Das Thema Ausspähskandal beschäftigt die FR-Leserinnen und -Leser weiterhin. Hier kommt ein langer Leserbrief:
Der heimliche Türsteher hat uns bereits erkannt
von H.E. Seelbach aus München
Herr Edward Snowden hat einen Paukenschlag getan. Wir sind ein bisschen aufgewacht, als wir hörten, dass alle unsere digitalen Spuren mit Wissen des BND von der amerikanischen NSA erfasst und gesammelt werden. Das Brief- und Fernsprechgeheimnis ist dahin. Doch das wussten wir schon vorher. Für wen der Staat sich interessiert, über den erfuhr er schon immer alles, nicht immer nur auf legalem Weg. Warum sich aufregen, wenn es der Terroristenbekämpfung diente?
Dass NSA, GCHQ aus befreundeten Nationen und BND zusammenarbeiten, wäre wahrscheinlich selbst unsere Forderung zur Steigerung der Effektivität gewesen – spätestens nach unseren Erfahrungen auf deutschem Boden mit dem NSU und der Qualität unseres Geheimdienstes.
Ein bisschen unschön ist, dass unsere Freunde herausgefunden haben, dass die unter „Terrorbekämpfung“ erfassten Daten auch für Industrie-Spionage nützlich sind. Die Schönheit des Internet ist verloren und hoffentlich unsere Naivität, insbesondere die unserer Industrie auch. Die Terroristen haben dies sicherlich schon früher erkannt.
Wir gläsernen Bürger sind jedoch gar nicht so machtlos. Einige haben den Spieß bereits umgedreht. Auch der Staat, die Verwaltung, Banken, Konzerne und Forschungslabore sind gläsern geworden, wenn auch hinter verschlossenen Türen. Es sind Bürger, die als Angestellte die Verletzungen der Gesetze bis hin zu den Menschenrechten als Whistleblower an die Öffentlichkeit bringen. Früher haben Mutige ihre teils unglaublichen Geschichten Journalisten erzählt und sind als Spinner und Verschwörungstheoretiker abgelehnt worden. Heute bringen sie auf einem Chip gleich tausendfaches Beweismaterial mit oder stellen es dank Wikileaks ins Netz. Unser Staat honoriert dies wenn er davon profitiert, wie z.B. bei Schweizer Konten von deutschen Steuerhinterziehern. Wenn es aber um Menschenrechtsverletzungen geht, schweigt er und wäre bereit, Snowden an die USA auszuliefern, wo er als Verbrecher behandelt wird. Wir sollten sie als wahre Bürger, die ihre Freiheit für uns riskieren, behandeln, wir werden in Zukunft noch viele von ihnen brauchen.
Doch es passiert mit unseren Daten – zusammen getragen aus vielen Quellen und verbunden – noch Unheimliches und Beängstigendes. „Kurzsichtige sind intelligenter“ war vor Jahren eine Zeitungsmeldung aus Israel. Dies ist nicht das Resultat einer wissenschaftlichen Abhandlung, die hier einen nachvollziehbaren Zusammenhang aufgedeckt hat, sondern ein Korrelieren von Daten. Man hat die anonymisierten Daten – den Einzelnen braucht man dazu nicht – aller Rekruten genommen und den IQ-Wert und die Kurzsichtigkeit verglichen. Wie viele mit hohem IQ-Wert sind kurzsichtig und wie viele mit niedrigem? Die Ersteren waren mehr. Werden Kurzsichtige nun mit komplizierteren Aufgaben betraut?
Man kann davon ausgehen, dass diese Methode, Erkenntnisse zu gewinnen, hinter verschlossenen Türen tausendfach angewendet wird. Was einen Whistleblower erkennbar macht, interessiert alle Geheimdienste. Ist es der Sport, den er betreibt, sein Freundeskreis, die Anzahl seiner Schulstreiche, die Antworten auf bestimmte Fragen, die Art, die Tastatur dabei zu bedienen, sein Gesichtsausdruck? Alle Mutmaßungen sind hier lächerlich. Die Rechner arbeiten rund um die Uhr an riesigem Datenmaterial um Zusammenhänge über uns herauszufinden.
Die so gefundenen Erkenntnisse sind von einer neuen Qualität. Sie entziehen sich menschlicher Erfahrung, wissenschaftlicher kausaler Begründung und sind Herrschaftswissen, da sie nur Institutionen zur Verfügung stehen, die das Geld für die Datensammlungen und die notwendige Rechnerkapazität haben und werden nicht veröffentlicht.
Der heimliche Türsteher hat uns bereits – dank dem genormten Foto, das wir für unseren Pass abgeben mussten – erkannt und einem bestimmten Raster – ohne dass wir es ahnen – zugeordnet, weil bestimmte, vielleicht als unbedeutend erachtete Kriterien uns nicht als willfährige Befehlsempfänger ausweisen. Die Tür – nicht nur die der Geheimdienste – bleibt zu.
