„Wir bekräftigen, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit Hand in Hand angehen wollen“, hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der Unterzeichnung des Aachener Vertrags mit Frankreich gesagt. Die deutsch-französische Freundschaft sei inzwischen tief in den beiden Gesellschaften verwurzelt. „Damit hat die Geschichte eine Wendung genommen, die für uns nicht glücklicher hätte sein können.“
Dies sind Worte, die einen Zustand beschreiben, welcher zwischen Frankreich und Deutschland fast selbstverständlich geworden ist. So selbstverständlich, dass diese Worte fast banal klingen. Doch sie sind es nicht. Gerade in unseren Tagen, in denen Rechtspopulisten überall auf der Welt erstarken und das Nationale in den Vordergrund stellen, in denen es überall Echos auf Donald Trumps „America first“ gibt, ist es wichtig und richtig, darauf hinzuweisen, dass der Frieden zwischen Frankreich und Deutschland alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Und es ist wichtig und richtig, ein Signal zu senden, das den Fliehkräften, die an der Europäischen Union zerren, etwas entgegengesetzt wird. Nicht nationale Egoismen weisen den richtigen Weg in die Zukunft, sondern die Formulierung gemeinsamer Ziele der Staaten.
Mit dem Aachener Vertrag ist das Gravitationszentrum der EU gestärkt. Er gibt die Antwort auf den Brexit. Er formuliert Ziele wie die vertiefende Verflechtung der Volkswirtschaften beider Länder. PSA und Opel machen es vor, bei Siemens und Alstom hapert es. Das ist gut so. Wer miteinander Handel treibt, geht dem anderen nicht an die Gurgel. Auch die Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit und das Versprechen des Beistands im Angriffsfall sind nur zu begrüßen, auch wenn es natürlich Stimmen gibt, die darin einen aggressiven Akt gegen Russland sehen. Doch die Ziele dieses Vertrags sind defensiv, er zielt auf Verteidigung, nicht auf Aggression. Der Fokus ist dabei viel mehr auf die USA gerichtet als auf Russland, denn die USA haben sich als unzuverlässiger Partner in den internationalen Beziehungen erwiesen. Dies ist die Botschaft des Vertrags an die Adresse Donald Trumps: Wenn Deutschland und Frankreich nicht mehr sicher sein können, dass die USA zum gemeinsamen Verteidigungsbündnis stehen, dann versichern wir uns unserer selbst. Der Vertrag ist ein selbstbewusstes Signal, auch an die EU: Gemeinsam erreichen wir mehr. Das ist genau die richtige Ansage an eine EU, die sich in einer Sinnkrise befindet.
Der Vorgängervertrag, den Konrad Adenauer und Charles de Gaulle genau 56 Jahre zuvor im Élysée-Palast unterzeichneten, hat für dauerhaften Frieden in Europa gesorgt. Es wäre wirklich zu wünschen, dass der Anschlussvertrag mindestens die gleiche Wirkung erzielt.
Leserbriefe
Freundschafts
vertrag
das heutige Spektakel von Aachen markiert leider einmal mehr eine verpasste Chance auf eine, den Bedürfnissen der Menschen entsprechenden Neuausrichtung von Europa. Von Anfang an stand die Wirtschaft im Fokus bei den wichtigen Entscheidungen der EU (vormals EWG). So konnte z. B. der ERT (European Roundtable of Industrialists), ein Elitennetzwerk der großen transnationalen Konzerne mit Wechselbeziehungen zur Europäischen Kommission und seit 1995 offizielles Beratergremium der EU für sich verbuchen, dass von ihm ab Anfang der 80er Jahre formulierte Positionen wie „die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts“ (1983), die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit (durch Steuerreduzierung), Handesliberalisierung und Deregulierung umgesetzt wurden. Werden die ERT-Visionen für 2025 ebenso Wirklichkeit, dürfen wir uns z.B. auf eine Stärkung der Eigenverantwortung zur Reduzierung der Gesundheitskosten „freuen“ oder auf weitere Reformen (im sicher ähnlichen Sinne) in der Altersvorsorge und des Sozialstaats zählen.
Gerade vor dem Hintergrund der neuen Oxfam-Zahlen zur exorbitanten Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen hätte der EU also ein neues, soziales Gesicht gut gestanden. Davon ist aber leider im neuen Vertrag nicht die Rede. Stattdessen wird, neben einer weiteren, konzernfreundlichen Ausgestaltung der Wirtschaftpolitik, nunmehr ein militärisches Standbein als 2. Säule anvisiert. Zu den steigenden, nationalen Rüstungshaushalten sind weitere Milliarden in der EU-Finanzplanung für Rüstungsforschung und Rüstungsprojekte vorgesehen – neben dem Ziel einer europäischen Armee. Welch ein Armutszeugnis für das europäische Selbstverständnis als „Friedensmacht“. Würde man diesen Anspruch ernst nehmen, hätte sich die Chance geboten, die Milliarden in den Aufbau einer Institution zur präventiven Konfliktlösung zu investieren.
Aufbauend auf den Erfahrungen der Entspannungspolitik, den Ideen einer friedlichen Koexistenz, einer gemeinsamen, Vertrauen schaffenden Sicherheits- und Abrüstungspolitik, sind die meisten Konflikte gerade im Entstehungsstadium mit friedlichen Mitteln lösbar. Dass die EU stattdessen neben der NATO auf die militärische Karte setzt, macht in Zukunft einen Krieg wahrscheinlicher. Verlierer sind -wie immer- die Menschen, wenn nicht die Menschheit.
Bernd Bremen, Aachen
Freundschafts
vertrag
Der „Elysee – Vertrag II“ zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron setzt eine wohltuenden Gegenakzent gegen die EU – Flucht Großbritanniens und die Aktivitäten der „nationalen Schreihälse“ überall in Europa, die in ihrer Einfalt das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Er enthält nur einen Schönheitsfehler: die geplante „große Serie“ in der gemeinsamen deutsch – französischen Produktion von Rüstungsgütern für den „Kampf gegen den Terror“. Den Aktionären der Kriegsindustrie läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Stellungnahme des Lesebriefschreibers:
1.) Die Bekämpfung „des Terrors“(welch nebelhafter Begriff!“) beginnt mit der Ausmerzung der Ursachen des Terrors (Hass, Armut, Verfolgung, Unterdrückung).Die Ursachenbekämpfung kann nicht mit Waffen erfolgen, sondern durch Anwendung von Gerechtigkeit bei politischen Entscheidungen gegenüber Menschen, die Gerechtigkeit zu lange entbehrt haben.
