Alle Briefe von Leserinnen und Lesern dieser Woche im Überblick nach ihren Erscheinungstagen und: Offene Diskussion! Lesen Sie in Ruhe oder suchen Sie Ihre Zuschrift gezielt mit der Tastenkombination STRG und F sowie dem Namen als Suchbegriff. Sie finden hier:
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Forum vom 8. Februar
Seite eins
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Mörderisches Verbrechen
Seenot: „Zu viele Menschen gerettet“, FR-Tagesthema vom 1. Februar?
„Uns wird vorgeworfen, wir haben zu viele Menschen gerettet“, sagt die Geschäftführerin Verena Papke von SOS Mediterranee Deutschland im Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 2021.
So lange schon ertrinken Menschen im Mittelmeer, weil die Anrainerstaaten keine Rettungsschiffe schicken. Das an sich ist schlimm genug. Zusätzlich verweigern sie, daß Freiwillige auf eigene Kosten sie retten.
Man stelle sich vor, ein Kind bricht in Eis ein, und die Umstehenden schauen weg. Ein riesiger und nie endender Aufschrei der Empörung würde die Wegseher treffen.
Wer ist verantwortlich dafür, daß keine Rettungsschiffe auf’s Mittelmeer geschickt werden? Wer hindert Freiwillige am Retten? Findet jetzt überhaupt keine Seenotrettung mehr statt?
Im Mittelmeer begeht die westliche Wertegemeinschaft gerade eines seiner mörderischsten Verbrechen. Jeden Tag auf’s Neue. Mit Wegsehern. Hinsehern. Und mit Menschen, die das nicht ertragen können. Wie steht eigentlich die Bundeskanzlerin von der regierenden CDU dazu? Was meint der Kanzlerkandidat der regierenden SPD? Wann empört sich unser Bundespräsident mal so richtig? Könnte sich der Außenminister hierzu mal äußern? Sind alle nur Victor Orban?
Wer Gutes tun kann und nicht tut, der sündigt.
Ralf-Michael Lübbers, Marienhafe
Wo Männer Opfer waren
Zu: „Gewalt gegen Frauen“, FR-Tagesthema vom 2. Februar
Erfreut lese ich von dem Vorschlag, schon an den Schulen das Thema Partnerschaftsgewalt zu behandeln. Jahrzehnte lang empfand ich mich bei der praktischen Bemühung um die Vermittlung von Partnerschaftskompetenz als Exot, es gelang mir allenfalls minimal, andere Lehrkräfte dazu zu motivieren, auch in der Erwachsenenbildung bot ich mein Konzept vergeblich an. Nach meinen Erfahrungen ist die Problematik in den Schulklassen emotional hoch besetzt und entsprechend stark nachgefragt, auch konnte ich die erworbenen Kompetenzen in Klausuren oder im mündlichen Abitur überprüfen. Grundlegend präventiv erscheint mir die Einübung von fairem Konfliktaustrag in Partnerschaften. Das Thema „Umgang mit Eifersucht“ wurde zum Renner und gab die Chance, insbesondere am männlichen Besitzdenken kritisch zu arbeiten. Bei dem stark nachgefragten Thema „Kindsmissbrauch und Vergewaltigung“ ging es dann nicht nur um Opfertherapieschritte, sondern auch um Tätertherapie als Opferschutz. Hier kam als „ganz zentraler Punkt“ in den Blick, „den Männern Empathie beizubringen“. Dies erscheint mir deshalb besonders schwierig, weil Männer vielfach darauf trainiert sind, den Schmerz erfahrener Gewalt und Demütigung zu verdrängen, wobei sie auch die Empathie in den Schmerz verlieren, den sie zufügen. Der erste Schritt in der Tätertherapie oder der Prävention ist deshalb, bewusst zu machen, wo Männer selbst Opfer waren, was unter dem herrschenden Männlichkeitsideal besonders schwer ist. Aber nur so ist nachhaltige Empathie zurück zu gewinnen und die Gewohnheit zu überwinden, nach oben zu buckeln und nach unten zu trampeln, um schließlich den Kampf gegen die Gewalt von oben aufzunehmen (näheres unter www.friedensbildung-schulpraktisch.de oder auf Nachfrage). Hoffnungsvoll stimmt, dass das Umdenken seit längerem im Gange ist, erkennbar etwa am Rückgang der Gewalt gegen Kinder und der Zunahme der Kriegsdienstverweigerung bzw. den Nachwuchsproblemen bei der Bundeswehr.
