In Frankreich wird der Rechtsruck spürbar

Vor einigen Monaten schreckten Meldungen auf, wonach rechtsextreme Positionen immer mehr in die Mitte der deutschen Gesellschaft einsickerten. Es gab dazu eine Studie der Abteilung medizinische Psychologie und Soziologie der Universität Leipzig. Diese Entwicklung scheint einher zu gehen mit einer schleichenden Angst vieler Deutscher vor der befürchteten Islamisierung Deutschlands. Plötzlich entstanden Parteien wie ProNRW, die insbesondere mit antimuslimischer Hetze von sich reden machten. Das ist natürlich kein rein deutsches Phänomen, sondern taucht auch in Dänemark, Norwegen und den bisher so liberalen Niederlanden auf. Und in Frankreich. Dazu erreicht mich dieser interessierte Bericht eines deutschen Auszubildenden im südfranzösischen Perpignan. Yunus Zimmermann heißt er, und hier kommen seine Beobachtungen.

In Frankreich wird der Rechtsruck spürbar

von Yunus Zimmermann, Perpignan

Der Tod des 19-jährigen Antifaschisten Clement in Paris betitelte die großen französischen Zeitungen, in vielen Städten fanden Mahnwachen linker Organisationen statt, und vielleicht wird er eine Debatte um Rechtsextremismus einleiten. Eine, die längst überfallig wäre.

Fakt ist, dass in unserem stolzen Nachbarland die poujadistische Front National bei den letzten Präsidentschaftswahlen 17,9 Prozent errang, vor allem dank einer Islamkritik, die der Rhetorik ProNRWs gleicht. „Der Islam gehört zu Frankreich“ ist nicht übersetzbar. Einwanderer? Nur als gute Fußballer.

Meine Wahrnehmung: Latenter Rechtsextremismus ist in der Grande Nation verankert. Vielleicht nehme ich ihn nur als Ausländer, als Außenstehender, ausgeprägt zu Kenntnis. Vielleicht hätte ich in einer sächsischen Provinz den gleichen Eindruck.

„Zieh bloß nicht nach Saint-Matthieu oder Saint-Jacques“, sagt meine Arbeitskollegin, als ich in einem anderen Viertel der südfranzösischen Stadt Perpignan mieten will: „Dort leben die Gitanes, die Roma, ca craint!“ – „Sind das nicht Menschen wie Du und ich?“, frage ich naiv. Sie lacht, „erzähl was du willst, die sind nicht wie wir: Sie betrügen und stehlen, werfen Dreck auf die Straße, leben vom Arbeitslosengeld.“ Sie beschreibt das Stereotyp des Zigeuners, und ich denke an Frischs andorranischen Juden, an die Vergasten des Holocaust. Meine Stimme versagt.

Mein Nachbar Benjamin erklärt: „Die Front National ist nicht mit der deutschen Rechten vergleichbar. Sie will keine Juden deportieren.“ – „Sondern Araber?“ – „Ich hab nichts gegen Araber, aber …“, und diese Satzeinleitung habe ich schon so oft gehört, um zu erahnen, was folgt: „So lange sie arbeiten und sich integrieren, ist alles in Ordnung, aber es kann ja wohl nicht sein, dass sie hier überall Minarette bauen! Das ist entgegen unserer abendländischen Kultur!“

Dem fügt Maria in der Kantine hinzu: „Ein französischer Landarbeiter, der sein ganzes Leben gerackert hat, bekommt nur 400 Euro Rente. Aber algerische Großeltern, die durch die Familienzusammenführung ins Land kommen, kriegen, ohne je was getan zu haben, einfach 700 Euro. DAS ist unser toller französischer Staat!“

Ich habe weder muslimische Bauprojekte noch das Rentensystem studiert, um behaupten zu können, dass hier nationaler Populismus, wie Soziologen gerne schreiben, gesellschaftsfähig geworden ist.

Während jedem Bundesbürger zumindest theoretisch die deutsche Vergangenheit in die Wiege gelegt wird, klagen manche Franzosen, dass in der Schule der Algerienkrieg, Antisemitismus und Kollaboration mit Hitler totgeschwiegen werden. Während mir darum die Aufmerksamkeit für nationalistische Symptome, bodenlose Stereotypen, und rassistische Untertöne quasi angeboren ist, werden letztere hierzulande frei und problemlos im Hausflur und auf der Straße kommuniziert.

Ich will damit warnen, dass der Rechtsruck in Frankreich spürbar wird. Nicht weil „les francais“ alle zu Nazis werden, sondern weil die staatliche Bildung, zum Teil gewollt, versäumt hat, das Bewusstsein für die Gefahren des Nationalismus zu schaffen, dieser in breiten Gesellschaftsschichten populär wird, der Pass und die Religion als ausschlaggebend diskutiert wird statt die richtige Integrations- und Sozialpolitik.

Mich haben zwei, drei Mal arabische Einwandererkinder in Südfrankreich mitgenommen. Und sie sagten mir, es vergehe keine Woche, in der sie nicht mit nationalistischen Bemerkungen konfrontiert seien. Die Gefahr für eine Minderheit wird eine der Demokratie.

