Ende Mai hatte ich einen Mailwechsel mit einem Leser, der eine Eigenart der FR, wie er es empfand, scharf kritisierte: Statt die Eigenverantwortlichkeit afrikanischer Länder für sich selbst zu sehen, würde diese Zeitung praktisch jede Fehlentwicklung mit der kolonialen Vergangenheit erklären und uns Deutsche – und andere Kolonialmächten – damit verantwortlich machen für diese Fehlentwicklungen. Nun ist es zweifellos richtig, dass es – nicht nur – in Afrika vielfach Strukturen gibt, über die Einheimische Einheimische ausbeuten. Siehe der Santos-Clan in Namibia. Korruption ist an der Tagesordnung in vielen afrikanischen Ländern. Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Zivilgesellschaft – der afrikanische Kontinent hinkt der westlichen Welt zum großen Teil weit hinterher. Und diese offensichtlichen Fehlentwicklungen, so habe ich den Leser gefragt, sollen ihre Gründe nicht in der Geschichte haben? Also nicht im Kolonialismus? Worin sonst? In einer womöglich sogar genetisch bedingten Anfälligkeit des Afrikaners für Korruption?
Es ist gut, dass jetzt endlich über den deutschen Kolonialismus geredet wird. Die FR hat neulich darüber berichtet, wie in Frankreich mit der kolonialen Vergangenheit umgegangen wird. Kürzlich hat der belgische König Philippe die Verbrechen Belgiens im Kongo in einem Brief an den kongolesischen Präsidenten bedauert. Deutschland tut sich da wesentlich schwerer, etwa was den Völkermord an den Herero und Narma angeht. Es gab da in den vergangenen Jahren zwar ein paar Schrittchen, die Richtung Aufarbeitung gehen. So wurden Gebeine und Schädel zurückgegeben, und ein Beamter des Bundespräsidialamts nahm ein Schreiben einer Herero-Abgesandtschaft entgegen, in dem unter anderem eine öffentliche Entschuldigung für den Völkermord und damit dessen Anerkennung gefordert wird, aber bisher blieben diese Ansinnen folgenlos. Im Gegenteil: Die AfD versucht, die Rolle der deutschen Kolonialherren in Afrika mit allen Mitteln ins Positive zu wenden.
Es ist also überfällig, dass die Aufarbeitung dieser Vergangenheit endlich in Angriff genommen wird. Das kollektive Vergessen muss enden. „Können Nationen, die Menschenschlächter feiern, ernsthaft antirassistisch sein?“, fragt FR-Autorin Miriam Keilbach in ihrem Artikel. Diese Debatte wirft auch Fragen danach auf, ob wir gewisse Denkmäler weiterhin in unseren Städten haben wollen. Und wie ist es mit den Straßennamen? In Frankfurt gibt es derzeit eine Debatte über die Miquelallee. Johannes von Miquel war von 1880 bis 1890 Oberbürgermeister Frankfurts. Ein prägender Politiker, der allerdings auch Mitgründer des „Deutschen Kolonialvereins“. Von heute aus betrachtet wirft das ein schräges Licht auf sein politisches Vermächtnis. Miquels Verdienste stehen außer Zweifel. Soll die Straße dennoch umbenannt werden?
Dass wir diese Debatte jetzt verstärkt führen, ist eine Folge der Entwicklung in den USA, wo nach dem gewaltsamen Tod von Georg Floyd Denkmäler gestürzt wurden. Aber die Debatte selbst gibt es schon länger. Ich erinnere an die Diskussion über die Mohren-Apotheken, die wir auch hier im FR-Blog geführt hatten. Die Initiative „Frankfurt postkolonial“ spürt seit 2011 Orte mit kolonialer Vergangenheit in Frankfurt auf.
Als ob Sklaverei etwas von gestern wäre
Seit einiger Zeit wird die Kuh „Kolonialismus“ durch unser Dorf getrieben. Sklaverei wird wieder diskutiert. Als wenn das alles vorbei wäre.
Wie wäre es, wenn sich die Damen und Herren besser mit den Arbeitssklaven des Herrn Tönnies und seiner Gesinnungsgenossen beschäftigen würden? Oder mal die Label ihrer Klamotten betrachten, ob sie nicht auch eine Arbeitssklavin in Bangladesh oder China beschäftigt haben. Oder mal überlegen, wo heute überall Kinderarbeit drinsteckt, im Straßenpflaster, in Haselnüssen, in ihren Latte Macchiatos? Oder wie viel Sklavenarbeit in ihren Handys steckt, Sklaven in Afrika, die nach Seltenen Erden buddeln? Globalisierung ist ohne Sklaven nicht profitabel und das Internet auch nicht. Wie wäre es, sich mal mit den Opfern des Kapitalismus zu beschäftigen ?
Ich heiße „Mohr“ mann, was soll ich nun tun? Das „M“ streichen, wie bei einer Apotheke. Als wenn wir nicht dringendere Probleme hätten, Ablenkung von denen brauchen wir weiß Gott nicht.