Der Souverän ist das Volk. Wen haben wir damit beauftragt? „Mach Dir kein Bildnis von mir“ steht in der Bibel und bei Max Frisch. Gilt das nicht auch für uns Menschen? Hört der Datenschutz mit der Anonymisierung auf? Welche Bücher ich kaufe oder entleihe gehört allein mir. Sicherlich gibt es auch Nützliches und Unverfängliches darunter. Doch selbst wenn es der Krebsforschung dient, bleibt nur ein generelles Verbot der Weitergabe von Daten, so weit sie durch die Tätigkeit einer Institution anfallen, übrig? Oder ein Veröffentlichungsgebot der Resultate. Trifft uns hier der Dilettantismus? Entzieht sich die Kompliziertheit des Menschen doch der Statistik? Hilf- und Wehrlosigkeit macht sich hier gegenüber einer solchen Allmacht breit.
Doch falls hier einmal Gesetze existieren, wer überprüft sie? Hier ist der Programmierer gefragt, der Missstände trotz Geheimhaltungspflicht offenlegt. Hier ist die GI, die Gesellschaft für Informatik, eine berufsständige Vereinigung von Programmierern, gefordert, eine entsprechende Ethik zu propagieren.
Bradley Manning, Julian Assange, Edward Snowden und der Unternehmer Lader Levinson, USA, der lieber seine Lavabit E-Mail Server ausschaltet, statt staatlichen Auflagen zu folgen, sind Vorbilder.
Demnächst sind Wahlen. Unsere Justizministerin, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) gebührt hier Unterstützung – gegen den Großen Lauschangriff, Rücktritt vom Amt, gegen Vorratsdatenspeicherung. Andere schweigen oder beschönigen.
Wie schon vor Jahren und immer wieder hier angemerkt, ist nicht das Schweigen oder Verschweigen die Lösung, sondern die Kontrolle darüber, was wer aus dem Wissen machen darf.
Nicht die Meinungen gehören überwacht, sondern die Meinungsverwerter und die Meinungsverwertung. Rechtsstaatlich ist dies alles längst geregelt, das Problem ist, daß Information im Netz lange schon als Mobbingressource genutzt wird.
Alle die, die das Netz für eine Bekenntnisveranstaltung halten, machen sich des Mißbrauchs der Meinungsfreiheit schuldig, sie machen sich zu Denunzianten des ungesagten Wortes.
Zunächst danke an Bronski, bei diesem Thema trotz erkennbaren Frusts beim Vorgänger-Thread „Heldenstatus für Snowden“ am Ball zu bleiben. Es wäre da noch viel zu klären, insbesondere, was die Auswirkungen in Richtung Selbstzensur angeht.
Herr Seelbach verweist in diesem Zusammenhang richtig auf die Bedeutung des „Bildnisses“ in der Bibel und bei Frisch. Ich darf mir aber eine kleine Korrektur erlauben: Max Frisch ergänzt in seinen Tagebüchern den Satz „Du sollst dir kein Bildnis machen“ durch den Nachsatz: „es sei denn, ein Bildnis der Liebe“.
Dies erscheint auch in diesem Zusammenhang von einiger Bedeutung. Nicht das Bild an sich von Gott und auch von Menschen ist des Teufels – wie in islamischen Ländern oft angenommen wird – sondern das Bild, das andere fixiert. Ein „Bildnis der Liebe“ dagegen fixiert den andern nicht: Es lässt ihm seine Entwicklungsmöglichkeiten und seine Freiheit.
Bezogen auf den Spionageskandal bedeutet dies, dass es auf den gesellschaftlichen Rahmen und die Intention ankommt, die damit verfolgt wird. Selbst unterstellt, es ginge wirklich nur um Terrorismus-Abwehr (und nicht z.B. um Industriespionage und ökonomische Machtpositionen), so fixiert diese Spionagepraxis die betroffenen Menschen auf einen Anfangsverdacht hin, lähmt deren Handlungen. Er teilt die Gesellschaft in „Allwissende“, die über andere Macht ausüben, und Ohnmächtige, die deren auf geheimes Wissen gründender Macht, deren Urteilen und Vorurteilen hilflos ausgeliefert sind. Permanente Selbstzensur ist die logische Folge.