2.) Die Bekämpfung des Terrors sollte international als Polizeiaufgabe verstanden werden und nicht als Aufgabe des Militärs. Damit tun die Regierungen „dem Terror“ die Ehre an, ihn auf ihre eigene Augenhöhe zu erheben und verschaffen sich zugleich den Vorwand, ganze Länder zu besetzen, was über den Rahmen der Strafverfolgungsbefugnisse der Polizei hinausgeht.
3.) Ergreifung einer deutsch – französischen Initiative zur Schaffung einer international verbindlichen Definition des Begriffes „Terror“. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Verdichtung und Erhöhung der Verbindlichkeit des internationalen Rechtes. Solange nicht einmal die Regierungen selbst internationales Recht achten – und damit zu „Staatsterroristen“ werden – und solange jeder Diktator und jeder demokratisch gewählte Staatschef unter „Terror“ etwas anderes versteht, ist der Versuch einer erfolgreichen Bekämpfung „für die Katz“.
Der „zweite Anlauf“ Deutschlands und Frankreichs zur Förderung des Zusammenwachsens Europas enthält viele Möglichkeiten – auch zum Zusammenwachsen der Welt! Mögen sie von den Verantwortlichen in kluger Weise ergriffen werden!
Otfried Schrot, Ronnenberg
Freundschafts
vertrag
Wenn jetzt schon wieder geraunt wird, dieser Ergänzungsvertrag sei nicht mutig genug, dann kann man nur sagen : was ist eigentlich außerhalb einer noch engeren, ständigen Konsultation zwischen Paris und Berlin an „Riesenschritten“ überhaupt machbar?? –Die Gesellschaftskörper in Frankreich und auch in Deutschland müssen doch „mitgenommen“ werden.-Wenn Olaf Scholz in Le Monde fordert, daß die Bundesrepublik zu mehr Finanz-Kompromissen im Rahmen der EU und der €-Währungszone bereit sein müsse, ist dies mannhaft. Scholz weiß aber doch , daß das BVerfG in Karlsruhe einer weit ausgreifenden Transfer-Union Schranken setzen wird, wenn diese Transfer-Union denn durchgesetzt werden sollte. Einen Durchbruch gäbe es vielleicht auf dem Gebiet der äußeren Verteidigung. Aber auch dies muß vom Bundestag und auf französischer Seite von der Assemblée Nationale abgesegnet werden.- An einem spezifischen Punkt läßt sich festmachen, wie unterschiedlich dann doch die Interessen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs sind. Im Lippenbekenntnis unterstützt zwar Paris das Bestreben Deutschlands, ein permanentes Mitglied des UN-Sicherheitsrates zu werden. Hinter den Kulissen ist aber klar, daß Frankreich überhaupt nicht bereit ist, seinen permanenten UN-Sicherheitsrat-Sitz für einen gemeinsamen Europasitz zu „opfern“ .Das geht auch schon gar nicht, weil jetzt das UK ja aus der EU ausscheidet. ^^ Solange nicht die französische und die deutsche , gesellschaftliche , Öffentlichkeit viel enger miteinander kommunizieren, also eine Art von frz.-deutscher Zivilgesellschaft entsteht, ist ein Umbau der beiden Staaten in eine frz.-deutsche Republik ( Ulrike Guérot) nicht vorstellbar. Die Bundesrepublik hilft zum Beispiel Frankreich mit Soldaten in Mali .Würde aber Deutschland aus diesem militärischem Engagement ein politisches Mitspracherecht ableiten, würde dies mit Sicherheit in Paris auf Widerstand stoßen.^^ Anderes Beispiel: Rom fordert von Berlin mehr Solidarität im Umgang mit den Flüchtlingen im Mittelmeer. Das stellen sich dann nicht wenige Politiker in Rom so vor, daß italienische Admiräle deutsche Marine-Soldaten befehligen. So geht es nun aber auch nicht. Übrigens ist seit einiger Zeit das Verhältnis zwischen Rom und Paris ziemlich gestört. Beide Länder, die sich gegenseitig gerne als miteinander verbundene lateinische Geschwister aber zugleich als gegenseitg unfreundlich gesonnene Cousins bezeichnen, hätten gegenwärtig keiner Antrieb , weitere , weitreichende Europa-Fortschritte zu begleiten !! So liegen die Dinge in Europa nun einmal.
Sigurd Schmidt, Bad Homburg
@ Bernd Bremen
@ Sigurd Schmidt
Bernd Bremen möchte ich von ganzem Herzen zustimmen; ob der Vertrag von Aachen wirklich ein wohltuender Gegenakzent gegen die Flucht von Großbritannien wird (Otfried Schrot), bezweifle ich allerdings. Der Vertrag lässt nämlich jede Einsicht der beiden Hauptdarsteller vermissen, die Probleme innerhalb Europas anders als bisher anzugehen. Es ist ein Pakt des „mehr vom selben“ und der damit verbundenen politischen Entscheidungen – allesamt seit Jahren erfolgreich nur im Verteilen nach oben mit den bekannten Folgen für die Südländer und die unteren 50 % der Einkommenspyramide im jeweils eigenen Land. Dass dann in vielen Ländern nationalistische Strömungen entstehen, ist eben nicht nur auf die Flüchtlingsströme, sondern auf die Schäden der autoritären Wirtschaftspolitik ohne Hoffnung auf Besserung für die schwachen Volkswirtschaften zurückzuführen. Massenarbeitslosigkeit, Armut und siechende Binnenmärkte sind nun die neue DNA der Union im Süden.
Aber vielleicht gibt es ein wenig Hoffnung: Dank der Gelbwesten wurde der auch von der deutschen Presse zum Wunderknaben verklärte französische Präsident in wenigen Wochen zum „wunden Knaben“, nachdem er zuvor gut flankiert von Medien und Multiplikatoren die „Altparteien“ zur Kulisse seiner Erfolge deklassierte. Immerhin vielleicht eine Perspektive für viele Menschen nicht nur in Frankreich.
Über Merkel und Groko muss man eigentlich kein Wort mehr verlieren, in der Boxersprache würde man sagen, sie schleppt sich nur noch mit Riechsalz und Adrenalin in die letzte Runde. Aber Sigurd Schmidts Einlassung zu Olaf Scholz möchte ich dann doch auf der Zunge zergehen lassen, weil sich der Beigeschmack lohnt. Wenn Scholz als Finanzminister Le Monde mitteilt, dass „die Bundesrepublik zu mehr Finanzkompromissen bereit sein müsse“, deutet Schmidt einerseits an, der Finanzminister wolle das. Hier darf man sich als Leser schon die Frage stellen, was denn „Finanzkompromiss“ jenseits verbalem Sonnenschein überhaupt heißen mag und man kommt nicht so recht von der Stelle, weil Scholz in der Vergangenheit gar keine Signale in diese Richtung gegeben hat. Darauf folgt dann von Schmidt der Satz, dass ja das Verfassungsgericht einer Transferunion enge Grenzen setzen würde. Was so viel heißt, Scholz will, aber das BVG nicht.