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13 Kommentare zu “In Frankreich wird der Rechtsruck spürbar

  1. Entzaubert trefflich den Mythos vom revolutionsfreudigen und sozialen Franzosen.

    Auch in Frankreich gibt es sie , diejenigen , die sich brav verarschen lassen von einer plündernden „Elite“ , und nur den „Mut“ haben , fleißig zu treten nach Leuten , die sie als noch schwächer erachten als sich selber , Hauptsache , Einen unter mir , dann kann ich weiter dem Chef in den Allerwertesten kriechen.

    Hat natürlich auch zu tun mit dem vollständigen Versagen der Volksparteien , offenbar auch in Frankreich , die sich europaweit fast nur noch als verlängerter Arm der „Eliten“ verstehn.
    Wirklich helfen kann da nur der Widerstand aus der Bevölkerung selber , und wer weiß , vielleicht überraschen uns die Franzosen , auch vor 68 waren es die Rechten , die die ganzen 60er hindurch massiven Auftrieb hatten .
    Mit 68 wurden sie von einem Moment auf den anderen in die Bedeutungslosigkeit gefegt.

  2. Ist das wirklich ein Rechtsruck in Frankreich, der da spürbar wird? Oder wird angesichts wachsender sozialer Spannungen und damit verbundener Existenzängste nur deutlich sichtbar, was immer schon da war, vor allem in den weiten ländlichen Gebieten und den kleineren Städten Frankreichs? Bis vor einiger Zeit kannte ich den Begriff des „France profonde“ noch nicht, jenes Frankreich jenseits des eleganten, heiteren und liberalen Flairs der Weltstadt Paris, das „tiefe Frankreich“, die tiefe Provinz, in der um Acht die Bürgersteige hochgeklappt und die Lichter gelöscht werden.

    Anläßlich der Massendemonstrationen gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Frankreich schrieb Tilman Krause in der „Welt“ über eben jenes „France profonde“ und „das spießige Gesicht der Franzosen.“ Krause beschreibt den tiefen Haß dieser Franzosen auf die Pariser Welt und ihres Großbürgertums. Dieses nach außen liberale und weltoffene Bürgertum ist im Inneren allerdings selbst verkrustet und in Ritualen erstarrt, wie die Filme Buñuels und Chabrols immer wieder zeigen. In Analogie zu Tucholsky, der Paris aus diesem Grund als „Stadt des Noch“ benennt, bezeichnet Krause ganz Frankreich als „Land des Noch“ – ein Land, das noch und tief im Gestern verhaftet ist und sich nicht davon lösen kann und vor allem nicht will.

    Dieser Unwillen, gepaart mit einem „das haben wir immer schon so gemacht“ und einem „das war noch nie anders“ ist ein Schutz gegen die als bedrohlich empfundene Veränderung der „heilen Welt“. Doch diese Veränderung läßt sich nicht aufhalten. Die Globalisierung und ihre Probleme sickern durch jede Ritze auch in die Provinz, stören die gewohnten Lebensläufe. Doch während der Rückzug ins Private, wie Krause schreibt, hierzulande vom „kulturellen Reichtum der deutschen Innerlichkeit“ geprägt sei, zeige er in Frankreich „ein dumpfes, freudloses Leben, das Affekte wie Habgier, Geiz und Missgunst zeitigt.“ Wer einmal die Asterix-Comics nicht nur als bloße Unterhaltung gesehen hat, sondern als deftige Karikatur der französischen Lebensverhältnisse in der Provinz, kann gut nachvollziehen, was mit „France profonde“ gemeint ist.

    Mit dem vermeintlichen Rechtsruck in Frankreich kocht einfach nur hoch, was schon immer im Untergrund schwärte. Bei der langen Tradition der Front National und ihrer Wahlerfolge wundert das nicht. Nicht einmal die aktuellen Massenproteste und gewalttätigen Übergriffe sind neu, sondern haben Tradition in Frankreich seit den Zeiten der Fronde und der Revolution bis hin zu den Studentenprotesten 1968 und der jüngsten Randale in den Banlieus. Das würde in Deutschland wiederum nicht passieren, denn der deutsche Spießer ist Untertan und kein protestierender Wutbürger. Der nörgelt am Stammtisch oder neuerdings in Internet-Foren, aber nicht öffentlich.

    Weblinks:
    http://en.wikipedia.org/wiki/France_profonde
    http://www.welt.de/debatte/article116737913/Das-spiessige-Gesicht-der-Franzosen.html
    http://www.textlog.de/tucholsky-die-stadt-paris.html