Friedrich Gehring, Backnang
Forum vom 9. Februar
Seite eins
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Versöhnliche Lösung
Özil: „Ich kehre nicht wieder um“, FR-Sport vom 28. Januar
besten Dank für den interessanten Bericht von Timur Tinc. Die „Aufregungen“ um Özil im Zusammenhang mit den Erdogan-Fotos und der WM 2018 in Russland sind m.E. viel zu hoch gespielt worden. Seine geschäftlichen Aktivitäten und die im Fußball werden offensichtlich sehr stark von seinem Manager beeinflusst. Wenn ich mich richtig erinnere, wollte Özil seinerzeit ein großes geschäftliches Projekt in der Türkei platzieren. Dazu hat er sich die größtmögliche Rückendeckung geholt – eine veröffentlichte Verbindung zu Erdogan. Wer will und kann hier eine moralische Wertung vornehmen? Auch andere, die geschäftliche Interessen hatten, suchten sich schon vergleichbare „Anschieber“. Was die sportliche Situation bei der WM 2018 betrifft: Özil spielte schlecht – und andere auch.Wenn man seine 92 Länderspiele betrachtet, waren weitaus mehr gut bis sehr gut als ausreichend bis schlecht. Er war ein wesentlicher Leistungsträger des WM-Teams 2014. Spricht man von „verdienten Nationalspielern“, gehört er in jedem Fall dazu. Wenn Özil oder der DFB eine weitere Nationalmannschafts-Teilnahme nicht mehr gewollt hätten (bzw. haben), wäre auch ein angenehmeres Ende möglich gewesen. Özil mit fast 100 Länderspielen und als Weltmeister hätte ein Abschiedsspiel mit allen Ehren bekommen müssen. Ich würde es begrüßen, wenn einige Leute – auch Özil selbst – eine solche versöhnliche Lösung finden würden.
Gerhard Ehemann, Niedernhausen
Forum vom 10. Februar
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Verheerender Irrtum mit Verfassungsrang
Zu: „Hände weg von der Schuldenbremse“, FR-Politik vom 27. Januar
Am 27. März 2011 fand in Hessen eine Volksabstimmung über das „Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen (Aufnahme einer Schuldenbremse in Verantwortung für kommende Generationen – Gesetz zur Schuldenbremse)“ statt. Der Hessische Landtag hatte diese Verfassungsänderung am 15.12.2010 beschlossen. Auch 70 Prozent der Bürger, die an der Abstimmung teilgenommen hatten, waren dafür. Bereits am 29. Mai 2009 hatte der Deutsche Bundestag einer entsprechenden Änderung des Grundgesetzes (Artikel 109) mit Zwei-Drittel-Mehrheit zugestimmt.
Damit erhielt ein verheerender staatspolitischer Irrtum Verfassungsrang. Die Ausgaben des Staats sollten sich fortan und endgültig nicht mehr an strukturellen und sozialen Notwendigkeiten orientieren, sondern an den Regeln des Neoliberalismus. Der proklamiert aus privatwirtschaftlichem Eigeninteresse einen schwachen Staat, der nur geringe Steuern erhebt. Die unumgänglichen Investitionen der Allgemeinheit wurden bewusst als Schulden diskreditiert, so als ob es sich bei den Staatsfinanzen um die Kasse eines Krämerladens handeln würde. Bereits vor der Verabschiedung der Schuldenbremse zeichnete sich der Trend zur schrankenlosen Einflussnahme durch Konzerne ab. Gerhard Schröders Agendapolitik leistete dabei entscheidende Hilfe. Die in den 1970er Jahren in der SPD kontrovers diskutierte Theorie vom staatsmonopolistischem Kapitalismus schien endgültig der Vergangenheit anzugehören. Und mit ihm die Überzeugung, dass die Schulden des Staates lediglich die Summe jener Steuern sind, die man von florierenden Unternehmen und reichen Privatpersonen nicht erhoben hatte.
Die Corona-Pandemie offenbart nun überdeutlich, wohin die falsche Sparsamkeit der öffentlichen Hand führt. Nämlich zu miserabel ausgestatteten Schulen, zu einem zunehmend privatisierten Gesundheitssystem, zu einer anachronistischen Verkehrsinfrastruktur und zu einer öffentlichen Verwaltung, an der die technischen Innovationen der letzten vier Jahrzehnte spurlos vorbeigegangen sind. Die Liste der Versäumnisse ist damit jedoch noch längst nicht vollständig.
Anscheinend bedurfte es erst eines prominenten Mahners, nämlich des Chefs des Bundeskanzleramts, Minister Helge Braun. Der hält die Aussetzung der Schuldenbremse über das laufende Jahr hinaus für erforderlich und erntete dafür sofort den Widerspruch des Wirtschaftsflügels seiner Partei sowie den der Kleinpartei FDP. Doch der Streit zeigt, dass Covid-19 Anlass gibt, vieles allzu Selbstverständliche infrage zu stellen.
Klaus Philipp Mertens, Frankfurt
Es geht um mehr als um Wiedergutmachung
Überlebende des Holocaust: „Noch können wir sie fragen“ und „US-Gerichte nicht zuständig“, FR-Feuilleton vom 5. Februar
Als langjähriger Leser und Abonnent der FR schätze ich es sehr, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, insbesondere mit der deutschen Geschichte, zu den festen Größen im thematischen Repertoire gehört. Wohltuend ist auch der durchgängig sensible Umgang mit der Sprache, exemplarisch dafür war der unaufgeregte und sachorientierte Umgang mit der Frage nach der sprachlichen Gendergerechtigkeit.