Der dümmliche Spruch „Ich habe nichts zu verbergen“ ist ein für Beleg bereits verinnerlichte Ohnmacht. Vor allem aber soll er die im Unterbewussten aufkeimende Ahnung davon vor sich selbst verbergen, jeden Verdacht von sich selbst ablenken und andere in die Schusslinie bringen. Identifikation mit der Macht – das hat schon Heinrich Mann im „Untertan“ analysiert – kompensiert die eigene Ohnmacht mit dem Anschein des Anteils an der Macht und verschafft so entsprechende Befriedigung. – Vielleicht liegt auch hier ein wesentliches Moment für die offensichtlich weit verbreitete Gleichgültigkeit bei diesem Thema, die im Vorgänger-Thread so vehement beklagt wurde.
Man sollte wohl wieder Orwell und Huxley lesen, um die verheerenden Auswirkungen auf eine demokratische Gesellschaft zu begreifen, begründet vor allem durch die Dichotomisierung der Gesellschaft: Das moderne „Neusprech“ kennt nur plus und minus, gut und böse, verdächtig und – via Selbstzensur erworbene – Unverdächtigkeit. Es kennt keine Schattierungen und auch keine freien Entscheidungen.
Auch noch in anderer Hinsicht erlaubt Frischs Ergänzung zum Bibelzitat eine Klarstellung: Ist es nicht auffällig, wie wenig Wert Obama, Cameron und Co. darauf legen, das Faktum umfassender Spionagetätigkeit zu verschleiern? Das verbreitete Bewusstsein davon ist offensichtlich ganz in ihrem Sinn, ist – da Selbstzensur fördernd – Teil ihrer Machtausübung. Und es hält dadurch den Anschein demokratischer Verhältnisse auch da noch aufrecht, wo diese längst ausgehöhlt sind.
Ganz anders, wenn das „Wie“ der Überwachung zu Tage tritt. Camerons Bestrafungsaktion gegen den „Guardien“ und das Terrorurteil der US-Justiz gegen Manning (ich erlaube mir, es so zu nennen – Gruß an die Sammler vom NSA!) sprechen eine deutliche Sprache: Wo die Mechanismen des Überwachungsstaates in den Blick kommen, geraten die Mächtigen außer Rand und Band: Wie wenig es um die Tat, wie sehr es dagegen um Abschreckung geht, zeigt sich im Fall Manning auch an der Tatsache, dass er auch noch im Gefängnis sitzen soll, wenn die Dokumente, die er „verraten“ hat, längst veröffentlicht sind.
Die Kenntnis des „Wie“ ermöglicht es, Abwehrmechanismen gegen Selbstzensur zu entwickeln. Wer die Berufsverbotepolitik des Schnüffelstaats der 70er Jahre und danach hautnah miterlebt hat oder selbst betroffen war, der weiß, dass härter als das Ertragen von Unrechtsurteilen der permanente Kampf gegen Selbstzensur ist, dass dieser nur zu gewinnen ist durch offensive Auseinandersetzung. (Betroffene Gruppen kämpfen auch heute noch um Anerkennung des Unrechts.) Dazu gehört, aufzuzeigen, wo die wirklichen „Verräter“ an demokratischen Grundsätzen sitzen, und denen, die den Mut haben, ihr eigenes Schicksal dieser Sache unterzuordnen und den Zorn der Mächtigen herauszufordern, alle nur denkbare Hilfe angedeihen zu lassen.
Werner Engelmann, Frankreich
Der Engelmannschae Kommentar erscheint mir sehr gut, ich möchte ihn an einer Stelle ergänzen:
H.E. Seelbach macht sich Sorgen um seine/ihre Daten, nachdem er/sie von der Israelischen Korrelation zwischen Kurzsichtigkeit und Intelligenz erfahren hat, weil dies ist nicht das Resultat einer wissenschaftlichen Abhandlung sei, die hier einen nachvollziehbaren Zusammenhang aufgedeckt hat, sondern ein Korrelieren von Daten. Da sollte man vielleicht die Wissenschaft vom Olymp herunterholen – sie fängt meistens mit reinen Korrelationen an und bleibt leider auch oft genug dabei. Insofern war liegt an dieser Stelle kein Unterschied zu Wissenschaft vor, so wie es veröffentlicht wurde, war es auch einfach welche, die auf sehr preisgünstige Daten zurückgegriffen hat. In diesem Fall Musterungsdaten, die man dem Staat auf gesetzlicher Grundlage zu geben hat – Als wissenschaftlich orientierter Mensch finde ich es gut, dass die anonymisiert zu Forschungszwecken ausgewertet werden. Nur ein Depp könnte bei der bekannten Streuung der korrelierten Eigenschaften versuchen, diese Korrelation auf Einzelpersonen anzuwenden, auf der anderen Seite ist sie ein Ausgangspunkt für weitere Fragestellungen.
