Ein Jurastudent aus Bielefeld hat mir eine Kindheitserinnerung geschickt. Ich möchte gar nicht zu viel verraten und bringe diese Geschichte einfach als Gastbeitrag, da sie perfekt in eine wichtige aktuelle Debatte passt.
Eine Lehre für mein Leben
Ich schmunzle. Nachdem ich einige Kommentare und Artikel zu gegenwärtigen Demonstrationen gelesen habe, musste ich an eines der prägendsten Ereignisse meiner Kindheit zurückdenken. Dazu möchte ich erwähnen, dass nur wenige Menschen einen wirklich so großen Einfluss auf mich gehabt haben. Neben meinem Vater, der mich endlos gelehrt hat und auch heute noch lehrt, ist es vor allem Herr Pastor Hinne.
Ich besuchte die evangelisch-lutherische Kindertagesstätte St. Ansgar in Oldenburg. Seit meinem dritten Lebensjahr liebte ich diesen Ort so sehr und hatte das Privileg, auch den Hort besuchen zu dürfen. Gelegentlich wurde die in unmittelbarer Nähe liegende Kirche St. Ansgari besucht. Eines Tages empfing uns Herr Pastor Hinne und führte uns durch die kühlen, dunklen und gleichzeitig so mystischen und atemberaubenden Gänge der Kirche. Natürlich wusste jeder, wie eine Kirche aussieht. Aber wer hatte sich schon mal in die Nebengänge verirrt? Es war ein großes Abenteuer.
Der Höhepunkt war, als wir Kinder alle eine Kerze aussuchen und auf den Altar stellen durften. Auf dem Tisch standen viele Kerzen. Eine Kerze war besonders schön und groß. Sie hatte diesen weiß-gelblichen Schimmer. Und sie war gefühlt halb so groß wie ich. Wie gern wollte ich diese Kerze halten! Gleichzeitig wollte ich mich jedoch nicht in den Vordergrund drängen, denn eigentlich war das ja nicht der für mich bestimmte Ort. Für Moslems gab es schließlich die Moschee. Eine einfache, kindliche Logik. Aber Herr Pastor Hinne reichte mir diese eine Kerze. Ein Versehen? Nein, eine Lehre für mein Leben! Ich führte unsere kleine Kindergruppe an und habe voller Stolz die Kerze auf den Altar gestellt.
Ich war der glücklichste Junge auf der ganzen Welt. Ich, der kleine Moslem.
Ich kann nur schwer in Worte fassen, was dieser Moment für mich bedeutete. Aber ich bin mir sehr sicher, dass er zu einem großen Teil dazu beigetragen hat, dass ich weltoffen bin und jedem Menschen mein größtmögliches Vertrauen schenke. Ich unterscheide nicht, denn Herr Pastor Hinne tat dies ebenfalls nicht. Es gab mir das Gefühl, ein gleicher Teil der Gemeinschaft zu sein. Ich bin mir sogar sicher, dass er dies gespürt hat und mir deshalb diese Möglichkeit gegeben hat.
Eine Kirche hat für mich den gleichen Wert wie eine Synagoge und eine Moschee. Ich würde nie auf den Gedanken kommen, Menschen nach ihrer Rasse, Herkunft, Religion oder Sexualität im negativen Sinne zu unterscheiden. Denn jeder Mensch ist ein Individuum und jeder Mensch ist interessant.
Wie schön es doch wäre, wenn wir uns alle gegenseitig unterstützen würden. Wenn jeder Mensch einmal diesen Moment der Geborgenheit erleben könnte. Lasst uns nicht zurückschauen, sondern in die Zukunft! Menschen machen Fehler, aber Fehler sind menschlich. Und diese Zukunft kann nur schön sein, wenn wir uns wertschätzen und lieben. Zeigt Interesse an anderen Kulturen und zeigt anderen eure Kultur. Wir leben in einem Land mit vielen Möglichkeiten. Warum Menschen dies zerstören wollen, begreife ich nicht.