  3. Es ist ja durchaus lobenswert, wenn Yunus Zimmermann seine Erlebnisse in Frankreich reflektiert, besonders, wenn er einschränkend hinzufügt: „Vielleicht nehme ich ihn nur als Ausländer, als Außenstehender, ausgeprägt zu Kenntnis.“ Zu diesem Ergebnis muss in der Tat gelangen, wer Frankreich wirklich kennt. Und das ist vor allem auf einen typisch deutschen, vermeintlich „tiefschürfenden“ Blick zurückzuführen, auf das Bedürfnis, alles und jedes „auf den Punkt“ zu bringen, auch wenn es in seiner Widersprüchlichkeit nicht auf den Punkt zu bringen ist.
    Für die daraus resultierenden Klischees liefert „DH“ (#1) ein Beispiel. Deutlicher noch bei europapolitischen Themen etwa bei Faz.net, wo ins Auge sticht, wie (oft aufgesetzte) Anglophilie mit massiver Frankophobie einhergeht, vielleicht gerade erst dadurch bedingt ist. – Wie wäre es, andere Lebensarten einfach zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren statt – auf Teufel komm raus – nach dem eigenen Koordinatensystem beurteilen zu wollen?
    Seit über 40 Jahren mit einer Französin verheiratet und mit drei binationalen Kindern, maße ich mir derartige pauschale Urteile nicht an. Ich hatte in diesen langen Jahren unzählige Kontakte und Erlebnisse, sowohl in der „France profonde“ als auch in Pariser Kreisen, die sich selbst zur Schickeria zählen. Ob diese, wie EVaK meint (#2), von einem „eleganten, heiteren und liberalen Flair“ geprägt ist, wage ich zu bezweifeln. Ich habe hier, etwa in der Art, auf geradezu penetrant konforme Weise „Originalität“ zur Schau zu stellen und sich selbst zu feiern, mindestens ebenso viel Spießigkeit erlebt.
    Ich habe den „Mai 68“ als Student in Paris erlebt, leugne nicht eine gewisse – sicherlich zwiespältige – Faszination von „Dani le rouge“, „le communiste juif allemand“, von den wochenlang, Tag und Nacht andauernden heftigen, aber friedlichen Disputen zwischen unterschiedlichsten politischen Lagern im „Odéon sous le drapeau noir“, von der Tatsache, dass im Tränengasnebel in Flammen aufgehende Autos nicht – wie in Deutschland – zu reflexhaften wüsten Beschimpfungen der eigenen Jugend führten, sondern – zumindest vorübergehend – zu Solidaritätserklärungen. Natürlich ist es aber völliger Unsinn (wie DH) zu behaupten, dass die Rechten „mit 68 von einem Moment auf den anderen in die Bedeutungslosigkeit gefegt wurden“. Das Gegenteil ist der Fall: De Gaulle hat in der Folge seinen größten Wahlsieg gefeiert.
    Als „boche“ schon 68 in eine französische Familie eingedrungen, habe ich erst in Frankreich erfahren, was „Familie“ eigentlich ist – wiewohl ich selbst einer Großfamilie entstamme. Schließlich hatte ich in Deutschland fast nur zerstörte Familien erlebt – und bayrisch-katholische Familienideologie. Ich konnte erleben, wie in diesem „France profonde“ Vorurteile sich in Sympathie wandelten. Hilfsbereitschaft und Familiensinn gehören hier ebenso zur Selbstverständlichkeit wie Offenheit (und sogar ein gewisser Stolz), wenn Familienmitglieder aus Martinique oder den USA mit einem schwarzen Baby zurückkehren. Familien- und Mutterideologie sowie „Rabenmutter“geschwätz sind dennoch unbekannt und würden nur Kopfschütteln auslösen. Selbstverständlich gehen alle Kinder mit drei Jahren in die „Schule“, ohne dass ich je die in Deutschland behaupteten emotionalen Defizite des Mutterentzugs hätte feststellen können. Die Berufstätigkeit von Frauen ist ungleich höher als in Deutschland und außerhalb jeder Diskussion: Wo die entsprechende Infrastruktur staatlich garantiert ist, stellt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eben kein Problem dar.
    Und (auch wenn man es nur schwer akzeptiert): Man hört mir durchaus zu, wenn ich vorrechne, dass Atomkraft – rechnet man die Folgekosten mit ein – die mit Abstand teuerste Art der Energiegewinnung darstellt.
    Freilich gibt es da auch die nicht in Frage zu stellenden Traditionen: Regelmäßig muss ich mir die Frage anhören, wann ich (mit der Ältesten verheiratet), doch auch endlich Großvater werde. Der Mittagstisch ist heilig, auch in Schule und Geschäften. Doch hat das etwas mit überkommenen oder gar reaktionären Einstellungen zu tun? – Man vergleiche mit einer immer penetranteren Dickleibigkeit, etwa in den USA, um Essenskultur schätzen zu lernen.
    Schwer tue ich mich mit dem Umgang mit nationalen Symbolen (etwa einer Jeanne d‘Arc), auch in der Einschätzung, wie es mit kultureller und religiöser Toleranz bestellt ist. Der Stolz auf die eigene Nation ist freilich nicht aus einer Einstellung heraus zu begreifen, die mit der eigenen Nation nicht nur hadert, sondern alle möglichen schlimmen Einstellungen auf diese projiziert, um in Abgrenzung zu ihr seine Selbsteinschätzung zu basteln.
    Das gilt auch für den Umgang mit Minderheiten. So eindeutig die Methode eines Sarkozy (damals Innenminister) zu verurteilen ist, mit dem „Kärcher“ die Vorstädte zu „reinigen“: Man sollte schon einmal frühmorgens im Bus durch Pariser Vororte gefahren sein, sich gefragt haben, ob man sich in Zentralafrika oder Arabien befindet, um zu erahnen, wie und warum Toleranz an Grenzen stößt. Und wenn man Klagen von Einwandererkinder über „nationalistische Bemerkungen“ zitiert, sollte man sich auch fragen, wie eine einigermaßen attraktive Frau sich fühlt, die sich abends in keine arabisch bewohnte Gegend traut, weil sie da als „pute“ (Hure) beschimpft würde.
    Die Haltung zu religiösen (bzw. nicht-religiösen) Einstellungen habe ich in meiner Familie und auch Umgebung bisher als eher tolerant und aufgeschlossen eingeschätzt – allerdings mit der Einschränkung, dass solche niemals ernsthaft diskutiert wurden.
    Umso mehr stellen die Demonstrationen gegen Homo-Ehe und vor allem Adoptionsrecht auch für mich durchaus eine Art Kulturschock dar. Ging doch Derartiges selbst in erzkatholischen Ländern wie Irland oder Portugal ohne auch nur annähernd große Aufregung über die Bühne. Zweifellos spielt hier auch eine katholische Indoktrination eine Rolle. Es scheint mir aber ziemlich verfehlt, hier von Äußerungen der „France profonde“ zu sprechen: Es sind nicht vorwiegend Menschen aus der Provinz, die hier demonstrieren, sondern Pariser, Intellektuelle, die sich durchaus als der „Elite“ zugehörig fühlen. Vor allem aber witterte die entmachtete und in sich völlig zerstrittene Rechte hier die Chance, der „linken“ Regierung eins auszuwischen, wobei die Regie mehr und mehr zum Front national überging. Wie schon wiederholt ein von unendlichem Opportunismus gekennzeichneter Sarkozy, profilieren sich dessen Jünger hier wieder als Propagandisten der extremen Rechten.
    Zur Einschätzung des Anteils religiöser Doktrin hier zum Abschluss eine Episode: Ich hatte neulich eine intensive Diskussion mit einer französischen Professorin, sozial und religiös sehr engagiert und alles andere als engstirnig. Sie frage mich, der ich meinen Vater nie kennengelernt habe, nach meinem Vaterbild, meinte, erhebliche Probleme in meiner Sozialisation aufgrund fehlender Vaterfigur feststellen zu müssen. Ich entgegnete, mich in dieser Hinsicht an keine besonders quälenden Erlebnisse erinnern zu können, dass man – besonders wie bei einer kriegsbedingten Massenerscheinung – auch andere als die gewöhnliche familiäre Situationen als „normal“ empfinden könne, bezog dies auch ausdrücklich auf Kinder in Familien gleichgeschlechtlicher Eltern. Sie widersprach mir heftig, ohne allerdings eine Begründung für die Behauptung anzugeben, dass die Vater–Mutter–Kind-Konstellation in psychologischer Hinsicht die einzig „normale“ sei.
    Mir scheint, dass bei der Einschätzung offensichtlich widersprüchlicher Erfahrungen in Frankreich Vorsicht zu walten hat. Vieles spricht dafür, dass bei der Fähigkeit Grenzen erreicht sind, sehr rasche Veränderungen, auch in Zusammenhang mit Europa, in ein eher traditionelles Weltbild zu integrieren, das – im Unterschied zu Deutschland – nicht durch radikale Brüche bestimmt ist.
    Vor allem aber sollte, wer Frankreich und die Franzosen wirklich kennenlernen will, seine nationale Brille lieber zu Hause lassen.