Außerdem haben wir es in weiten Bereichen selbst in der Hand, welche Daten von uns kursieren, und es sind weniger irgendwelche Schlapphüte, die etwas damit anfangen, als die, die uns jeden Tag das Geld aus der Tasche holen. Bequemlichkeit wird immer bezahlt und wer bar zahlt, hinterlässt weniger Daten (und erhält mehr Arbeitsplätze). Auch wer statt Windows Linux nutzt, schon lange auch für reine Anwender benutzbar, zahlt nicht nur weniger Geld, sondern gibt auch weniger Daten von sich unkontrolliert ins Netz.
Schade, dieses brisante Thema scheint auf wenig Interesse zu stoßen. Kein Aufschrei im Volke !?
Bär Bruno war halt auch etwas „handfesteres“, vor dem konnte man echt Angst haben.
Unbestreitbar hat die noch amtierende Bundesjustizministerin eine vergleichsweise liberale Auffassung darüber, wie die Politik in einem Rechtsstaat zu gestalten sei. Ich vermute aber, dass sie für ihre Ansichten von ihren Koalitionspartnern, den Christdemokraten und Christsozialen, fast gar keine uneingeschränkte Zustimmung erhält. Nach dem christlichen Menschenbild, das der Politik christlicher Politiker zugrunde liegt, sind alle Menschen in der Hauptsache von klein auf Sünder und das bleiben sie auch ein Leben lang. Das bedeutet, für Politiker, die ein christliches Menschenbild vor Augen haben, sind die Mitmenschen in erster Linie nicht Mitbürger, sondern Drecksäcke, die es unaufhörlich zu regieren, also zu beherrschen und mit rechtsstaatlichen Mitteln zu zügeln gilt. Aber selbst aufgrund dieses negativen Menschenbildes ist es von Staats wegen nicht gerechtfertigt, alle Menschen permanent als potenzielle bedrohliche Schurken zu verdächtigen und sie alle ständig beobachten zu lassen. Von der Hysterie mancher amerikanischer Politiker sollte sich hier in Deutschland kein Politiker anstecken lassen.
Wo bleibt die demokratische Verfasstheit Europas? Meine Überzeugung hat sich gefestigt, dass auch die „Staatsmacht“ Deutschlands rigide gegen unsere Verfassungsrechte Verstoß übte. Unsere Geheimdienste sind willfährige Handlanger von NSA und britischem Geheimdienst. Man konnte es förmlich „riechen“ und spüren – lange hatte es gedauert, bis Herr Pofalla Argumente eingefallen waren. Erst das Abtauchen, dann den Datentransfer zur NSA mit dem Zustand Afghanistans zu begründen, ist nicht überzeugend gewesen. Herrn Peter Scholl-Latour kann ich zu seiner Anmerkung (Maybrit Illner, Do, 22.8.) zu postdemokratischen Zuständen in der EU nur gratulieren.
Ich kann mich nur wiederholen: Die USA haben sich ideologisch schon lange von demokratischen Zuständen wegbewegt. In Anlehnung an Wolfgang Leonhard – die Revolution frisst ihre Kinder – muss man feststellen: Die real existierende Demokratie frisst ihre Kinder (Manning, Snowden, „Guardian“). In Bezug auf das Selbstverständnis, die Positionierung Europas und natürlich Deutschlands gegenüber den USA fällt mir da die Sage vom Rattenfänger von Hameln ein.
Umso trauriger muss einen die Reaktion der Allgemeinheit in Deutschland, aber auch in der EU stimmen. Es gibt keinen Aufschrei der Allgemeinheit – noch schmerzt nämlich dieser Prozess gegen die rechtsstaatliche Verfasstheit niemanden. Schon immer hatte ich grundsätzlich die Vermutung – es geht den Menschen um das Schnitzel. Globalisierend ausgedrückt sind also Demokratie und Diktatur schwer auseinanderzuhalten; die US-Ideologie und die post-kommunistische China-Ideologie erfahren einer Annäherung.
Der Untergang des kapitalistischen Systems nimmt langsam Gestalt an.
Rette sich wer kann. Unsere Grundwerte wie Freiheit Menschenrechte Demokratie
und Anstand gelten nichts mehr. Jeder ist sich selbst der Nächste, und über Alles
kommt das Geld, aber was ist das Geld denn bald noch wert. Wer die Zeichen
erkannt hat flüchtet in Beton oder Gold in der Hoffnung noch etwas zu retten.
Wozu brauchen wir noch eine Verfassung? Wir haben doch unsere Vorbilder für
Freiheit und Menschenrechte. Was sollen die Amis denn noch machen damit unser Glaube an sie mal erschüttert wird? Wird dort gefoltert? Oder gibt es dort noch
die Todesstrafe? Unsere Angie weist bei ihren Staatsbesuchen gerne auf die Menschenrechte hin, nur dort wo es mal nötig wäre, wie bei unseren Freuden den USA, ist Schweigen. Schlafen wir schön weiter, wer in der Demokratie schläft,
erwacht in der Diktatur