Viele Menschen scheinen der Dinge überdrüssig zu sein. Fragt man sie, warum sie glauben, dass alles vor die Hunde gehe (wie sie annehmen), geben sie der politischen Elite und den „Systemparteien“ die Schuld. Alles scheint besser zu sein als die derzeitige Ordnung. Was ist los in diesen Köpfen? Glauben die das wirklich?
Man könnte meinen, Max Mustermann, der kein Mustermann ist, habe sich plötzlich unendlich oft geklont. Nicht dass das Schimpfen auf „Die da oben“ etwas Neues wäre. Das gab es tatsächlich auch schon zu analogen Zeiten. Jetzt aber wird daraus anscheinend eine Massenerscheinung, die ebenso machtvoll wie kopf- und geistlos wirkt und der alles besser zu sein scheint als die gegenwärtige Ordnung. Dabei hat diese „Bewegung“ keine ernsthaften Alternativen anzubieten. Sie bezieht ihren Schwung und ihre Wucht nicht aus Argumenten, weshalb die Auseinandersetzung mit Hilfe von Argumenten auch sinnlos ist, sondern aus Stimmungen und Gefühlen. Ein wesentlicher Faktor, der sie antreibt, ist Stress. Denn fraglos ist der Stress im System in den vergangenen Jahren gewachsen – und wächst übrigens derzeit kräftig weiter, denn die aktuelle Debatte über die Rente verstärkt das Gefühl, das nichts mehr sicher ist; und wo Unsicherheit entsteht, da wächst der Stress. Das kopflose Agieren unseres Kanzlers in dieser Angelegenheit verstärkt diesen Eindruck. Friedrich Merz (CDU) führt nicht, sondern er springt opportunistisch immer wieder auf bereits fahrende Züge auf, und mehr als einmal treiben Debatten ihn vor sich her, die er bei den Hörnern nehmen müsste.
Stress ist überall. Im Osten ist Krieg, der große Bruder im Westen ist kein Verbündeter mehr, das Markenzeichen „Made in Germany“, Ausweis von Einfallsreichtum und Wirtschaftskraft, verliert seine Strahlkraft, die Kaufkraft sinkt, das Gesundheitssystem ist in der Krise und die Deutsche Bahn notorisch verspätet, wir ersticken in Bürokratie, KI droht uns die Jobs zu rauben, die Globalisierung schlägt ebenso zurück wie das Klima und das Imperium, „Die da oben“ haben sich vom Volk entfernt, das sie vertreten sollen, und das alles wird angeführt von einem Mann, der als eines unserer drängendsten Probleme das „Stadtbild“ thematisiert und über „kleine Paschas“ und die Wartezeiten beim Zahnarzt räsoniert. Allüberall auf den Tannenspitzen sieht man derzeit Verwirrung blitzen.
Stress ist im System, und die, die davon profitieren, schüren ihn eifrig. Je komplizierter der Gemengelage, desto größer die Sehnsucht nach Führung. Nach einem Führer (m/w, keineswegs d). Einfache Lösungen sind gefragt. „Es gibt eine Lust, alles niederzubrennen“, analysierte der Soziologe Oliver Nachtwey im FR-Feuilleton. Diese Lust ist destruktiv, und es ist schwer, etwas dagegen zu unternehmen. Aber eines könnte vielleicht recht schnell helfen: Schluss mit den Hyperventilieren, eine Pause machen und tief durchatmen. Als erster Schritt.
FR-Leser Henning Schramm hat weitere Gedanken zu diesen Fragen
Demokratischer Faschismus?
Die träge, betäubende Vernunftlosigkeit und Blindheit verbunden mit der Akzeptierung oder gar Sehnsucht nach einer autoritären Führerpersönlichkeit hat heute leider wieder Konjunktur. Das entsprechende politische Angebot, verkleidet in pragmatische, unkomplizierte, populistische Politikangebote, subjektive Ideologien und populistische Wertvorstellungen wie Homogenität, völkischer Abgrenzung, Nationalismus und Ordnung ist groß und weltweit verbreitet. Man ergibt sich einer Illusion, zu glauben, dass die autoritären Tendenzen (‚Demokratischer Faschismus‘) in einer Gesellschaft schon nicht in offenen Faschismus umschlagen werden. Wer nicht blind oder verblendet durch die Lande läuft, wer das Geschehen um sich herum nicht weglächelt, verharmlost oder einfach ignoriert, kann sehen, was geschieht.
So unterschiedlich die Vorstellungen der Demokratieverächter im Einzelnen sein mögen, sie zweifeln gemeinsam daran, dass die Demokratie und deren Institutionen in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen. Massive Unterstützung findet diese Demokratieverachtung aus den USA. So z.B. der libertäre Tech-Investor und Unterstützer von Trump, Peter Thiel, der sein Demokratieverständnis kurz und knapp in folgende Worte fast: “Ich glaube nicht mehr länger, dass Demokratie und Freiheit kompatibel sind.“
Die jüngste „Mitte-Studie“ hat gezeigt. Immer mehr Menschen rutschen in einen ‚Graubereich‘ ab, was bedeutet, dass sie sich gegen den Einfluss von rechts nicht mehr wehren. Sie widersprechen nicht menschenfeindlichen und die Demokratie diffamierenden Äußerungen. 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung streben gar einen radikalen Bruch mit der liberalen Demokratie an und ziehen ein autoritäres Regime der Demokratie vor. Sie alle glauben an einen autoritären Staat, der ihnen populistisch verklärt, eine bessere Zukunft verspricht. Und sie nehmen die hetzerischen Parolen der Rechtsradikalen, vorneweg der AfD und ihren Protagonisten, hin. Im letzten Wahlkampf haben z.B. AfD Spitzenpolitiker in Brandenburg gefordert „den Parteienstaat zu beenden“, ein anderer AfD-Abgeordneter will gar „die politische Elite erschießen.“
Das „Zentrum für politische Schönheit“ hat über 4000 Beweise für die Verfassungswidrigkeit der AfD publiziert. Wenn die WählerInnen eine solche Partei gutheißen und wählen, deren führende Mitglieder sich zum totalitären Staat bekennen und zu Mord und zur Abschaffung der Demokratie in Deutschland aufrufen, kann man mit Fug und Recht argumentieren, dass eine solche Partei nicht in das demokratische Spektrum wählbarer Parteien passt. Unsere Verfassung hat eine solche Krise der Demokratie ins Auge gefasst und für den eintretenden Fall in Artikel 21 festgeschrieben, dass eine solche rechtsradikale, verfassungsfeindliche Partei aus dem demokratischen Wettbewerb gezogen und verboten werden kann.