Was mir aber immer wieder auffällt, ist die unreflektierte Verwendung des Wortes „Nazi“. Zunächst und vor allem waren es Deutsche, die zwischen 1933 und 1945 im öffentlichen Leben, in der Verwaltung, in den Gerichten, in Schulen, Betrieben und eben auch den Konzentrationslagern dazu beigetragen haben, dass es eine nationalsozialistische Diktatur geben konnte, mit allen Folgen, die wir heute kennen. Von den „Nazis“ zu schreiben, wirkt immer so, als seien 1933 alienartige Wesen aus dem All in Deutschland und Europa gelandet, um dann 1945 genauso wieder zu verschwinden. So aber bekäme der Onkel aus der weitläufigen Familie noch posthum Recht, der 1933 auf einmal stolz in der braunen Uniform der SA durchs Dorf marschierte und 1945 dieselbe Uniform rasch entsorgte, um so zu tun, als sei nie etwas gewesen. Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass gab es lange vor 1933 in Deutschland, gibt es leider heute immer noch und wieder stärker, als man angesichts der deutschen Geschichte für möglich gehalten hätte.
Genau so problematisch ist der Umgang mit den Worten „jüdisch“ oder „Juden“. Es geht um die Zugehörigkeit zu einer Religion, nicht um eine Nationalität und schon gar nicht um eine „Rasse“, wie es die nationalsozialistische Ideologie definierte. Wenn es in der Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der Besitzverhältnisse von Kunst- und Kulturgütern geht wie dem Welfenschatz, kann man nicht von „deutsch-jüdischen Kunsthändler(n)“ schreiben bzw. diesen Wortlaut aus einer Agenturmeldung übernehmen. Es geht dann auch nicht um „jüdisches Eigentum“, wie es an andere Stelle heißt. Es geht darum, dass der deutsche Staat in der Zeit des Nationalsozialismus die systematische Verfolgung und Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens auch dazu genutzt hat, sich an deren Eigentum zu bereichern. Wer wie die Bundesrepublik Deutschland die Rechtsnachfolge dieses Staates antritt, muss sich auch der Verantwortung stellen, die aus diesen Vorgängen erwächst, in moralischer, kulturhistorischer und in wirtschaftlicher Hinsicht. Es geht um mehr als um Restitution.
Stephan Steinhoff, Bonn
Was Heine wirklich sagen würde
Zur Kolumne „Poesie im Kanzleramt“, FR-Meinung vom 6. Februar
Dieses würde Heinrich Heine zur Sozialpolitik der CDU/CSU (z.B. Lieferkettengesetz, Transaktionssteuer, Erbschaftssteuer) sagen – ich zitiere: „Hast Du viel, so wirst du bald noch viel mehr hinzu bekommen. / Wenn du wenig hast, wird dir das Wenige genommen. / Wenn du aber gar nichts hast, ach dann lasse dich begraben. /Denn ein Recht zu leben, Lump!, haben nur, die etwas haben.“
Susanne Helalat, Kassel
Forum vom 11. Februar
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Die Ostbahn stellte die Züge zur Verfügung
Holocaust-Gedenken: „Wer es ernst meint, der zahlt auch etwas“ und „Erinnerung muss lebendig gehalten werden“, FR-Tagesthema vom 8.2. und -Feuilleton vom 27.1.
Dem Rechtsanwalt Axel Hagedorn kann man nur viel Glück für seinen Versuch wünschen, endlich eine angemessene Entschädigung für die noch lebenden Holocaustopfer und deren Hinterbliebenen zu erreichen. Die ewige Wiederholung der DB-Verantwortlichen, die DB sei kein Rechtsnachfolger der DR, ist eine der übelsten Schutzbehauptungen. Nahezu das gesamte Führungspersonal der DR wurde nach dem Krieg von der DB übernommen einschl. Vermögen sprich Schienennetz, Grundstücke und Bahnhöfe. Allein die Karriere des Präsidenten der Generaldirektion der Ostbahn in Krakau, Adolf Gerteis, ist erstaunlich. Damals (1940-1945) war er maßgeblich an der Ermordung von Millionen europäischer Juden, Sinti und Roma mitverantwortlich dadurch, daß die Ostbahn die Züge in die Vernichtungslager zur Verfügung stellte.
Gerteis war seit 1936 NSDAP-Mitglied. Das war aber kein Hindernis , ihn 1950 zum Vizepräsidenten der DB zu ernennen. Als er 1952 in den Ruhestand ging, hat man ihm noch das „Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland“ umgehängt. Den in ihrem Artikel angesprochenen Damen bei der DB und dem Bundesfinanzministerium empfehle ich, die „Entschädigungsanfragen resp. Absagen“ allein der Siniti und Roma durchzulesen.
Erschreckend an der ganzen Sache ist, dass immer noch um Gerechtigkeit gekämpft werden muss. Linke, Grüne und FDP befürworten Entschädigung — so die Überschrift. Herr Salo Muller wird sich freuen; nach 76 Jahren!