Was in der Ausdrucksweise von Sigurd Schmidt versteckt wird, stellt sich im Grunde folgendermaßen dar: Olaf Scholz saß mit in der Regierung, die der Schuldenbremse nicht nur zustimmte, sondern ihr auch noch den Verfassungsrang gab, der es ohne Zweidrittelmehrheit unmöglich macht, die Bremse zu lösen. Ursache für die erzwungene Kompromisslosigkeit ist also u. a. Scholz selbst. Auf den ökonomischen Unsinn der Schuldenbremse will ich hier nicht mehr eingehen, nur auf den Eindruck, den Schmidt hier zu erzeugen versucht. Er betätigt sich als verbaler Hütchenspieler, um unsichtbar zu machen, wer tatsächlich für den Mangel an Zukunftsinvestitionen auf allen Ebenen mit verantwortlich ist – die SPD mit ihrem Führungspersonal. Das ist gekonnt und der verbale Zaubertrick lohnt der genaueren Würdigung wie ich finde.
Pst! Bronskis schöne neue deutsch-französische EU-Welt. Bitte nicht stören!
„Wo bleibt das Soziale?“ – Die Frage, die Bernd Bremen aus Aachen stellt, ist sicher berechtigt. Deshalb aber das Vertragswerk gleich als „Spektakel von Aachen“ abzuqualifizieren, ist doch sehr unangemessen.
Ungewollt trägt sogar das Getöse aus der rechtsnationalen Ecke zu einer angemessenen Bewertung bei.
So, wenn der ewig gestrige tschechische Chauvinist Vaclav Klaus von „Francodeutschland“ faselt, das sich anschickt, „Europa zu beherrschen“, und er sich nicht einmal scheut, ihn in die „Tradition der Politik von Hitler und Napoleon“ zu stellen (vgl. Wikipdia). Oder wenn Marine Le Pen „Verrat an Frankreich“ wittert. Und in deren Facebook-Account ist in Bezug auf kulturelle Kooperation in Elsass-Lothringen sogar von einer Vorstufe zur „Wiedereinverleibung“ durch Deutschland die Rede.
Da darf dann auf der extremen Linken die Prügel eines Jean-Luc Mélenchon nicht fehlen, der die finstere Absicht einer „Jagd auf Arbeitslose“ diagnostiziert.
In eine ähnliche Richtung geht wohl auch die dümmliche Häme des Kommentars von Rainer Dittrich hier.
Bei so viel Schaum vor dem Mund von Extremisten muss an dem Vertragswerk wohl einiges richtig sein.
Um an der richtigen Kritik von Otfried Schrot, der Verlagerung des Akzents von der zivilgesellschaftlichen auf die politische Ebene (hier Terrorbekämpfung auf militärischer statt polizeilicher Ebene) anzusetzen, hier der Hinweis auf die Hauptabschnitte des Vertrags:
„1. Europäische Angelegenheiten, 2. Frieden, Sicherheit und Entwicklung, 3. Kultur, Bildung, Forschung und Mobilität, 4. Regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit, 5. Nachhaltige Entwicklung, Klima, Umwelt und wirtschaftliche Angelegenheiten, 6. Organisation.“ (Wikipedia)
Der Kern des Vertragswerks) liegt erkennbar im Ziel der Einbeziehung der Zivilgesellschaft (Punkte 3-5). Kritik, die ausschließlich Abmachungen auf politischer Ebene (etwa einer Verteidigungsgemeinschaft) ins Auge fasst, ist einseitig.
Ob die geschätzte Ulrike Guérot (wie Sigurd Schmidt behauptet) tatsächlich von einer „frz.-deutschen Republik“ träumt, wage ich erst einmal zu bezweifeln. Auf jeden Fall geht das am Kern der Abmachungen vorbei.
Ein Vertragswerk erhält erst dann dauerhafte und damit historische Bedeutung, wenn es von der Zivilgesellschaft mit Leben erfüllt wird.
Dazu historische Beispiele zum 1. Elysée-Vertrag zwischen Adenauer und de Gaulle 1963 und dessen Kern, dem deutsch-französischen Jugendwerk:
Ich habe noch erlebt, wie ich bei einem Frankreich-Besuch mit „Heil Hitler!“ begrüßt wurde. Ich habe aber auch erlebt, wie fast zeitgleich deutsche und französische Jugendliche im Saarland Grenzpfähle einrissen. Ich habe die Begeisterung bei der berühmten Rede Charles de Gaulles an die deutsche Jugend 1962 in Ludwigsburg erlebt.
Und ich habe 1967 die Aufgeschlossenheit deutscher wie französischer Studenten bei einem Studentenaustausch zwischen Tübingen und Clermont-Ferrand erlebt, zu einem Teil von mir selbst organisiert, aus dem alleine 2 deutsch-französische Ehen hervorgingen.
Deren Zahl alleine in unserem Bekanntenkreis kann ich heute an meinen Fingern nicht mehr abzählen. Und wenn französische Bekannte bei uns zu Tisch sitzen, wird oft mit Freude von ihrem Besuch in Deutschland (oder dem ihrer Kinder) erzählt. Und dass meine Nationalität bei unserer Arbeit in verschiedenen Assoziationen heute keine Rolle mehr spielt, bedarf schon keiner Erwähnung mehr.
In einem solchen Zusammenhang stehen Verträge, die von Politikern abgeschlossen werden, die aber in ihrer Bedeutung Verträge zwischen Völkern sind und durch sie erst zum Leben erwachen. Und die dann auch den Namen „historisch“ verdienen. Da sei dann den betreffenden Politikern auch ein bisschen Pathos gegönnt.
Mit Sicherheit ist auch daran Kritik erlaubt. Aber auch sind Fragen an Kritiker erlaubt, welches denn ihr Beitrag zum Gelingen eines Vertragswerks ist. Im Besonderen an solche, die meinen, ihren Sarkasmus heraushängen zu müssen, und die damit zugleich belegen, wie wenig sie von wirklichen historischen Dimensionen begriffen haben.
