mehr.
noch was, lesen Sie keine Gedichte. Ich bin zugegeben kein Experte, aber ich habe den subjektiven Eindruck, dass Gedichte, die in Deutschland ernst genommen werden, schwermütig sein müssen.
„Oh mon Dieu!“ – „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!“
Man könnte hier ja eine Umfrage starten, wer eher welchem Motto zuneigt.
Ich bin mehr für das zweite.
Für das erste wohl eher nach Art des De-Gaulle-Witzes, den man sich in Frankreich erzählt:
Charles De Gaulle kommt aus dem Badezimmer, steht plötzlich nackt vor seiner Frau Yvonne.
„Oh, mon Dieu!“, ruft die aus.
Darauf De Gaulle: „In der Intimität reicht Charles.“
@ Wolfgang Fladung,
„Das ist ja das Vertrackte in unserer Zeit, das Stoßseufzer oder Gebete nichts bewirken, sondern allen Taten.“(#25:)
„Und Mitleiden ändert ja auch nichts. “ (#27)
Beim ersten bin ich bei Ihnen, zumindest im zweiten Teil, zu, beim zweiten nicht.
Schon Lessing hat ja klar gemacht, dass „Mitleid“ nicht mit „Leiden“ zu tun hat, sondern mit Fähigkeit, mitzuempfinden, was – siehe „Nathan“ und Lessing selbst – sehr tatkräftig und kämpferisch sein kann.
Hier die Übersetzung eines Gedicht des französischen Surrealisten und Résistance-Kämpfers Paul Eluard. Er definiert Surrealismus als „Empörung gegen eine die Individuen erniedrigende, psychisch und sozial repressive Gesellschaft“:
„Durch die Kraft eines Wortes
Beginne ich mein Leben neu
Ich bin geboren, dich zu erkennen
Und dich zu nennen…
Freiheit“
„Wort“ (oder „Geist“) und „Tat“ ist eben kein Widerspruch. Und das, was aus dumpfbackener Hirnlosigkeit à la Pegida an Gewaltaktionen erwächst, hat nun auch nichts mit „Tat“ zu tun.
Denn, was man „Tat“ nennen kann, darf niemals das Wohl anderer ausblenden und bloß eigenen Instinkten folgen. Und man wird auch in diesem Sinne versuchen, seinen möglichen eigenen Beitrag zu ermitteln.
Aber über das Destruktive dieser Tage ist ja in den Parallelthreads nun genug geredet worden.
Und auch bei der „Oh mon Dieu“-Klage kommt mir das Vertrauen in die eigene Erkenntnis und eigene Handlungsfähigkeit doch etwas zu kurz.
Man muss ja – da bin ich voll auf der Linie von BvG (#12) – nicht immer über die Ungerechtigkeit in der Welt überhaupt und von „denen da oben“ klagen, man kann auch bei seinem „Banknachbarn“ anfangen. Besonders, wenn es neue „Nachbarn“ gibt und da auch einiges zu tun sein wird.
Konkret zu meinem Beitrag:
Meine angekündigte Website „fluechtlingstheater-kleiner-prinz.de“ ist nun eröffnet.
Da ist auch unentgeltlich der erste Teil meines Projekts, eine Anleitung zu Theater mit Flüchtlingen (nicht „für“ sie) als Integrations- und Sprachhilfeprojekt in einem abrufbar – unter der Voraussetzung der Verwendung im Rahmen der Flüchtlingshilfe.
Wie so etwas aussehen kann, ist auch bei einem Schweizer Projekt einzusehen, mit deren Leitern ich zum Zweck des Erfahrungsaustauschs Kontakt aufgenommen habe. Auch, dass es Spaß machen kann, mit Menschen zu arbeiten, für die – um bei dem Gedicht von Paul Eluard zu bleiben – „Freiheit“ noch etwas bedeutet:
http://www.nicole-stehli.com/fluumlchtlingstheater-malaika.html
Was mein Projekt betrifft: Es wendet sich gerade nicht an „Insider“. Es soll bei jedem, der sich einbringen will, Voraussetzungen hierfür schaffen.
Und wer (weil es ihm/ihr diesbezüglich an Erfahrung mangelt) sich durch ein längerfristiges Projekt abgeschreckt fühlen sollte: Ich kann aus dem ziemlich umfangreichen Material auch unter dem Aspekt der sprachlichen Nachhilfe für Gruppen Übungen zusammenstellen, die auch ohne größeren Anspruch jederzeit einsetzbar sind und zur Auflockerung beitragen.
Villeicht wäre das ja was für Ihre Frau, lieber Herr Fladung?
Das ließe sich in wenigen Tagen bewerkstelligen. Und ich kann das dann auch auf meiner Website anbieten.
Allen noch einen schönen Sonntag Abend!
@Engelmann
Ich setze mich vor Ort für sprachliche Hilfe für Vertriebene ein, auch Ihrem und anderer Beispiel folgend, die hier im Blog bekanntgegeben haben, wie sie sich engagieren.
In Anlehnung an Goethe:
„Der Taten sind genug geseh’n,
nun laßt uns endlich Worte wechseln,
derweil die andern Ängste drechseln,
wird uns Nützliches gescheh’n.“
@ 30,Werner Engelmann:
Zustimmung zum Begriff „Mitleiden,im Sinne von Mitempfinden“. Leider führt das Mitempfinden nicht unbedingt und automatisch auch zum Handeln, und dann dreht es sich in dem Kreis, der benannt ist: „Schön, das wir darüber geredet haben“. Ich meinte damit, das gerade mitleidende, also mitempfindende Menschen auch gerne so stark mitleiden, das dies bei ihnen zum Ausbrennen führt – siehe derzeit die Situation bei den meisten freiwilligen Helfern. (auf welche sich Bund, Länder und Kommunen dann wiederum auch verlassen, und diese HelferInnen somit benützen, ausnützen und auch irgendwie instrumentalisieren).
Meine Frau findet Ihr Projekt interessant, und wird sich dieses, soweit es auf Ihrer Webseite angeboten wird, auch gerne einmal anschauen. Sie werden den Link ja bestimmt dann posten.
Erloschen, die Debatte? Wir waren heute abend bei einer Veranstaltung unserer Stadt, es ging um die beherrschende Debatte Flüchtlinge, und dabei dachte ich mir: Würden so viele Kräfte und Mittel aufgewendet, um die Ursachen, und nicht die Wirkungen zu bekämpfen, wären wir schon weiter. Nach der PHOENIX-Runde heute (schwach) und Anne Will (stärker) kann ich wieder nur sagen: Im Ausdruck von Hilflosigkeit waren wir schon weiter. Aber vielleicht müssen wir ja auch diesen Ameisenhaufen, den wir im Moment universell präsentieren, aus marsianischer Sicht sehen – amüsant und unterhaltsam.
Ach, die gelehrten/geleerten Damen und Herren!
Es genügt aber doch noch nicht, nahezu rein garnichts wirklich zu wissen, man muß das doch auch noch ausdrücken können.
Zu wissen, daß man selber doch nichts weiß, ist jedenfalls wesentlich besser, als selbst das nicht einmal zu wissen.