Günther Rohr, Rodgau
Quellen und Orte für das Gedenken
Vor kurzem habe ich einen Artikel von Edmund Leites über seinen Vater Nathan gelesen. Edmund Leites berichtet darin, dass ihn zwei Deutsche in den USA aufgesucht hätten, um etwas über seinen Vater zu erfahren, der in Heidelberg studiert hatte und später als Jude emigrieren mußte. Leites jun. meint, das die deutschen Besucher das „verlorene Deutschland“ suchten bzw. versuchten, den Teil der Bevölkerung zurückzugewinnen, dessen Verlust schmerzte. Leites vertritt die Ansicht, dass die Deutschen trauern müssten, dass Trauern eine Art des Zurückgewinnens sei. Man hätte dann das Verlorene im Geiste, man mache es zum „Unsrigen“. Was passiert aber, wenn man unfähig zum Trauern ist (Mitscherlich, 1967), dies nicht aus Verdrängung, wie die Mitscherlichs meinen, sondern weil man gar keinen Verlust erlitten hat oder dies zumindest glaubt? Was geschieht, wenn so jemand zum Trauern gezwungen wird? Frau Assmann betont zu Recht, dass man Quellen, Orte zum Trauern, zum Erinnern bräuchte, dies auch, weil die Überlebenden des Holocaust langsam versterben würden. Quellen, Orte machen es leichter, sich zu erinnern, zu trauern. Aber helfen Quellen, Orte, wenn ich gar nicht trauern will, nicht erinnert werden möchte? Wäre es nicht hilfreich (nicht als entweder oder zu verstehen), wenn ein Trauerprozess über das Verlorene einsetzen würde, denn dann hat jeder Einzelne, sofern man Leites folgen mag, für sich etwas Verlorenes „im Geiste“. Würde dies nicht gegen das Vergessen helfen und wäre man darüber nicht besser vor Antisemitismus gefeit?
Rüdiger Erdmann, Pattensen
Archaische Straftat
Beschneidung: „Die Sehnsucht nach dem unversehrten Körper“, FR-Magazin vom 6. Februar
Im FR Magazin vom 6. Februar 2021, dem Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung, wurde von dem Autor Philipp Hedemann am Beispiel einer jungen Somalierin eindrucksvoll geschildert, wie noch immer jährlich Hunderttausende Mädchen von diesem grausamen Verbrechen an ihrem Körper bedroht sind.
Bei den Hilfsorganisationen, Beratungsstellen und UN-Menschenrechtsorganisationen, die sich in Form von “ Schutzbriefen“ gegen die Beschneidung von Frauen engagieren, fehlt ein ganz besonderer Name: Rüdiger Nehberg. Der im vergangenen Jahr gestorbene Menschenrechtler und Abenteurer kämpfte, zusammen mit seiner Frau, jahrelang gegen weibliche Genitalverstümmelungen. In seinen unzähligen Aktivitäten und Kampagnen machte er deutlich, dass diese Praxis mit dem Koran und der Ethik des Islam unvereinbar sei. 2006 initiierte er eine Konferenz hochrangiger islamischer Gelehrter in Kairo, die er schließlich davon überzeugen konnte, dass es sich bei der weiblichen Genitalverstümmelung um eine archaische Straftat handelt. Sein großer Traum war, im Jahre 2020 in Mekka, dem heiligsten Ort der Muslime, spektakuläre Proteste und Aufklärungsaktionen zu starten. Tragischerweise kam ihm der Tod zuvor.
Der von ihm gegründete Verein „Target“ – der für sein Lebenswerk und sein Lebensthema steht – wird von seiner Frau und ihren Kindern weiter geführt. Neue Projekte sind bereits geplant.
Christa Rosenberger, Sulzbach
Forum vom 12. Februar
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Übrigens: Pandemie!
Verteidigungsausgaben: „Die Zahl sagt nichts“, FR-Politik vom 9. Februar
Mit diesem Leserinnenbrief möchte ich gerne der Überschrift des Artikels auf Seite 8 zustimmen: Eine Zahl sagt nie etwas über das menschliche Leid, das zugefügt worden ist. Aber dann wurde ich bereits beim Untertitel stutzig: „Deutschland will dieses Jahr 53 Milliarden für Verteidigung ausgeben…“. Ja, gerne würde ich mich selber hier mit „Deutschland“ miteinbezogen fühlen, wenn es – wir leben übrigens in einer Pandemie-Zeit – dann weiterginge mit „für Verteidigung des Menschenrechts auf Gesundheit weltweit“ oder „für Verteidigung des Rechts der Schöpfung aufs Bewahrtwerden durch die Menschheit“ oder „für Verteidigung der Aufgaben der UNO“. Aber wieder einmal scheint es um die Ausstattung der hiesigen Bundeswehr zu gehen, schon ahne ich die Fürsprecher der Rüstungsindustrien mit den „Angeboten“ für neue Kampfbomber, für Drohnen-Bewaffnungen in den Startlöchern. Seit Jahren verdienen die Rüstungs-Firmen an den Aufrüstungen, leiden Millionen Menschen unter Kriegsbeschuss. Könnten Sie da doch bitte die „Verteidigung durch Militär“ als nur eine einzige Option etwas kritischer darstellen? Muss es – bis in Ewigkeit – so weitergehen wie schon während es Dreißigjährigen Kriegs, als aus einem Städtchen zu dessen schwungvollem Aufschwung an beide Kriegs-Seiten schwere Waffen geliefert wurden? Oder aber sind wir heute nicht doch klüger und können uns kreativ mit dem Konzept „Sicherheit neu denken“ befassen und die Milliarden, die offensichtlich locker im Lockdown zur Verfügung stehen, in die „Verteidung durch zivile Konflikt-Bearbeitung“ stecken? Wäre das denkbar? Sogar in einer sich als offene Zeitung verstehenden Frankfurter Rundschau – bitte schauen Sie in die Runde, Sie werden unendlich viele Unterstützer:innen des Konzepts „Sicherheit neu denken“ finden können!