  4. @Werner Engelmann: Danke für Ihren interessanten Beitrag.

    Zwar habe ich, obwohl ich ein ausgeprägtes Sprachgefühl habe, keinen sonderlichen Draht zu romanischen Sprachen, deshalb kann ich auch bestenfalls rudimentär Französich. Das ist aber kein Grund für, mich nicht für das Nachbarland zu interessieren, und sicher nicht nur aus „typisch deutscher“ Sicht. Ich versuche es aus europäischer Sicht und aus der Sicht einer an historischen Zusammenhängen interessierten Person. Frankreich und Deutschland haben trotz unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklung mit Karl dem Großen letztlich eine gemeinsame Wurzel. Wenn Sie meine Sicht auf das „elegante, heitere und liberale Flair der Weltstadt Paris kritisieren“, so kommt Ihnen mein Folgesatz aus: „Dieses nach außen liberale und weltoffene Bürgertum ist im Inneren allerdings selbst verkrustet und in Ritualen erstarrt, wie die Filme Buñuels und Chabrols immer wieder zeigen.“

    Interessant fand ich Ihre Episode mit der Professorin und der Schlußfolgerung, die Sie daraus ziehen. Das Weltbild vieler Franzosen mag traditionell sein, aber ich bezweifle, daß diese Welt nicht von radikalen Brüchen bestimmt ist. Die Revolution, die Umbrüche des 19. Jh. und der Erste Weltkrieg, der vor allem auf französichem Boden aufs brutalste ausgefochten wurde, dann folgend die Besetzung und Teilung im Zweiten Weltkrieg sind nicht spurlos an der Grande Nation vorbei gegangen. Das halte ich eher für einen Grund, daß die Franzosen ein traditionelles Weltbild stärker verteidigen, während dieses in Deutschland insbesondere durch die Okkupation seitens der Nazis nicht mehr tragbar war und Brüche sui generis erzeugte, insbesondere eine „Enthausung“ und „Heimatlosigkeit“. Allerdinngs halte ich ein dumpfes Klammern an tradiionelles Weltbildern für äquivalent mit einem dumpfen Suchen danach – es bleibt die Dumpfheit, mehr nicht. Es ist kein Platz für neue offene Werte darin.

  5. @EvaK,

    Das penetrante Suchen nach „Neuem“, neuen Werten, neuen Lebensweisen etc., und das gleichzeitige, keine Unterschiede machende Verteufeln des „Alten“, von Traditionen, und die völlige Unfähigkeit, auch in den Traditionen erhaltenswerte Werte zu erkennen, könnte man mit ganz großer Berechtigkeit ebenfalls mit dem Attribut „dumpf“ versehen, wenn man auf Krawall aus wäre oder sich selber als große Leuchte hervorheben möchte.