Man sollte jedenfalls in einer Zeit des aufstrebenden Nationalismus, des dümmlichen Brexits der Briten oder der drohenden Aufrüstungspolitik der Weltmächte, doch heilfroh sein, dass es den Deutsch-Französischen Friedens- und Freundschaftsvertrag gibt. Wenigstens dafür wird uns die Nachfolge-Generation dankbar sein können. Natürlich ist dieses Vertragswerk und wie es auch praktisch-politisch genutzt wird von großer historischer Bedeutung. Alles andere ist Fliegenbeinzählerei, Missgunst und Polemik!
@ Jürgen Malyssek,
natürlich sollten wir über den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag vom Grundsatz her erfreut sein.
Allerdings beinhaltet der Aachener Vertrag zuviel Militärisches, was m. E. völlig überflüssig ist. Vielmehr sollte unter heutigen Verhältnissen, gerade auch in Frankreich, das Soziale im Vordergund stehen. Leider hat Merkel Macron und bereits vorher Hollande dermaßen mit ihren neoliberalen „Alternativlosigkeiten“ nicht nur beeinflusst, sondern sogar unter Druck gesetzt, dass die Prinzipien des ursprünglichen Elysée-Vertrages in den Hintergrund geraten sind.
@ Peter Boettel
Natürlich ist mir das Soziale wichtig. Und wenn da soviel Militärisches drin steht, dann macht mich das auch nicht froh. Der Neoliberalismus ist leider ziemlich unkaputtbar geworden. Und es wird von den zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen abhängen, ob sich der N. irgendwo und irgendwie knacken lässt. Ich habe nicht viel Hoffnung, aber es gibt kleine Lichtzeichen, die die Macht der Eliten ankratzen mögen:
Greta Thunberg, Gelbwesten, Macron wackelt, Jugendaustausch funktioniert, usw.
Ich zähle auf die Jugend. Und auf eine Gunst der Stunde. Und wir Alten müssen weitermachen.
@ Jürgen Malyssek
Ich sehe, dass wir uns auch in diesem Punkt einig sind. Gut so.
@ Jürgen Malyssek
Ich teile voll Ihre Hoffnung auf die Jugend, wenn die erst einmal realisiert hat, dass es um ihre Zukunft geht. Und Ansätze sind ja erkennbar. Wozu ich auch „Pulse of Europe“ zählen würde.
Bei den „Gelbwesten“ würde ich doch ein Fragezeichen dahinter setzen. Die sind viel zu schillernd und zu diffus. Die jetzt zum Schluss den Ton angaben, die kann man sicher nicht dazu zählen. Symptomatisch auch die ersten Erfahrungen der „Bürgergespräche“ (sicher ein Punkt auf der Habenseite). Wer da in mehreren Städten nicht erschienen ist, das waren ausgerechnet die Gelbwesten.
Positives könnte man evt. von den Gemäßigten erwarten, die zu den Europawahlen antreten wollen (was auch noch nicht sicher ist). Die könnten dem FN einige Stimmen wegnehmen (man spricht von 2 %). Jetzt nennen die sich freilich RN (Rassemblement National). Das heißt „Zusammenschluss“ oder „Volksauflauf“, klingt also „populistischer“ und nicht so militant. Also ein deutlicher Hinweis, dass Le Pen auf dem Weg zur Machteroberung auf mehr Verschleierung setzt.
Betr. die „militärischen“ Vereinbarungen im Aachener Vertrag: Das wird offenbar viel zu hoch gehängt. Grundlegende Zusammenarbeit (etwa eine deutsch-französische Brigade) gibt es ja jetzt schon. Und was das Eingemachte, nämlich die Bedingungen des Einsatzes angeht, werden da noch einige Nüsse zu knacken sein. Denn die deutsche Armee ist eine Parlamentsarmee, die französische eine Präsidialarmee. Und ich sehe weder, wie das zu vereinbaren ist, noch dass die eine oder andere Seite das eigene Konzept aufgeben würde.
Zudem ergäbe sich (um auf Bronskis Spekulationen als Gegengewicht zu Trump einzugehen) wohl auch die Notwendigkeit, mit den Briten wieder ins Vernehmen zu kommen, wenn der Brexit-Wahn erst mal verraucht ist.
Liest man den Beitrag von Werner Engelmann, entsteht der Eindruck eines eingefrorenen Landschaftsbildes, als wären keine 50 Jahre ins Land gegangen. Gewiss, die Akteure sind andere, aber der Rest des Bildes erscheint unverändert. Mehr als ein halbes Jahrhundert später stellt der Betrachter irritiert fest: Der Fall der Mauer, des „Eisernen Vorhangs“, Perestroika und Glasnost, die Auflösung Jugoslawiens, der Aufstieg Chinas, neue Wertschöpfungsketten entlang der östlichen Peripherie Europas, Kriegsflüchtlinge aus dem nahe Osten und Armutsflüchtlinge aus Afrika, die Nato-Osterweiterung, USA als Welt-Hegemon, wachsende Arbeitslosigkeit und Armut in Europa und massive Stimmenzuwächse rechtsnationaler Strömungen in nahezu allen westliche Staaten und selbst der wahrscheinliche Austritt Großbritanniens hinterlassen praktisch keine Spuren im neuen Vertragswerk.
Während der alte Vertrag die Aussöhnung jahrhundertealter Feinde über Kooperation und Konsultation erreichen wollte und darin sehr erfolgreich war, fragt sich der Leser des neuen Vertrages, was soll damit eigentlich erreicht werden? Das Zusammenwachsen von Umwelt und Kultur ist zumindest auf dem Papier und durch entsprechende Gremien erfolgt, dennoch stehen Reaktoren wie Cattenom immer noch in Grenznähe mit großen Risiken für beide Seiten. Der Wirtschaftsrat existiert seit 1988 ohne nennenswerten Einfluss auf eine gemeinsame Geld-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik.
Konkret wird der Vertrages bei deutsch-französischen Rüstungsprojekten, die schon jetzt Diskussionen zur Lockerung der Rüstungsexportrichtlinien anstoßen. Dagegen sind Rüstungskontrollen und gemeinsame Gegenpositionen zur Eskalationsstrategie der amerikanisch dominierten Nato kein Thema. Eigentlich keine gute Grundlage zur dauerhaften Friedenssicherung.