Gisa Luu, Frankfurt
Schadlos fürs Netz
Langhaarige Soldate: „Analoge Netzdebatte“, FR-Panorama vom 8. Februar
Die Bundeswehr war nicht die einzige langhaarige Nato-Streitmacht. Auch die Niederländer trugen entsprechende Haartrachten. Wenn ich mich richtig erinnere ohne Haarnetz.
Bei meiner damaligen Einheit in Munster/Örtze wurden verschiedene Haarnetztypen auf ihre Tauglichkeit getestet. Am geeignetsten erschien uns das Haarnetz, in dem man zehn Flaschen Bier transportieren konnte, ohne Schäden am Netz zu verursachen.
Günter Heuer, Ratekau
Mit einem gewissen Rückhalt aus der Partei
Friedrich Ebert: „Nun wollen sie mich auch moralisch morden“, FR-Feuilleton vom 4. Februar
Der Beitrag zu Friedrich Ebert ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens enthält er eine sehr positive Würdigung Eberts, die ich unterstütze. Zweitens ist das Bild von Ebert als „zwischen allen Stühlen sitzend“ nicht so gelungen, weil er bei der SPD schon noch mit auf dem Stuhl saß. Zwar gab es heftige Konflikte mit der eigenen Partei. Selbst der „Vorwärts“ gebrauchte den Begriff der „Entfremdung“. Dennoch hatte Ebert immer noch zahlreiche Anhänger in den eigenen Reihen, die vor allem in dem 1924 gegründeten „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ anzusiedeln sind. Diese überparteilich angelegte Organisation war eine Reaktion auf Attentate und Putschversuche gegen die Republik. Das Reichsbanner bestand ganz überwiegend aus Sozialdemokraten, die durch das Magdeburger Urteil (Ebert als „Landesverräter“) alarmiert waren. In einem Telegramm vom 26.1.1925 schreibt das Flensburger Reichsbanner einen „Gruß und Dank in schwerer Zeit“ an den Reichspräsidenten. Ähnliche Bekundungen gingen aus ganz Deutschland bei Ebert ein, er hat also noch zu Lebzeiten einen gewissen Rückhalt aus der eigenen Partei erhalten.
Drittens ist es falsch, dass Ebert nach seinem Tod auf „so wenig Interesse“ gestoßen sei. Im Gegenteil, es entstand in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung geradezu ein Ebert-Kult, der sich zum Teil unter Beteiligung mehrerer tausend Menschen in der Errichtung von Denkmälern, Benennung von Straßen, Plätzen, Parks und Schulen oder Fertigung von Ebert-Bildern äußerte. Treibende Kraft war häufig das Reichsbanner, das mit dem Aufkommen der NS-Bewegung als Saal- und Demonstrationsschutz noch an Bedeutung gewann.
Nach der „Machtergreifung“ richtete sich der Hass der NS-Bewegung sehr bald auch gegen alle Ebert-Symbole. In Flensburg wurden Arbeiter festgenommen, deren Wohnzimmer ein Ebert-Bild zierte. Noch heute hängt im Flensburger Parteibüro ein Ebert-Relief, das Hausdurchsuchungen und Verfolgungen der NS-Zeit irgendwie überstanden hat.
Jens Christian Jacobsen, Frankfurt
Forum vom 13. Februar
Seite eins
Seite zwei
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Besten Dank, Ihr Damen und Herren, die Ihr entscheidet!
Zu: „Von der Leyen im Dauer-Krisenmodus“ und „Hätte sie früher geredet“, FR-Politik vom 1. Februar und FR-Meinung vom 11. Februar
Die vergötterten Marktkräfte
Einen 750-Milliarden-Euro-Rettungsfonds für die EU auflegen und ausgerechnet bei der Beschaffung des einzigen erfolgversprechenden Rettungsmittels Impfstoff zu knapsen, wie laienhaft ist das denn? Ein weiterer blamabler Tiefpunkt in der EU-Regentinnenschaft von der Leyens und zugleich ein drastischer Beleg, was passiert, wenn ein Gemeinwesen die Regelung lebensnotwendiger Grundlagen den von den Neoliberalen vergötterten Marktkräften überlässt!