    Von Yunus Zimmermann wurde kritisiert, daß mit hochpauschalisierender Attitüde an die Bewertung bestimmter Personengruppen herangegangen wird… daß Sie genau so vorgingen, als sie über die Menschen des Frankreichs jenseits der Großstädte ihr harsches Pauschalurteil fällten, ist Ihnen nicht aufgefallen? Oder ist sowas bei Zentraleuropäern erlaubt, und nur bei allen anderen nicht?

    Werner Engelmann ist wirklich sehr zu danken, daß er dies hier sehr eindrucksvoll geradegerückt hat.

  6. Sie sind nach wie vor meisterlich im Hineininterpretieren, persönliche Schuldszenarien aufbauen und Outcasts generieren. Aber das kenne ich ja inzwischen, und das verfängt mir sowieso nicht. Sachbezug bitte, Werner Engelmann hat es vorgemacht.

  7. „Natürlich ist es aber völliger Unsinn (wie DH) zu behaupten, dass die Rechten „mit 68 von einem Moment auf den anderen in die Bedeutungslosigkeit gefegt wurden“

    So ganz haben Sie offenbar nicht verstanden oder verstehen wollen , worauf ich rauswollte.

    Die Rechten sind natürlich nicht die – konservativen – Gaullisten (wie kommen Sie darauf? ) , sondern die wirklich Rechten , aus obenstehendem Artikel geht klar und deutlich hervor , daß es sich um das Potenzial des FN handelt , und auch nicht um heutige Konservative , die den Gaullisten vielleicht nahestehen würden.

    Ich bezog mich mit dem „Bedeutungslosigkeit“ auf die Entwicklung in Deutschland , das hätte ich sicherlich deutlicher dazuschreiben sollen , wo die NPD in den 60ern einen massiven Aufstieg erlebte und kurz vor 68 noch ihre besten Ergebnisse hatte .
    Eine Wahl später haben sie bei praktisch keiner Wahl mehr eine nennenswerte Rolle gespielt .

    Es muß also einen Zusammenhang geben zwischen der Revolte von 68 und dem Untergang einer stärkeren NPD, das ist der Gedankengang , und ich vermute eine Parallele zu heute , der Aufstieg der Rechten – nicht nur in Frankreich – könnte sogar Vorbote eines Linksrucks sein.

  8. zu 7 # DH und 1 #DH
    Das Hinwegfegen der Rechten war sehr missverständlich formuliert, ich habe das auch auf die Rechte in Frankreich bezogen.
    Zum Thema Islam:

    Eine Arbeitskollegin vom mir berichtete von einer Fahrt in der S-Bahn nach Frankfurt, wo sie von zwei Frauen etwas unfreundlich angesprochen wurde.
    Sie sei, so machte man ihr klar, eine schlechte Muslima.

    Mehr noch, sie sei auch eine schlechte Türkin.
    Auf ihre erstaunte Frage, weshalb, erhielt sie die Erklärung: Weil sie kein Kopftuch tragen würde.

    Darauf erwiderte die Kollegin, sie sei Deutsche und trage deshalb kein Kopftuch. Sie kannte keine der beiden Frauen, die Kopftücher trugen und vermutlich aufgrund des Aussehens der Kollegin diesen Verdacht aussprachen.

    Was wäre geschehen, wenn es umgekehrt abgelaufen wäre und die Kollegin grundlos behauptet hätte, die beiden Frauen seien schlechte Deutsche und sollten ihre Kopftücher ablegen?

    Ein junger Mann aus meiner Familie berichtete von wiederholten aufdringlichen Versuchen ihm den Koran und den Islam aufzudrängen. Er musste sich mühsam und energisch dagegen zur Wehr setzen. Erst nach längerer Gegenwehr ließ man ihn in Ruhe.

    Was wäre im umgekehrten Fall geschehen? Ein Aufschrei der Entrüstung.

    Es gibt, soweit ich weiß, drei monotheistische Religionen. Das Judentum, das Christentum und den Islam. Diese drei Religionen verbindet ein gemeinsamer Ursprung. Auch der Islam erkennt Jesus als einen Propheten an, allerdings von nachrangiger Bedeutung.
    Da mutet es schon recht eigenartig an, von Seiten des Islam als Christ mit dem Attribut „Ungläubiger“ belegt zu werden. Diese Bezeichnung ist nicht als positiv zu bewerten.

    Dass der Islam in Deutschland von vielen Leuten als latente mehr oder weniger Bedrohung empfunden wird, dürfte eigentlich nicht überraschen. Man spricht das nicht offen aus, weil das ja schon „rechtes Gedankengut“ wäre.

    Herrn Engelmann sei Dank für seinen sehr erhellenden Beitrag ausgesprochen. Er hat mir, der sich mit in Frankreich herrschenden Gegebenheiten leider wenig bzw. gar nicht auskennt, eine tieferen Einblick verschafft.