Konrad Mohrmann, Frankfurt
Ein anderer Umgang mit Geschichte
Weshalb setzen sie so auf m.E. Halbwahrheit, wenn sie unter das Foto mit dem Straßenschild „Miquelallee“ den Text setzen „Die Miquelallee ist nach dem Kolonialvereinsgründer benannt“?
Miquel war eines der Gründungsmitglieder dieses Vereins, unbestritten. Im Laufe seines Lebens hat er auch einen Gesinnungswandel vollzogen, vom einstigen Mitglied des illegalen Bundes der Kommunisten zu später mehr rechten politischen Ansichten.
Warum das Alleenteilstück nach ihm benannt wurde, ist aber doch wohl eher durch sein Wirken für die Stadt – seiner Zeit als Frankfurter Oberbürgermeister – begründet, siehe Wikipedia: „Zu seinen größten Leistungen zählt die Reform der Armenfürsorge, die bis dahin aus privaten (teils noch aus dem Mittelalter stammenden) Einrichtungen und einem völlig unzulänglichen, unter Polizeigesichtspunkten organisierten kommunalen Armenwesen bestand. In seine Amtszeit fielen eine Reihe von wichtigen öffentlichen Bauten, z. B. der Bau der Kläranlage Niederrad (1882), die Kanalisierung des Mains und der Neubau des Westhafens (1886) sowie des Hauptbahnhofs (1888). … 1889 gehörte er zu den Gründern der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen, einer von Frankfurter Bürgern gestifteten Einrichtung zur Förderung des Sozialen Wohnungsbaus“
Wenn man die Menschen zur Reflexion anregen will, wie es in dem Artikel heißt, dann braucht es wohl einen anderen Umgang mit der Geschichte, als nur eine Beurteilung aus allein heutiger Sicht.
Hubert Pfeifer, Frankfurt
Die Kolonialzeit ist keineswegs vorbei
Nachdem die Sache mit dem Ziegelneger im Städel wohl erstmal aufgeschoben und die Mohren-Apotheke schon vor längerer Zeit erledigt wurde., sind jetzt der Herr Miquel und der Struwwelpeter dran. Die Miquelallee wurde allerdings nicht nach dem Kolonialvereinsgründer benannt, sondern nach einem der bedeutendsten Frankfurter Oberbürgermeister, dessen Verdienste um diese Stadt nicht bestritten werden können. Ebenso falsch bzw. irreführend sind die Bildunterschrift zum Struwwelpeter und die Bemerkung des Redakteurs „Schwarzsein als Bestrafung. Eine inakzeptable Botschaft“. Niklas hat die Buben eben nicht in Tinte getaucht als Bestrafung, sondern zur Belehrung: Sie sollten als schwarze Jungen empfinden, wie weh es tut, wenn man wegen Andersseins oder Andersaussehens gehänselt wird. Unser Heinrich Hoffmann war als Psychiater mit ganz so doof, wie Sie meinen, Herr Leclerc.
Noch ein Wort zu den Zielen des Kolonialvereins: er sollte helfen, „gute Absatzgebiete“ in den Kolonien zu gewinnen. Diese Aufgabe hat heute das Entwicklungsministerium übernommen, zwar nicht mehr in den Kolonien, dafür in den Entwicklungsländern. Wie anders ist es zu verstehen, wenn diesen Ländern Handelsverträge aufgedrückt werden mit dem Ziel, ihre Märkte zur Aufnahme unserer landwirtschaftlichen Überproduktion und ihre Meere für die großen europäischen Fischfangflotten zu öffnen? Die Kolonialzeit ist eben nicht vorbei, wie in dem FR-Artikel gesagt wird.
Dietrich Buroh, Frankfurt
Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit sind völlig verschiedene Konzepte
So gut und richtig der Artikel zu einem besser aufgeklärten Bewusstsein über unsere Kolonialgeschichte aufruft, so seltsam (und völlig überflüssig) ist der arg rasant und wohlfeil geratene Ausfall gegen „die Entwicklungshilfe“ (im drittletzten Absatz), in der „sich koloniale Spuren zeigen“, weil sie, so meint die Autorin, „aus der Kolonialbewegung entstanden“ sei. Leider zeigt hier die Autorin unfreiwillig außer ihrer Unkenntnis (oder wegen einer singulären Erfahrung mit einer NRO?) etwas, was sie gerade argumentativ bekämpfen will, nämlich Vorurteilen und abwertenden Parolen zu begegnen. Zunächst ist festzustellen, dass „Entwicklungshilfe“ ein gedankenlos verwendetes allgemeinsprachliches Wort ist für etwas, was nicht ohne Grund offiziell als „Entwicklungszusammenarbeit“ bezeichnet wird und was nicht nur sprachliche Kosmetik ist, sondern ein völlig anderes Konzept signalisieren will. Seit über 40 Jahren haben gerade diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten, den klaren Auftrag und bekommen entsprechende Schulungen, um gerade nicht als besserwisserische und herablassende „Helfer“ zu agieren, um die Dummies in Afrika und anderswo zu belehren und umzuerziehen – also das genaue Gegenteil von dem, was die Autorin pauschal behauptet. Das war in der Tat von der Frühzeit der Kolonialisierung bis ins frühe 20. Jahrhundert die Auffassung etlicher Missionare, die in der üblichen kolonialistisch anmaßenden Weise meinten, „Heiden“ zum „Heil“ bekehren zu müssen, um sie zu „besseren“ Menschen zu machen.