Joachim Bohndorf, Bensheim
Und dann rühren 16 Länder das Süppchen noch mal um
Wir Musterknaben singen, wie immer, voller Pathos das Hohelied Europas. Obwohl – der Chor wird leiser. Denn noch immer sitzen wir fast auf dem Trockenen, was den Impfstoff angeht.
Einer dieser Impfstoffe wurde in unserem Land entwickelt. Eine großartige Leistung. Erst am kürzlich betonte der Wirtschaftsminister das wieder bei Anne Will. Wir Steuerzahler sind mit 375 Millionen dort eingestiegen. Hat aber nicht viel genutzt, wie wir heute wissen. Mehr Impfdosen bekommen wir trotzdem nicht. Warum? Wir mussten ja unbedingt das EU-Bürokratiemonster mit dem Einkauf beauftragen.
Dessen Chefin Ursula von der Leyen hat sich doch in ihrem Vorgängerjobs in Einkaufsfragen (Gorch Fock etc.) auch nicht mit Ruhm bekleckert. Warum sollte sie jetzt erfolgreicher sein? Ist sie ja auch nicht. Wo man hätte klotzen müssen, wurde gekleckert. Krämerseelen waren am Werk. Es zählte nicht das Wohl der Menschen, sondern viel wichtiger war das Wohl der EU-Kasse. Das wissen wir jetzt. Und ob denn Liefertermine verbindlich vereinbart wurden – da sehe ich schwarz. Wortwörtlich. Wir hätten es wissen können. Viele Köche verderben den Brei. Und nicht nur in der EU. 16 Bundesländer rührten das Süppchen dann noch einmal um. Besser ist es dadurch nicht geworden. Und wir müssen dieses von EU und Föderalismus versalzene Süppchen auslöffeln. Besten Dank, die Damen und Herren Entscheider!
Bertram Münzer, Gütersloh
Die wahre Bedeutung Europas für Merkel
Man darf sich nicht wundern, wenn man jahrelang politische Versager nach Brüssel schickt, dass diese auch dort versagen. Die Quittung für dieses Verhalten bekommt Deutschland als Impfstoffdebakel zu spüren. Frau von der Leyen nach ihrem Bundeswehrdesaster nach Brüssel zu entsorgen, um dort auf europäischer Ebene zu versagen, zeigt die wahre Bedeutung Europas im Kalkül von Frau Merkel!
Matthias Schmidt, Köln
Anderer Blick auf Geflohene
Tareq Alaows: „Es geht um Partizipation und einen neuen Blick im Parlament“, FR-Politik vom 4. Februar
Als Leser bedrücken mich seit einigen Wochen die vielen negativen Nachrichten unserer Medien. Aber das Interview von D. Vates mit Tareq Alaows aus Syrien hat mich erfreut , ja beglückt. Dieser Mensch aus Aleppo lebt seit 5 Jahren in Deutschland. Er erzählt nicht von den Strapazen der Flucht, klagt nicht an. Das ist nicht sein Thema, sondern er will in diesem Land sich einsetzen, dass jene, die hier über die Migrationspolitik entscheiden, einen anderen Blick für geflohene Menschen aus anderen Kulturen und Ländern bekommen. Wer von uns kann schon ahnen, was Flucht bedeutet? Deswegen will T. Alaows für den Bundestag kandidieren. Das Wort >Partizipation< hat für ihn einen besonderen Einige politische Aktionen hat er schon durchgeführt. Stichworte seines Engagements: „Refugees Strike Bochum“ , „Präventions- und Krisenmanagement in Berlin“, Koordinationskreis der Bewegung Seebrücke“. Die Farbe der politischen Parteien ist T. Alaows relativ egal, allein wichtig sind ihm die Themen: Menschenrechte, Bewahrung der Schöpfung und das Schicksal der Geflüchteten. Ich habe mir erlaubt, das o. g. Interview für Menschen aus Syrien zu kopieren . Meine syrischen Freunde:Innen und Nachbarn sagten: T. Alaows strahlt Zuversicht aus, ermutigt uns, dass wir uns hier weiterhin ebenso einsetzen für andere.
Franz Boegershausen, Oldenburg
Der Angriff geht alle an
Nach den Morden von Hanau: „Bilanz ist ernüchternd“, FR-Regional vom 3.2.
Der Aussage von Frau Pärssinen zum Opferfond für Gewaltopfer „Ein rassistischer Angriff soll immer eine ganze Gruppe von Menschen treffen“ ist aus meiner Sicht zu widersprechen. Solche Gewalttaten treffen nicht irgendwelche Gruppen, sondern alle Menschen hier in Deutschland. Es kann ja wohl nicht sein, dass von Mordanschlägen gegen Juden nur jüdische Bürger betroffen sind und von Morden an Ausländern oder solchen, welche dafür gehalten werden, nur diese Gruppe. Dann könnte man auch gleich unterstellen, der Mord an Herrn Lübcke ginge nur alle Regierungspräsidenten was an.