  9. @ EvaK, #4
    – „liberales Flair“:
    Danke für Ihre Hinweise. Ich habe erkennbar schlampig zitiert und akzeptiere daher auch Ihren Rüffel. Natürlich ging es mir nicht darum, Ihre Ausführungen anzugreifen, die ich im Wesentlichen ja auch für zutreffend halte. Immerhin ermöglicht dies eine Präzisierung.
    Um es an einem vielleicht etwas trivialen Beispiel zu verdeutlichen: Ich habe noch keinen Franzosen von „Moulin Rouge“ oder „Folies bergères“ schwärmen hören, aber schon etliche Deutsche. (Die Klientel hier stellen wohl auch nur in der Minderheit die Franzosen.) Mit „liberalem Flair“ ist offensichtlich weniger politisch liberale Einstellung gemeint als eine gewisse Neigung zu Schlüpfrigkeit, die man an sich selbst niemals zugeben würde und daher auf andere projiziert. (Durchschnittsfranzosen sind in dieser Hinsicht übrigens deutlich verklemmter als die meisten Deutschen.) Das Klischee vom Franzosen und insbesondere „dem“ Pariser dient damit eindeutig der Verschleierung. Dass solche Vorstellungen von „Nationalcharakteren“ keine Basis für gegenseitiges Kennenlernen darstellen, liegt m.E. auf der Hand. Für gefährlich halte ich solche – auch positiv gemeinte – Klischees, weil sie schon bei geringem Anlass in Aversion oder gar Aggression umschlagen können. Dies gilt umgekehrt auch für das Deutschland-Bild von Franzosen, das (eindeutig medial geprägt) z.Zt. eher von Bewunderung für die wirtschaftliche Prosperität hier zu Lande gekennzeichnet ist. Verwunderung herrscht, wenn meine Frau und ich auf den Preis dafür verweisen, so etwa Dumping-Löhne und zunehmende soziale Schere.

    – radikale Brüche“:
    Zweifellos gibt es solche auch im Nachkriegsfrankreich, aber von ganz anderer Art als in Deutschland und daher auch mit diesen kaum vergleichbar. Wenn von Brüchen mit traumatisierenden Folgen die Rede sein kann, dann in erster Linie vom Algerienkrieg resp. der Lösung von der kolonialen Vergangenheit. Es gehört sicher zu den bleibenden Verdiensten eines General de Gaulle (neben dem Anstoß zur deutsch-französischen Aussöhnung), diese wie auch die Integration der „pieds noirs“ (Algerienfranzosen) geschafft zu haben: Er, der als Vertreter von „Algérie française“ an die Macht kam, entließ Algerien in die Unabhängigkeit. Freilich sollte auch die Methodik dieser Kehrtwendung ins Auge gefasst werden: indem er einige seiner putschenden ehemaligen Kampfgefährten kurzerhand einen Kopf kürzer machen ließ. Die Integration der Algerienfranzosen, die sich ja eher als Elite fühlten, ist mit der Integration von Flüchtlingen aus Ostgebieten in Deutschland also nur sehr bedingt vergleichbar.
    Ähnlich bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit: Einer solchen (und damit auch dem Gedanken der Aussöhnung) stehen ja nationale Mythen im Wege, die sich als sehr hartnäckig erweisen, gepflegt werden (so z.B. der Opfermythos, besonders stark in Polen, aber auch in den Niederlanden) und – zu unterschiedlichen, meist chauvinistischen Zwecken – aufgewärmt werden können. (So griff ein Milosewics bei seinem Serbenmythos bis auf die Schlacht am Amselfeld im 13. Jh. zurück.)
    Das gibt es natürlich auch in Frankreich. So ist hier (ich glaube, als einzigem Land) der 11. November ein nationaler Feiertag: „Armistice“ – was heute meist als „Ende des 1. Weltkriegs“ beschrieben wird, aber „Waffenstillstand“ heißt, womit das Versailler Friedensdiktat gemeint ist, für das in erster Linie Marschall Foch verantwortlich zeichnet: geprägt von Unerbittlichkeit und abgrundtiefem Hass auf alle Deutschen. Wiewohl dieser (indem er verstärkte Kampfhandlungen während der Waffenstillstandsgespräche befahl) sinnloses Gemetzel und Tausende weitere Tote zu verantworten hat, wird er bis heute geehrt. (Freilich besitzt auch bis heute fast jede größere spanische Stadt ihre „Avenida del Generalissimo Franco“ und Auseinandersetzung mit Franquismus wird tunlichst vermieden.) – Beispiele, die zeigen, welche dicken Bretter hier zu bohren sind und dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit (nicht nur dem 3.Reich) in Deutschland wohl ziemlich einmalig ist.
    Andererseits hat in Frankreich sehr wohl eine Auseinandersetzung mit Kollaboration und dem Pétain-Regime stattgefunden, und das Bekenntnis eines Mitterand sucht hier seinesgleichen. Die Schrift des Figaro-Journalisten Picaper „Les enfants de la honte“ (Kinder der Schande), der mindestens 200.000 Kinder von Französinnen mit deutschen Besatzungssoldaten aufführt, ist eine Grundlage, nach der sich auch nach 60 Jahren noch deutsch-französische Halbgeschwister finden, die nichts voneinander wussten.
    – „Rechtsruck“ / Umgang mit dem Front National:
    Das ist etwas, was mir schwer im Magen liegt. Vor allem, was die Akzeptanz angeht, ist der Front national mit der NPD kaum vergleichbar. Wenn etwa nach dem Aufdecken des Steuerskandals eines PS-Ministers Vertreter des „Front national“ im französischen Rundfunk als Kronzeugen für „Sauberkeit“ aufgerufen werden, von dem kulturellen Kahlschlag in Städten, wo sie regieren (so etwa in Orange, aber fast nichts zu hören ist, so halte ich das schlichtweg für skandalös. M. E. fehlt hier das Bewusstsein, wie bei einem solchen scheinbar „toleranten“ Umgang zunehmend chauvinistische Elemente transportiert werden. Dies in einer These vom „Rechtsruck“ auf Frankreich zu konzentrieren, schiene mir dennoch verfehlt. Insbesondere was Europafeindlichkeit betrifft, finden sich etwa bei der AfD Positionen, die vom Front national schon längst „vorgedacht“ sind. Mir scheint, dass die Frage, ob hier qualitative Veränderungen stattfinden, nur auf europäischer Ebene adäquat angegangen werden kann. Mit dem Finger auf andere zu zeigen, ist wohl die schlechteste Vorgehensweise.