Bei Projekten der heutigen internationalen (früher: technischen) Entwicklungszusammenarbeit geht es vielmehr darum, Außensicht und externe Expertise mit der Innensicht und gewohnten Vorgehensweisen zusammenzubringen, um gemeinsam schneller zu innovativen Problemlösungen zu kommen und um Risiken des Ausprobierens von etwas Neuem zu verringern. Das entspricht ungefähr der gängigen Praxis von Unternehmensberatern, die nicht a priori zu verurteilen ist, weil sie vermeintlich nicht auf gleicher Augenhöhe stattfände.
Was allerdings tatsächlich fehlt, wäre die umgekehrte Veranstaltung bei uns in Deutschland, nämlich dass auswärtige Experten als Berater ihre Sicht in unsere Verwaltungen, Schulen und kulturellen Einrichtungen einbringen. Immerhin gelingt es ja schon mal einigen Kabarettisten, das zu tun – und das rassistische Geschrei, dass sie damit neuerdings auslösen, zeigt, dass Miriam Keilbach im Wesentlichen doch Recht hat. Wir haben tatsächlich noch einen langen Weg vor uns, um uns zu erkennen und andere Lebensweisen anzuerkennen (auch und gerade, wenn man sie nicht mag).
Ernst Reichenbach, Frankfurt
Der Krieg gilt den Hütten
Kolonialgeschichte: „Kollektives Vergessen“, FR-Tagesthema vom 23. Juli
Sehr schön, wenn weiße deutsche Frauen den schwarzen afrikanischen Frauen und Männern aufschreiben, was sie wie wo und seit wann zu fühlen haben. Auch die Aussagen von schwarzen Deutschen sind da ganz wichtig. Was afrikanische Afrikaner denken, hat noch nie jemand interessiert, denn die stehen den Geldjägern einfach nur im Weg. Deshalb geht alles am Problem vorbei. Mit Rassismus wird lediglich der Kaptalismus verschleiert. Was gilt schon ein Menschenleben, wenn verdient werden kann. Das gilt natürlich auch für die Weißen selbst und es war das Pech der Afrikaner, daß die unterdrückte und beschissene weiße Meute andere zum unterdrücken und bescheißen gefunden hat, als sie von ihren Junkern und Rittmeistern auf die verschiedenen Kontinente gehetzt wurde. Jetzt soll aus Steuermitteln Wiedergutmachung gezahlt werden. Ich kann sagen, meine Vorfahren haben niemals kolonialisiert und unterdrückt, die sind selber immer nur herumgeschubst und von den jeweiligen Machthabern nach Gutdünken verkauft oder ausgepresst worden. Das soll wirklich mit dem Geld der Werktätigen geleistet werden? Wer entschädigt denn die Herdigerdis? Wenn hier Geld gesucht wird: nehmt endlich die Vermögen der Adeligen und Industriebosse bis zum letzten Cent und Quadratmeter, denn die haben seit Jahrhunderten ohne geringste Gewissensbisse das ganze Blutgeld. Weil aber die Kapitalisten den Rassismus erfunden haben, bleiben wie immer die Paläste verschont – der Krieg gilt den Hütten, und zwar überall!
Ja, ich habe eine Sklavin in Bangladesh, eine zweite in Peru (Avocados), ein paar in Mittel- und Südamerika (Bananen und Blumen). Für den Rest, begnüge ich mich mit Gastarbeitern aus Osteuropa in Spanien …
Vielen, vielen Dank für diesen Leserbrief. Genau den wollte ich schreiben, weil es mich so wütend macht, diese Scheinheiligkeit mit der Vergangenheit. Sie schreiben aber viel trefflicher als ich: einen riesigen Dank. Merci dafür!
Die me-too-Debatte, die Hongkong-Proteste und die Anti-Rassismus-Demonstrationen sind der erfreuliche Ausdruck einer zunehmenden weltweiten Demokratisierung. Es ist ein Gewinn für uns alle, wenn im Zuge von „black lives matter“ ehemalige Sklavenhalter und deren politische Unterstützer nun ihren Denkmal-Status verlieren. Vorbilder sind sie nicht.
Eine weitere Debatte drängt sich auf: So wenig Karl Marx und Paul von Hindenburg vergleichbar sind, eine Gemeinsamkeit haben beide. Sie waren keine Demokraten und bereiteten Diktaturen den Weg. 52 Straßen, Dämme und Plätze sind in Deutschland nach Karl Marx benannt, 58 nach Paul von Hindenburg. Nach 55 Mio. Toten im Zweiten Weltkrieg und über 100 Mio. Toten infolge des Marxismus-Leninismus zeigt sich auch hier ein Handlungsbedarf. 110 mal ergibt sich dabei die Chance, bei der Umbenennung von Straßen und Plätzen nicht die Wegbereiter von Diktaturen, sondern ihre Opfer in Ehren zu halten und ihrer zu gedenken.