Ganz klar – solche Taten treffen uns alle, nicht nur als Menschen persönlich, sondern auch unseren Staat und unser Zusammenleben. Und das dürfen wir alle uns nicht gefallen lassen.
Ich gebe nicht gerne mit Latein an (das ich nie gelernt habe), aber hier ist Ovid mal gefragt: „Wehre den Anfängen! Zu spät wird die Medizin bereitet, wenn die Übel durch langes Zögern erstarkt sind.“
Leider sind wir über die Neuanfänge nach 1933 auch schon wieder hinaus, um so wichtiger ist es, dass alle Anständigen zusammenhalten.
@ Michael Lübbers
Ich bin so traurig und wütend über Frontex, die EU, Deutschland und Libyen wegen ihrer Missachtung der Menschenrechte auf Leben und Würde und wegen der Gefühl- und Gewissenlosigkeit, die sich in all dem Geschachere bzgl. der Rettung von Flüchtlingen durch vorbildliche private Hilfsorganisationen offenbart.
Ich versuche Menschen zu verstehen, die hierzulande mit eigenen Existenzängsten zu kämpfen haben und daher offenbar nicht auch noch Verständnis für die Existenzängste von Menschen aus dem Ausland aufbringen können. Aber es gelingt mir nicht: Müssten nicht gerade sie derartige Ängste als Fluchtursache verstehen und anerkennen, mit den Flüchtlingen sympathisieren, ihre mutigen Schritte bewundern und die glückliche Rettung der Wenigen begrüßen können? Alle Menschen aber, die von derartigen Existenzängsten nicht betroffen sind, bitte ich, Hilfsorganisationen wie SOS Méditerranée mit großzügigen Spenden zu unterstützen.
Leserbrief zum Gespräch mit Frau Knobloch und Frau Weisband, FR vom 27.01.2021, S. 2-3:
Frau Weisband betont in dem Gespräch, dass viele Deutsche nicht verstanden hätten, dass Menschen jüdischen Glaubens nicht nur eine Religionsgemeinschaft seien, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft und eine „Volksgemeinschaft“. Sie benutzt ausdrücklich diesen rechts-ideologisch, rassistisch und antisemitisch aufgeladenen Begriff „Volksgemeinschaft“, der untrennbar mit dem Nationalsozialismus verbunden ist (ähnlich dem von AfD und FPÖ wieder genutzten Begriff der „Umvolkung“). Zugleich bezeichnet sie sich als Gegnerin des Antisemitismus und der jüdischen Gemeinschaft zughörig. Als Gegnerin des Antisemitismus nutzt sie antisemitisches Vokabular. Wie passt das zusammen? Warum stilisiert Frau Weisband die jüdische Religionsgemeinschaft zum „Volk“? Was bezweckt sie damit? Irritierend, dass weder Frau Knobloch noch Herr Sternberg darauf eingehen. Unwillkürlich fühle ich mich an die rechten Querdenker erinnert, die Anne Frank vereinnahmen. Da wird aktuell vorsätzlich viel durcheinander gebracht. Aber antisemitisches Zündeln am Holocaust-Gedenktag in der FR, das ist nicht zu tolerieren.
@Elena Ezeani
„Ich versuche Menschen zu verstehen, die hierzulande mit eigenen Existenzängsten zu kämpfen haben und daher offenbar nicht auch noch Verständnis für die Existenzängste von Menschen aus dem Ausland aufbringen können.“
Ist mir auch ein Rätsel. Es gibt ja diesen Spruch: „Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall.“ Mit anderen Worten: Alle Menschen sind gleich wichtig. Die Menschenrechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sind für alle Menschen gleich wichtig. Warum machen einige diesen Unterschied zwischen „Inländern“ und „Ausländern“?
Ich arbeite mit völlig unterschiedlichen Menschen zusammen. Ich merke keinen Unterschied, ob jemand Ur-Ostfriese ist (wie ich) oder aus Syrien oder von der Elfenbeinküste kommt. Manche Menschen sind sympathisch, manche unsympathisch, da spielt aber das Herkunftsland oder die Hautfarbe keine Rolle. Was aber mit den Menschen, die das anders empfinden? Da muß der Verstand über das Gefühl siegen. Und der Kontakt mit den „Fremden“ hilft, Vorurteile abzubauen.
…“Müssten nicht gerade sie derartige Ängste als Fluchtursache verstehen und anerkennen, mit den Flüchtlingen sympathisieren,…“
Interessanterweise sind ja vor allem in Europa und in Amerika viele Menschen Nachfahren von Geflüchteten oder Auswandern. Da wirkt es besonders absurd, wenn man gegen „Ausländer“ wettert.
Menschen ertrinken im Mittelmeer. Schiffbrüchige rettet man bewußt nicht. Welch eine Kulturschande!