  10. „Vieles spricht dafür, dass bei der Fähigkeit Grenzen erreicht sind, sehr rasche Veränderungen, auch in Zusammenhang mit Europa, in ein eher traditionelles Weltbild zu integrieren“

    Es scheint nicht nur Europa, sondern die Globalisierung insgesamt zu sein, mit der viele Franzosen hadern. Hier versagt übrigens das links-rechts-Schema der Einordnung, denn eine Ablehnung der Globalisierung und vieler ihrer Auswirkungen ist links ebenso wie rechts zu finden, und zwar mit ähnlichen Argumenten: Warum müssen wir etwas erdulden, was unser Leben nur verschlechtert? In Deutschland scheinen die Menschen da eher zu meinen: Wir können der Globalisierung sowieso auf Dauer nicht ausweichen, also akzeptieren wir sie doch gleich mit allem drum und dran, und nutzen die Chancen, die sie bietet.

    Daß am Ende dann im einen Land die wirtschaftliche Entwicklung stagniert, weil man eben auch die Chancen ablehnt, im andern mit dem „Globalisierungsstrom“ schwimmend eher wirtschaftliche Erfolge zu verzeichnen sind, könnte man als zwangsläufiges Ergebnis solcher Befindlichkeiten deuten.

    Der große „geschichtliche Bruch“ mag in F nicht existieren, aber einen kleineren gibt es schon: Die Koloniezeit. Die Mehrheit der Einwanderer kommt aus ehemaligen Kolonien, oder aus den Provinzen Outre Mer, und das führte doch auch zu einer verbreitet liberaleren Einstellung gegenüber diesen Einwanderern, als es in D der Fall war. Wieso soll ein eingewanderter Türke als Deutscher gesehen werden? Ein Einwanderer aus den französischen Kolonien hingegen war ja praktisch irgendwie schon ein Franzose, wenn auch vielleicht für manchen nur zweiter Klasse. Der Einwanderer aus den Kolonien spricht französisch, der Türke zunächst in der Regel überhaupt kein Deutsch. Hatte aber ein Algerer im Unabhängigkeitskrieg an der Seite der Franzosen gekämpft, so kann auch ein erzkonservativer Franzose die Anwesenheit von ihm und seinem Nachwuchs im Land nicht ablehnen können, wenn er anständig ist.

    Ähnlich ist das übrigens in Großbritannien, wo es lange Zeit eine sehr liberalen Einwanderungspolitk gab, wovon z.B. viele Pakistanis profitierten. Irgendwie scheint es in diesen Ländern doch ein schlechtes Gewissen zu geben, nur eben nicht bezüglich eines Kriegs, den man gegen die Welt führte, sondern wegen der Kolonialisierungen, die ja mit Umständen einhergingen, die man ganz berechtigt als Ausbeutung bezeichnen kann.

    In Deutschland gibt es vergleichbares nicht, denn Einwanderung aus Schwarzafrika findet in den seltensten Fällen aus Kamerun, Togo, Tansania oder Namibia statt, und ein Bewußtsein, man hätte gegenüber diesen Ländern aus einer Kolonial-Schuld heraus eine gewisse Verantwortung, ist ja kaum vorhanden, da die Kolonien schon sehr früh aufgegeben werden mussten (vor 1918)… und im Übrigen spricht dort aus diesem Grund auch kaum noch jemand Deutsch (Namibia mal ausgenommen).

    In Großbritannien gibt es inzwischen eine Situation, in der mehr und mehr Menschen sagen: Langsam reichts. In entsprechenden Phone-In-Sendungen des BBC (Any Questions usw.) hört man ablehnende Äußerungen in Quantität und Qualität wie früher nur selten, wenn es um dieses Thema geht. Die entsprechenden Sendungen in Frankreich (Le telephone sonne etc.) verfolge ich leider schon eine ganze zeitlang nicht mehr, kann über die französische öffentliche Diskussion (nicht die von Intellektuellen, sondern die einfacher Bürger) also nichts sagen.

    Es scheint hier aber ganz einfach in jedem Land eine Grenze zu geben, jenseits derer sich die Menschen unwohl fühlen, weil ihnen alles zu „fremd“ wird. So entstehen ja überhaupt die Ghettos, weil alle, die nicht der stark angewachsenen eingewanderten Ethnie angehören, Reißaus nehmen, wenn sie dazu finanziell in der Lage sind. Das ist aber wohl keine nationale Eigenheit, sondern eher eine allgemeinmenschliche, daß man „unter seinesgleichen“ sein möchte… was den gelegentlichen „Anderen“ überhaupt nicht ausschließt, aber eben dann doch, wenn das „gelegentliche“ zum „überwiegenden“ wird.