Sein Bericht war ja eine sentimentale Rückschau.
Jetzt will er nur vorwärts in die Zukunft blicken. Gut so. Hoffentlich wird er ein guter Jurist.
Den Gastbeitrag von T. Albayrak kann man oberflächlich und ohne Reflektion gelesen vielleicht als sentimental abkanzeln, aber bei genauer Betrachtung ist er nicht nur ein sympathisches Plädoyer für Menschlichkeit, sondern darüber hinaus auch ein Anschauungsbeispiel für die Wichtigkeit und Auswirkungen guter pädagogischer Praxis. Denn im Lichte der Epigenetik betrachtet, erkennen wir bei T. Albayrak, dass dieses positive Erlebnis mit Pastor Hinne, welches ein äußerer Einfluss war, seine humane Geisteshaltung positiv mitbeeinflusst und seine weiteren Handlungen mitbestimmt hat. Durch dieses positive Ereignis haben sich bei ihm molekularbiologische Mechanismen in Gang gesetzt, die heute noch bei ihm positiv wirken. Solchen biochemischen Veränderungen durch äußere Einflüsse ist die Epigenetik auf der Spur. Bemerkenswert finde ich auch noch die Tatsache, dass etwas Positivem wie diesem Gastbeitrag keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei lässt sich doch aus positiven Beispielen mindestens genauso viel lernen, wie aus Negativbeispielen. Anscheinend ist das Negative aber diskussionswürdiger.
@ Michael Hoffmann, Sie sind meiner (warum auch immer unnötigen) Zurückhaltung bzw. das Bedürfnis, spontan auf diesen Beitrag zu reagieren, zuvorgekommen. Es ging mir genauso: endlich mal ein positiver, menschenerwärmender Beitrag, den man nicht mit abgehobenen Kommentaren zerpflücken sollte. Den Begriff „Sentimentale Rückschau“ von Werner H. empfand ich als verächtlich. Und mir fielen einfach nicht (spontan) die richtigen Worte dazu ein.
@ Danke an Bronski dafür, dass er diesem Beitrag das richtige Gewicht gegeben hat… und
@ Taylan Albayrak : DANKE, dass Sie uns an Ihren Erfahrungen teilnehmen lassen. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie manche noch so klein scheinenden Ereignisse bzw. Begegnungen mit Menschen in der Jugend sich auf das ganze weitere Leben auswirken können.
@ Michael G. Hoffmann
„Bemerkenswert finde ich auch noch die Tatsache, dass etwas Positivem wie diesem Gastbeitrag keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dabei lässt sich doch aus positiven Beispielen mindestens genauso viel lernen, wie aus Negativbeispielen. Anscheinend ist das Negative aber diskussionswürdiger.“
Darin stimme ich Ihnen zu. Solche positiven Beispiele der offenen Einstellung zu unserer pluralistischen Gesellschaft, die der Lebenswirklichkeit der Mehrzahl von Muslimen in Deutschland entsprechen, sowie durchaus kritische innerislamische Diskussionen werden kaum zur Kenntnis genommen. Stattdessen werden „die Muslime“ oder „der Islam“ immer wieder aufgefordert, sich zur Demokratie und Toleranz zu bekennen.
„Bemerkenswert finde ich auch noch die Tatsache, dass etwas Positivem wie diesem Gastbeitrag keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wird.“
Aus der objektiven Tatsache, daß keine Postings zu diesem Beitrag zu sehen sind (waren), die subjektive Einschätzung abzuleiten, ihm würde keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt, ist falsch.
Ich beneide Taylan Albayrak. Er hat die Gabe mit auf die Welt bekommen, glücklich zu sein. Diese Gabe besteht im wesentlichen darin, das Gute, das ihm widerfahren ist, stärker zu gewichten als das Schlechte. Hieraus entwickelte sich bei ihm die positive Energie, die aus seinem Beitrag spricht.