Noch ein Punkt ist mir wichtig:
Wenn ein Mensch in Not gerät, spielt es keine Rolle, warum er in Not gerät, ob er sich selbst in die Bredouille gebracht hat oder nichts dafür kann. Sondern man muß die Not beseitigen, wenn man es kann. Man läßt niemanden ertrinken, weil er zu früh auf`s Eis geht. Man verweigert keinem Lungenkrebspatienten die Therapie, weil er geraucht hat. Man läßt verunglückte Motorradfahrer nicht links liegen, auch wenn Motorradfahren eine besonders gefährliche Art der Fortbewegung ist.
Menschen, die sich und vielleicht ihre Familie in Lebensgefahr bringen, indem sie auf völlig unzureichenden Schlaubooten über das Meer fliehen und praktisch von Beginn an schiffbrüchig sind, müssen oft deshalb aus ihrer Heimat fliehen, weil Menschen in anderen Ländern aus Profitgier Waffen verkaufen und aus Profitgier Treibhausgase emittieren und aus Profitgier Kleidung zu Sklavenlöhnen nähen lassen. Die sich aus Profitgier mit Diktatoren gütlich stellen. Zum Beispiel Menschen, die in Deutschland wohnen. Niemand bringt sich und seine Kinder freiwillig in Lebensgefahr, nur aus Spaß am Risiko. Sondern weil die Lebensumstände „zu Hause“ unerträglich sind.
Wir sind Schuld, daß Menschen woanders fliehen müssen. Manche mehr, manche weniger.
So sehr ich Herrn Sternburg schätze, sein Artikel über Friedrich Ebert färbt schön. Immerhin räumt er ein, dass Ebert die Perfidie und Brutalität der Feinde der Demokratie falsch eingeschätzt habe. Welch größeres Versagen aber konnte es in seiner Position geben? Sein krasser Fehler war, die Gegner in der eigenen Bewegung zu überschätzen, die Feinde aber, von denen er sich einwickeln ließ, nicht zu erkennen. Die Strafe war nicht nur der eigene Tod, sondern 8 Jahre später der Untergang der in ihrer Wehrlosigkeit von Beginn an vergifteten Republik mit allen Konsequenzen des Faschismus. Gerade Eberts Illusion, an der Monarchie festhalten zu wollen, hinderte ihn daran, die Strukturen umzuwerfen, die der Republik später den Garaus machen sollten.
Sternburg zitiert nur die Geringschätzung, die Haffner Ebert entgegen brachte, nicht aber seine Analyse der Fehler Eberts, die sie begründet:
Ludendorff, dem Militärdiktator am Ende des Weltkrieges und späteren Putschisten, hätte ein Hochverratsprozess gemacht werden müssen, statt ihn frei herumlaufen zu lassen.
Erforderlich wäre gewesen, die oberste Heeresleitung und alle Truppen, die ihr ergeben waren, ihres Amtes zu entheben und sie zu entwaffnen, statt heimlich mit ihr zu paktieren.
Alle entscheidenden Gerichte hätten suspendiert und neu besetzt werden müssen.
Das wäre noch lange keine soziale Revolution gewesen, aber man stelle sich vor, am Ende der DDR wären die Generalität der NVA, wären sämtliche Richter im Amt, dazu der Staatssicherheitsdienst und der ideologische Apparat an den Universitäten unbehelligt geblieben.
Die Macht, die Ebert für kurze Zeit zufiel, war einerseits durch die Niederlage im Krieg, andererseits sehr wohl revolutionär begründet. Sie beruhte auf der faktischen Machtübernahme durch die Arbeiter- und Soldatenräte an zahlreichen Orten des Reiches. Sie waren nirgends von wilden Revoluzzern, sondern durchweg von großen sozialdemokratischen Mehrheiten dominiert und sofort damit befasst, die drohende Hungersnot abzuwenden, die angeblich nur innerhalb der alten Strukturen bewältigt werden konnte.
Ebert war kein analytischer Denker, aber, wie Sternburg richtig anmerkt, ein erfahrener, fähiger Parteistratege. Wie man einen Parteitag gut führt, eventuell aber auch manipuliert, habe ich in 50 Jahren Mitgliedschaft in der gleichen Partei oft genug erlebt. Das konnte Ebert perfekt. Er schaffte es, dass sich der zentrale Kongress der deutschen Räte, fast alles „Genossen“, die ihm vertrauten, unter seiner Leitung selbst entmachtete. Er merkte nicht, dass er sich damit die eigene Machtbasis entzog, die sah er ja beim Militär und den Freicorps.
Haffner hat angemerkt, dass die Räte eine parlamentarischen Demokratie keineswegs ausschlossen. Fest institutionalisiert hätten sie eine zweite Kammer bilden können. Bis zu einer parlamentarischen Konstituante aber, später als die von Ebert eilig durchgesetzte Nationalversammlung, in der die SPD dann keine Mehrheit hatte, hätten mit ihnen die Strukturen durchgesetzt werden können, die für die Stabilität der Republik zwingend erforderlich waren. Zu dieser Stabilität hätte die Einbindung der Spartakisten gehört. Deren Tragödie liegt darin, dass sie Eberts Fehler sehenden Auges erkannten, ihn aber in für sie tödlicher Machtlosigkeit nicht aufhalten konnten.