Hollywood würde titeln: „Elysee-Vertrag Reloaded“, die Briten hätten eine etwas andere Beschreibung: „Same procedure as every year, James“! Und die Systemtheorie würde hinzufügen: „Mehr vom selben…!“
Dass Werner Engelmann die Fahnenschwenker von „Pulse of Europe“ als Hoffnungsträger Europas sieht, erstaunt. Ich nahm vor einiger Zeit an einer Gründungssitzung von POE teil und musste mit Erstaunen feststellen, dass an die Adresse der politischen Akteure nicht eine einzige Frage zur Situation der Union gestellt wird. Im Einführungsvortrag fielen rechtsradikale und rechtspopulistische Kräfte vom Himmel, die Europa plötzlich bedrohen. Gründe, warum rechte Politik verfängt? Fehlanzeige. Keine Erklärungsversuche zur Krise der Union, nicht ein Hinweis auf Arbeitslosigkeit, Armutsmigration, Überschuldung, Probleme der Währung für volkswirtschaftlich schwache Unionsmitglieder. Gefordert wird stattdessen „Action“ in Schulen, Unis, auf Marktplätzen und in Stadtzentren. Europa soll als Friedens- und Wohlstandsprojekt gepriesen werden. Das lässt wirklich hoffen und wirkt wie aus der Zeit gefallen. Natürlich nicht für „Rotarier“, „Lions Club Mitglieder“ und „Round Tabler“, die mit mir am Tisch saßen.
@ Werner Engelmann
Ich glaube, dass die Hoffnung und ein gewisses Vorvertrauen auf die Jugend beiden Generationen gut tut. Ein Antidepressivum für die Alten und ein Mutmacher (eine Rückendeckung) für die Jungen. Keine künstliche Aufhellungsmasche, aber eine Art Schulterschluss. Die Energie zur Veränderung ist nicht aus dem Einzelnen zu ziehen. Wir brauchen das Kollektiv.
Dabei fällt mir der mit weit über 90 Jahren verstorbene Stephane Hessel ein („Empört Euch!“), der auch heute noch ein Leitbild der Jugend darstellt.
Ja, „Pulse of Europe“ zählt auch zu einer wichtigen Bewegung.
Die Gelbwesten sind sicher nicht so einfach einzuordnen, aber bewegt haben sie jedenfalls einiges. Und eine Reihe französischer Intellektueller wie Édouard Louis („Wer hat meinen Vater umgebracht“) mischen die aktuellen Diskussionen auf. Mehr bekümmern mich die Gelbwesten-Träger und ihre Zusammensetzung hier im Lande, etwa am Beispiel Stuttgart (Fahrverbot und Tempolimit, wenn ich mich nicht irre). Das hat was von Trittbrettfahrerei.
Im Moment würde ich auch die erwähnten militärischen Vereinbarungen im Aachener Vertrag auch nicht so hoch hängen und bleibe jetzt erst einmal beim Grundsätzlichen.
Die Hoffnung auf ein After-Brexit-Agreement mit den Briten würde ich zwar nicht ganz begraben. Aber wer dann eine Bringschuld hätte, ist ja wohl klar. Im Moment sind sie für mich „untendurch“. Die träumen wohl immer noch von den weiten Weltmeeren, die sie europaweit nicht finden können. Im Moment sind mir die Iren und Schotten am Nächsten.
Wolfgang Geuer, 7. Februar 2019 um 18:57
Gerne greife ich Ihren Vergleich mit Landschaftsbildern auf, auch wenn mir der ziemlich daneben erscheint.
Wenn einer, sagen wir, im Kunsthistorischen Museum in Wien vor einem Bild von Breugel steht und darüber schimpft, dass der nicht so malt wie Picasso, dann könnte es ja sein, dass das nicht an der Unfähigkeit Breugels liegt, sondern an der falschen Erwartungshaltung des Betrachters. Nicht anders bei dem, der von einem Naturfilm Action und gewagte Stunts erwartet. Oder wer meint, ein Wissenschaftler, der Grundlagenforschung betreibt, müsse unbedingt eine Rakete hochgehen lassen.
Um beim letzten Bild zu bleiben:
Ein bilaterales Vertragswerk ist erstens dazu da, Grundlagen zu schaffen, indem es die Bevölkerung einbezieht, und so langfristige Veränderungen zu bewirken. Und es kann zweitens nur in seinem Bereich wirken und versuchen, Zeichen zu setzen, die darüber hinaus gehen.
Was soll also die – zudem noch reichlich einseitige – Aufzählerei unterschiedlichster weltgeschichtlicher Ereignisse? Wie etwa Erfahrungen von „Perestroika und Glasnost, die Auflösung Jugoslawiens“ in einen deutsch-französischen Vertrag eingehen sollen, das müssten Sie schon erklären.
Schlimmer noch, wenn die Erwartung geschürt wird, es gebe auf alle Weltprobleme DIE Antwort. Das tun Populisten weiß Gott schon zu Genüge.
Zudem fällt mir auf, dass bei Ihrer Aufzählung gerade Zukunftsthemen fehlen, auf die es ankommt: Etwa Umweltschutz, Maßnahmen zum Strukturwandel in einer digitalisierten Arbeitswelt oder auf solche Bedürfnisse hin orientierte Bildungsmaßnahmen.
Dass – in dem Maße, in dem ein bilaterales Vertragswerk es ermöglicht – solche Fragen recht konkret berücksichtigt werden, zeigen z.B. Punkt 9 (Klimapolitik), Punkt 10 (Forschung, Innovation), Punkt 15 (Zukunftswerk, Transformationsprozesse in Gesellschaften) in der
„Neuen Deutsch-Französischen Agenda“ – wobei Maßnahmen der Abschaltung des AKW Fessenheim sogar explizit genannt werden:
https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Europa/Deutsch_Franz_Zusammenarbeit/2019-01-23-vertrag-von-aachen.html
Darüber hinaus sei auch auf folgende Artikel verwiesen:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/deutsch-franzoesische-freundschaft-der-vertrag-von-aachen-a-1249058.html
Dazu zur „Stimmungsmache gegen Aachener Vertrag“ durch Marine Le Pen:
https://www.focus.de/politik/deutschland/unterzeichnung-in-aachen-unterwerfung-steht-kurz-bevor-warum-viele-franzosen-vertrag-mit-deutschland-fuerchten_id_10216902.html
und: https://faktenfinder.tagesschau.de/ausland/aachener-vertrag-desinformation-101.html
Betr.: „Pulse of Europe“
Ich verweise darauf, dass in der Diskussion mit Herrn Malyssek in diesem Zusammenhang von Hoffnung auf Aktionen junger Menschen die Rede war.
Diese als „Fahnenschwenker“ zu diskreditieren, halte ich für reichlich elitär und arrogant. Insbesondere als diese Aktionen (soweit ich sie beobachten konnte) auf Außenwirkung angelegt sind, als Gegengewicht zu EU-Hass, wie er von „Populisten“ und Nationalisten in gezielt destruktiver Absicht geschürt wird.
Kein Mensch hat hier behauptet, dass einige der von Ihnen genannten Fragen nicht berechtigt wären.