Die derzeitigen Ereignisse in unserem Land geben keinen Anlaß zur Hoffnung, daß den kleinen Moslems so viel Gutes widerfahren wird, daß es das Schlechte aufwiegt.
Taylans Appell an das Gute in uns mag naiv erscheinen. Womöglich entdecke ich in meinem Innern noch einen Rest Naivität, der mir hilft, meinen Pessimismus zu überwinden.
Ich stimme den positiven Stellungnahmen zu, teile aber nicht die pessimistische Schlussfolgerung aus der geringen Zahl von Kommentaren. BvG hat bereits hierauf verwiesen.
Ein schreckliches Ereignis wie das von Paris bedarf vieler und ausführlicher Kommentierungen, gerade weil es so schwer fällt, weil man zunächst die Beklemmung einfach nur herausschreien möchte. Nur so lernt man, damit umzugehen, ihm das Bedrohliche zu nehmen. Und es bedarf der gegenseitigen Zuspruchs und der Versicherung von Solidarität.
Ein positives persönliches Erlebnis wie hier ist von anderer Qualität.
Ich erinnere an das bewegende Bild von dem Moslem, der eine Jüdin vor dem Supermarkt, wo gerade der Anschlag stattgefunden hatte, in die Arme schließt und tröstet. Ein Bild, das für sich selbst spricht und keiner Kommentierung bedarf. Worte würden die starke Botschaft, die es vermittelt, nur zerreden.
Hier ist es ähnlich. Auch dieser Bericht über Zuwendung und Verständnis, wo Ablehnung erwartet wurde, ist geeignet, Vorurteile aufzubrechen. Und wenn ein Moment aus der Kindheit über Jahrzehnte im Gedächtnis haften bleibt, Weichen für die eigene Haltung stellt, dann ist er mit Sicherheit bedeutsam und berichtenswert. Das ist alles andere als trivial.
Also lieber Bronski: Weiter so, auch ohne viele Kommentare!
Sicher ist so ein positives Erlebnis erfreulich und positiv zu würdigen.
Trotzdem steckt darin ein pädagogisches, politisches, psychologisches und allgemein menschliches Problem, das ich in diesem Blog schon mehrfach angesprochen habe. Leider habe ich nur wenige Reaktionen darauf erhalten, obwohl es den Kern der Problematik anspricht.
Ich frage:
Soll, darf oder muß man intellektuell wehrlose Menschen auf einer solchen Ebene ansprechen und zu einer so tief verankerten Haltung (ver)führen?
@ BvG
Gegenfrage: Sind Sie noch ganz bei Trost?
@ BvG
Entschuldigen Sie, bitte, meine sehr spontane Gegenfrage! Sie ist unter meinem üblichen Niveau.
Ich habe Ihre Frage für mich selbst beantwortet. Sie werden keine Antwort von mir erhalten.
@ 9.,
warum? Die Frage hat ihre gut begründete Berechtigung.
BvG weist korrekt darauf hin dass solche typologien sehr wohl auf ein pathologisches Potential hinweisen können, nicht müssen!
Das Problem for den Betroffenen und die Gesellschaft stellt sich doch offenkundig: Menschen die von den Glauben daran „richtig“ zu handeln erfüllt sind, sind oft geährlicher als gewöhnliche Straftäter, als Persönlichkeiten die zwar rechtswidrig, aber mit Gewinnerzielungsabsicht handeln.
Intellekt ist nun mal nicht gleichverteilt und so stellt sich die Frage, wie ethisch und gesellschaftlich, nicht rechtlich, damit umzugehen ist.
„Menschenfischer“ aller Coleur sind natürlich geradezu „scharf“ auf solche Opfer und es braucht schon ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit und ethischer Festigung eine solche Person nicht auszunutzen!
Falls mein Kommentar noch freigeschaltet wird:
Ich bitte, über den Begriff „intellektuell wehrlos“ intensiver nachzudenken.
Der Beitrag bezieht sich auf gestern