    Nicht zuletzt gibt es dann auch moderne Gründe, warum das „Anderssein“ immer weniger und immer langsamer abgebaut wird… wie etwa die Möglichkeiten, über Sat-TV oder Internet sich an der Herkunftskultur festzuklammern. Das baut nicht Barrieren ab, sondern zementiert sie.

  11. P.S. @ Werner Engelmann,

    ich habe Ihren Beitrag nicht gelesen, bevor ich meinen schrieb, sonst hätte ich die Hinweise auf die Kolonialgeschichte weggelassen.

    Daß aber in Frankreich eine gewisse, na sagen wir mal Anerkennung der wirtschaftlichen Leistungskraft Deutschlands verbreitet ist, ist ja so neu nicht. Wir leben nunmal auch in den Augen der meisten Franzosen schon länger in dem Land, aus dem die Luxusautos kommen, das auch mal eine starke Währung hatte, usw. In einer ausgesprochenen Weltkrisenlage die wirtschaftliche Leistungskraft beibehalten zu können, sattelt dann nur auf schon bestehende Vorstellungen eins drauf.

  12. @Max Wedell, EvaK

    Angeregt durch die Ausführungen von Max Wedell über französischen Kolonialismus (und in Übereinstimmung mit Ihnen, dass es zur Beurteilung der Kenntnis der jeweils spezifischen Bedingungen bedarf) hier noch einige historische Ergänzungen zum Selbstverständnis des französischen Sozialismus/ Kommunismus.
    Dieser ist m.E. weniger durch Marx als durch den vormarxschen utopischen Sozialismus eines Saint-Simon und Proudhon geprägt. Proudhon schreibt in seinem Hauptwerk „Qu’est-ce que la propriété?“: „La propriété, c’est le vol“ und dann: „La propriété, c’est la liberté.“ (Eigentum ist Diebstahl – Eigentum ist Freiheit), wobei er auf letzterem insistiert, der Vorstellung von Eigentum als Gegengewicht zum Staat. Zwischen diesen Polen einer durchaus kleinbürgerlichen Vorstellung von „Eigentum“ bewegt sich auch die heutige französische Linke. Die idealistische/utopische Orientierung macht zugleich verständlich, dass sich die französische KP – im Unterschied zu den italienischen Kommunisten – mit der Kenntnisnahme der stalinistischen Verirrungen und Verbrechen besonders schwer tat.
    Sehr interessant in diesem Zusammenhang der Film von Véra Belmont „Le rouge baiser“ von 1985 (bei Wikipedia nur in der französischen Fassung) über die Zweiteilung der französischen Gesellschaft in der Stalin-Ära. Eine junge militante Kommunistin verliebt sich ausgerechnet in einen Fotografen von „Paris Match“, der für die Werbeindustrie arbeitet – was zu entsprechenden Problemen mit ihren Genossen führt. Ein russischer Kommunist, eben dem Gulag entkommen, wird von den Genossen empfangen. Als der die Bewunderung seiner Gastgeber für Stalin erkennt, gerät er an den Rand des Wahnsinns.
    Mir scheint, diese idealistisch-theoretisierende Tendenz (ganz im Gegensatz zu britischem „Pragmatismus“) erklärt, warum in Frankreich die jeweiligen Pendelausschläge größer sind als in anderen Ländern.
    Angewandt auf die These vom „Rechtsruck“ heißt dies: Die gegenwärtige massive Kritik an der sozialistischen Regierung (wozu diese ja auch einigen Anlass gegeben hat) spiegelt lediglich die übliche Ernüchterung angesichts nicht realisierbarer Wahlversprechen wider. So etwa habe ich gegenüber meinem Sohn (in der PS in Paris aktiv), schon vor den Präsidentschaftswahlen erklärt, dass mir die Rücknahme der von Sarkozy eingeführten Anhebung des Rentenalters von 60 auf 62 (!) – ein wesentlicher Punkt für dessen Niederlage – als unrealistisch erscheint und zum Bumerang werden kann. (Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die demografische Entwicklung bei weitem nicht so bedrohlich erscheint wie in Deutschland.)
    Abschließend meine (und hoffe) ich, dass die These vom „Rechtsruck“ in Frankreich zumindest etwas voreilig ist.

  13. Noch eine Ergänzung zu Max Wedells Äußerungen über die Franzosen „d’Outre mer“. Das Verhältnis zu diesen ist im „Mutterland“ m.E. keineswegs nur von schlechtem Gewissen geprägt: Auch in der tiefsten Provinz (so in der ostfranzösischen Kleinstadt, wo wir demnächst wohnen werden) sind regelmäßige Besuche in den überseeischen Provinzen gang und gäbe. Ich war vor einiger Zeit auf Martinique. Von Tendenzen einer Unabhängigkeitsbewegung keine Spur. Man ist vielmehr stolz, Franzose zu sein. Die Häuser in meist jämmerlichem Zustand, davor aber ein Mercedes. Man wäre ja auch – vergleicht man mit den Zuständen unabhängiger, besonders ehemals spanischer Karibikländer – mit dem Klammeraffen gepudert, unter den sehr kommoden Bedingungen als Franzosen nach Unabhängigkeit zu streben!

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