Dass Sie versucht haben, sich selbst zu informieren, ehrt Sie. Freilich wäre es von Interesse zu erfahren, mit welcher konkreten Frage, welchem konkreten Vorschlag Sie denn hervorgetreten sind. Und ebenso eine Begründung, warum gerade dies der richtige Ort für umfassende Analysen unterschiedlichster Problembereiche sein soll.
Oder meinen Sie im Ernst, wer fahnenschwenkend (und Sie wissen, welche Fahnen gemeint sind) „Populisten“ und Nationalisten nachrennt, sei ausgerechnet durch wissenschaftliche Dissertationen zu überzeugen?
Einen Schwenker zu Ihrem Ausflug zu den „Briten“ kann ich mir doch nicht verkneifen:
„Same procedure as every year, James!“ Dieser Spruch aus „Dinner for one“ dürfte kaum einem Briten bekannt sein. Ich habe einige Jahre mit einigen von ihnen zusammen gearbeitet. Keiner kannte ihn.
Auch scheint mir jetzt nicht gerade der geeignete Moment zu sein, ausgerechnet bei „den Briten“ Einschätzungen und Ratschläge betreffend die EU oder deutsch-französische Beziehungen einzuholen.
Da dürfte der Asterix-Spruch „Die spinnen, die Briten!“ doch etwas angemessener und zeitgemäßer sein.
@ Werner Engelmann
Der Elysee-Vertrag von 1963 war ein Meilenstein in der französisch-deutschen Geschichte und – aus heutiger Sicht – auch ein wichtiger Baustein Europas, indem er Konsultation und Kooperation zu den Leitgedanken für die bilateralen Beziehung zwischen den „Erbfeinden“ und darüber hinaus für die noch zu gestaltende Europäische Gemeinschaft machte. So weit, so gut.
Im Kern enthielt der Elysee-Vertrag bereits alle Elemente, von der Kooperation in auswärtigen Fragen, in der Bildung, Forschung und Erziehung, der Verteidigung, der Wirtschaft sowie der Gestaltung der Beziehungen innerhalb Europas und zwischen Ost und West. Das ist auch genau die Substanz des heutigen Vertrages. Im Grunde bieten die sechs Hauptpunkte von Aachen nur eine aktualisierte Ergänzung dessen, was Gegenstand des Vertrages von 1963 war. Natürlich geht es heute im Forschungssektor u. a. um „künstliche Intelligenz“, „digitale Plattformen“. Jeder politische Referent hat hierzu in seiner Schublade eine üppige Sammlung an Stichworten, die er wie mit der Pfeffermühle in fast jeden beliebigen Text einstreuen kann. Aber wo finde ich das essentiell Neue des Vertrages, die Themen, mit denen Antworten auf die aktuellen bilateralen und im weiteren auf die europäischen Fragen gegeben werden? Angesichts des „Höllensturzes“, der die europäischen Nationen in zwei Weltkriege trieb, war im Vertrag von 1963 der Kern des Neuen die zwischenstaatliche Kooperation und die damit einhergehende Annäherung in einer zuvor von Nationalismus und Feindschaft geprägten Politik. Welche Antworten gibt der Aachener Vertrag auf den neu entstandenen Nationalismus in Frankreich und Deutschland und in nahezu allen Ländern der Union? Aachen liefert nur die Fortschreibung des bereits Vorhandenen, operatives „Modern Talking“, ohne dass die heutigen Akteure offenbar sehen, was auf dem Spiel steht und warum.
Hier passt der Ausflug zu „Pulse Of Europe“. Zwar wird an verschiedenen Stellen des Aufrufs der drohende Zerfall Europas dargestellt, aber man findet nichts darüber, wie es dazu kommen konnte. POE beschwört, dass Europa nicht scheitern darf, hofft auf die Reformierbarkeit der Union, setzt auf die Wertegemeinschaft und will wirtschaftliche Freiheit und soziale Verantwortung im „Zusammenspiel von Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und freien Waren- und Zahlungsverkehr“ verbinden. Aber genau da liegt unter anderem der Hase im Pfeffer: Die Dienstleistungsfreiheit erzeugt Arbeitsmigration mit massivem Lohndruck in Deutschland und – am unteren Ende der Einkommensskala – z. B. sklavenartige Arbeitsverhältnisse auf deutschen Schlachthöfen. Gut ausgebildete Fachkräfte aus den Südländern oder dem Osten wie Ärzte, Ingenieure und Informatiker werden ebenfalls mit negativen Folgen für das Lohnniveau in Deutschland angeworben, hinterlassen darüber hinaus aber Tabula Rasa z. B. in Rumänien. Ganze Landstriche leiden dort an Unterversorgung bei medizinischen Dienstleistungen. Weil ich zeitweise in Griechenland lebe, kenne ich die massiv ausgedünnte Forschungslandschaft an Universitäten und habe persönliche Eindrücke zum dramatischen Personalschwund im Gesundheitswesen. Davon hört man bei „Pulse Of Europe“ nichts. Das Problem wird überhaupt nicht gesehen.
Im Übrigen scheint es „Pulse Of Europe“ wenig zu interessieren, dass der Vertrag von Maastricht nicht demokratisch legitimierten supranationalen Gremien in Brüssel Eingriffe in nationale Haushalte demokratisch legitimierter Regierungen (z. B. Italien oder Griechenland) erlaubt. Die Frage, woher denn ein Land wirtschaftliche Impulse bekommen soll, wenn private Haushalte, Unternehmen und die Regierung sparen, galt bei den Beteiligten angesichts eines angeblich „verkrusteten italienischen Arbeitsmarktes“ als irrelevant. Wie man „Bürger aktiv in Reformprozesse“ einbinden will, indem man autoritären Wirtschaftsliberalismus betreibt, der ganze Staaten in Not bringt, erscheint mir mindestens naiv. Hier einige Informationen zur Problematik:
https://makroskop.eu/2018/10/italienische-schuldenkrise-der-euro-ist-gescheitert/
Dazu noch einige Fragen, die ich in den Gesprächen aufgeworfen habe: Wie will man mit Steuermogler Juncker als Präsident Steuerbetrugsnationen blockieren? Haben die Panama-Papers Konsequenzen auf der europäischen Ebene ausgelöst? Wer in der Union versucht den Privatisierungsdruck auf öffentliche Leistungen oder Güter zu mindern? Die Entscheidungen der europäischen Gremien folgen, so muss man bisher sagen, einem Muster – der Umverteilung von unten nach oben. Sie erzeugen unmittelbar Armut und in den Händen von ganz Wenigen Reichtum. Die gleiche Kommission, die über Jahre Jugendarbeitslosigkeit in Griechenlande von 50% akzeptierte, fordert Steuersenkungen für Unternehmen und lässt sich von denen, die als Berater Steuerhinterziehung professionell betreiben, beraten.
https://kontrast.at/eu-zahlt-beraterhonorare-an-grosse-steuersteuertrickser/
Dass das Europäische Parlament nicht über die wesentlichen Rechte eines Parlaments (Haushalts- und Initiativrecht) verfügt, wird mit dem Ziel „die europäische Idee muss verständlicher werden“ von „Pulse OF Europe“ untergepflügt. Wie man so auf die berechtigte Kritik vieler Menschen reagieren will, ohne sich mit der problematischen Architektur der Union auseinanderzusetzen, ist mir unklar. Es wird zwar eingeräumt, dass „Gesellschaften auseinanderdriften“, der Aufruf gibt jedoch keine Hinweise, wie es dazu kommt. Und als Lösung macht man sich „stark für Zusammenhalt“, der durch das europäische Wettbewerbsmodell jeder gegen jeden aufgegeben wird.
Dass die Eurozone durch die Schuldenbremse und den Fiskalpakt staatliche Interventionen verhindert, ist eigentlich seit langem bekannt, dass andere Länder wie Kanada durch staatliche Eingriffe sehr erfolgreich auf den Binnenmarkt einwirken, zeigt der nachstehende Artikel. In Europa wird stattdessen Hungerdiät verordnet. Sie erzeugt prekäre Arbeitsverhältnisse und im Süden die Not, die zu bröselnder Infrastruktur und Armut ohne soziales Netz (Griechenland) führt.
https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische…/die-gretchenfrage-des-euros-3185.
Fazit: Die Spaltung innerhalb der Union ist das Ergebnis von mindestens zwei Faktoren: Erstens: Im Osten fehlt die demokratische Tradition, die uns sehr lange immunisiert hat gegen rechtsnationale Gedanken. Zweitens: Sowohl im Westen als auch im Osten ist überwiegend durch wirtschaftsautoritäre Programme eine nach dem zweiten Weltkrieg unbekannte Ungleichheit und Spaltung der Gesellschaft entstanden. Beides erzeugt Abstieg und Armut und bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung Abstiegsängste. Die Politik der traditionellen Parteien hat dies teilweise und bei uns vollkommen ignoriert („Deutschland geht es gut“) oder mit „weißer Salbe“ behandelt (höhere Freibeträge für Harzt IV, „Riestern“ statt Rente). Und dazu immer gut medial flankiert. Harald Schumann und Elisa Simantke beschreiben akribisch die Deregulierungen, die am europäischen Beschäftigungsmarkt die Spaltung der Bürger und deren Wut auf die Brüsseler Technokraten erklären:
https://m.tagesspiegel.de/gesellschaft/arbeitsmarkt-abschaffung…/20301470-3.html
Dem zu begegnen, ist weitaus mehr gefordert als der Aktionismus von „Pulse Of Europe“. Die Alternative darf jedoch nicht heißen, „Weg mit Europa“, sondern eine andere europäische Politik, die die Fehler benennt und Lösungen auf der nationalen und supranationalen Ebene einfordert. Klar ist, mit dem aktuellen politischen Personal wird das nicht gehen. Immerhin, in Frankreich bewegt sich ja etwas…
Nochmal zurück zum Aachener Vertrag: Wenn ihnen das „Dinner For One“-Zitat weniger gefällt, wie wäre es mit Witwe Bolte: „Wofür sie besonders schwärmt, wenn er wieder aufgewärmt…“. Dass die Briten spinnen, sehe ich übrigens genauso wie sie.
@ Wolfgang Geuer u. Werner Engelmann
„Dass die Briten spinnen, sehe ich übrigens genauso wie Sie“.
„Die“ Briten, von denen 48 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt haben? Vor solchen Pauschalisierungen sollten wir uns als zu differenzierten Urteilen fähige Menschen hüten.
@ Brigitte Ernst
Sie haben vollkommen Recht, Frau Ernst. Das Asterix-Zitat hatte mehr mit der Diskussion zwischen Herrn Engelmann und mir zu tun. Wenn einige Engländer spinnen, sind das ganz sicher Cameron, Johnson und die Herausgeber von Blättern, die einer Zombieregierung Applaus spenden und die Ursachen für den Verfall der britischen Demokratie mit dümmlichen Schlagzeilen befeuern.
Wenn man sich vorstellt, dass u. a. mit einer „bedroom-tax“ Bedürftige aus ihren Wohnungen getrieben wurden, ahnt man, wie Stimmungen entstanden und viele prekär Beschäftigte immer weiter an den Rand gerieten. Das war Wasser auf die Mühlen der Populisten, die in der EU den Schuldigen ausmachten. Und Labour – blairisiert an Haupt und Gliedern – hatte keine Alternativen, mit dem der Zug hätte aufgehalten werden können.
@ Brigitte Ernst
Der Kontext des „Asterix“-Zitats, auf den Herr Geuer hier nochmal verweist, war wohl absolut klar.
Zu den Merkmalen von „zu differenzierten Urteilen fähigen Menschen“ gehört auch, Kontext und Tonalität zu beachten, als Voraussetzung, um – so man denn will – Intentionen anderer zu erfassen.
Ebenso, auf Neukonstruktionen mit herausgerissenen Zitaten zum Zwecke der Belehrung zu verzichten. Zumal, wenn jedem, der Missverständnisse und Diskreditierungen vermeiden will, die Möglichkeit der Nachfrage offen steht.
@ Wolfgang Geuer
Zunächst danke für die ausführlichen Erläuterungen.
Inhaltlich kann ich es kurz machen. Denn ich stimme, was die Perspektive und die nötigen Veränderungen in der EU betrifft, in so gut wie allen Punkten mit Ihnen überein.
Hier seien in Stichworten nur die Punkte benannt, auf die dies in besonderer Weise zutrifft:
– „Arbeitsmigration mit massivem Lohndruck“
– „Spaltung der Gesellschaft, Abstiegsängste“
– „problematische Architektur der Union“, „Demokratiedefizit“
Aachener Vertrag:
– „Im Grunde bieten die sechs Hauptpunkte von Aachen nur eine aktualisierte Ergänzung dessen, was Gegenstand des Vertrages von 1963 war.“
Was ich bei Ihren Analysen und Fragestellungen allerdings vermisse, ist die klare Unterscheidung zwischen (1) strukturellen Bedingungen bzw. langfristig wirkenden Maßnahmen und (2) politischen Aktionen, um z.B. auf neue Herausforderungen zu reagieren.
Zu (1) zählen sicher der dt.-frz. Vertrag von 1963, ebenso die Römischen Verträge der EU. Sie stellen die Basis (im Vergleich: die Infrastruktur) für (2) politische Aktionen dar.
Verträge zu (1) sind projektiv im Sinne von zukunftsorientiert, erfordern Visionen.
Politische Aktionen (2) sind in der Regel reaktiv: sie antworten auf neue Situationen oder Herausforderungen. Weil sie zu sehr gegenwartsfixiert sind, sind sie kaum in der Lage, aus sich heraus Visionen zu entwickeln.
Bildlich gesprochen: Man sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.
Zur aktuellen EU-Problematik:
Es ergibt sich der Verdacht, dass durch Fortentwicklungen von (1), etwa die Maastricht-Verträge, ein Korsett entstanden ist, das eine adäquate politische Reaktion auf veränderte Verhältnisse im Sinne von (2) unmöglich macht oder zumindest erschwert. Beispiel: Selbstblockade, z.B. in der „Flüchtlingspolitik“ durch Einstimmigkeitsprinzip.
Es ist also die Frage zu stellen, in welchem Maße politische Aktionen auf die Basis (Strukturen) in Hinblick auf ihre Veränderung zurück wirken können, um sich aus diesem „Korsett“ zu befreien. Anders ausgedrückt: Ob eine Reformierung „von innen“ möglich ist.
Meine Antwort:
Es gibt gar keine andere Chance. Die Alternative dazu wäre die „revolutionäre“ Zerstörung der zugrundeliegenden Strukturen mit allen katastrophalen humanitären Konsequenzen. In diesem Sinne war der 2. Weltkrieg ein solcher „revolutionärer“ Akt.
Was von Nationalisten als vermeintliche „Alternative“ angeboten wird, ist (a) entweder illusorisch oder (b) selbstzerstörerisch.
Beispiel zu (a):
Das von Nationalisten immer wieder beschworene „Europa der Vaterländer“ de Gaulles hat nie existiert. Denn de Gaulle war klug genug, sich von dem klügeren Konzept seines Außenministers Robert Schuman überzeugen zu lassen. „Rückkehr“ in die Vergangenheit ist immer mit Wirklichkeitsverlust verbunden.
Beispiel zu (b):
Die Zerstörungswut eines Steven Bannon.
Es spricht alles dafür (nicht nur die regelmäßigen Treffen mit ihm), dass europäische Rechtsnationalisten in diese Richtung zu gehen bereit sind. Die psychologische Grundlage dafür ist Sucht nach Selbstzerstörung, von Christopher Clark an den Ursachen für den Ausbruch des 1. Weltkriegs paradigmatisch aufgezeigt.
Zunehmend irrationales Verhalten, Selbstbefriedigung durch Hassmails, Fake News, Trump und „America first“ usw. sind die modernen Entsprechungen, die geradezu suggestiv wirken.
Wie wirkungsvoll dies nicht nur sein kann, sondern auch ist, haben wir ja gerade erst mit der Brexit-Kampagne erlebt.
Dem allein mit Aufklärung, ständigem Hinterfragen begegnen zu wollen, halte ich für illusorisch. Das muss auf einer anderen Ebene geleistet werden, u.a. hier im Blog und natürlich in Parteien oder Bewegungen/Assoziationen.
Eine Außendarstellung kommt um Symbole, eindringliche Formeln („mehr Demokratie wagen“), die emotional wirken, nicht herum.
Dass sie zuspitzen, berechtigt noch lange nicht zum Vorwurf der „Pauschalisierung“. Der ist erst berechtigt, wenn sie nicht oder nur durch FakeNews oder aus dem Zusammenhang gerissene Zitate begründet werden KÖNNEN.
Ein positives Beispiel dazu ist m.E. die Aktion von Greta Thunberg und die Reaktion vieler Jugendlicher (vgl. Threed „Die Jugend zeigt uns, wie wichtig Umweltschutz ist“). Natürlich ist da einiges illusorisch, und genau so irrelevant ist, ob sie „realistische“ Vorstellungen vom Kohleausstieg in Deutschland hat. Entscheidend ist allein, dass es ein Signal in die richtige Richtung gibt.
In einer solchen Funktion sehe auch Bewegungen wie „Pulse of Europe“, die ja auch in dem oben genannten Zusammenhang nationalistischer Kampagnen entstanden sind.
Obwohl ich überhaupt nicht für Flaggen (am allerwenigsten nationale) zu haben bin: Der Tatsache, dass gerade nationale Symbole längst schon gekapert wurden durch nationalistische Demagogen, kann man nur entgegen treten, wenn Symbole, die (nicht nur, aber auch) für Werte stehen, etwa die Europafahne, nicht auch noch zum Abschuss freigegeben werden.
Dass das alleine nicht ausreicht, die eigenen Positionen ständig hinterfragt werden müssen, halte ich für selbstverständlich. Doch das steht auf einem anderen Blatt.
@ Werner Engelmann
Die Erläuterungen von Wolfgang Geuer sind auf jedenfall sehr aufschlussreich. So tief stecke ich im Thema nicht drin. Deshalb danke an dieser Stelle.
Wir haben als junge Leute schon von dem deutsch-französischen Vertrag von 1963 profitiert bzw. da ich damals in Rheinland-Pfalz lebte, gab es schon regen Jugend-Austausch. Wir waren da schon ganz gut drauf, auch in der Provinz.
Mir sind weiterhin Symbole (das kann auch eine Flagge sein) wichtig, die die Verbundenheit beider Nationen deutlich machen und die auch ihre Wirkungen haben. Sie haben oft mehr Chancen zu überstehen als kurzatmige Aktionen oder kalenderbestimmte Sonntagsauftritte.
Da heute durch die sattsam bekannten digitalen Medien jeder Simpel zu allem, was ihm über den Weg läuft, seinen Schmant loswerden kann, geht auch der Pausenraum verloren, um Kraft und Geist zu sammeln, Reaktion und Reflexion auf die Reihe zu kriegen.
Es bringt auch nichts, bei einem Vertragswerk und den Aspekten der Umsetzung chronisch Korinthenkackerei zu betreiben (es sei denn man sieht dies als Spezialaufgabe), wenn es vor allem darum geht, „den Laden zusammen zu halten“. Deshalb ist, wie Sie sagen, „entscheidend, dass es es Signale in die richtige Richtung gibt“. Diesen Signalen jedenfalls Bedeutung zu geben. Was wollen wir wirklich?
Sicher komme ich nicht umhin, mich und vieles andere immer wieder zu hinterfragen bzw. weiter nachzudenken. Oder zu streiten.