Ich tue jetzt etwas, was ich nur selten tue: Ich mache es mir leicht. Wir haben bereits im November/Dezember über die Frage diskutiert, ob KZ-Besuche für SchülerInnen verpflichtend sein sollten oder nicht. Diese Debatte kam im Gefolge des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus, des 27. Januar, wieder auf, ohne dass wesentliche neue Argumente hinzukamen. Die Sorge vor dem erstarkenden Antisemitismus hatte auch schon Josef Schuster angetrieben, den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Im Grunde sind sich alle seriösen politischen Kräfte in Deutschland einig: Auschwitz darf sich nicht wiederholen. Jetzt begab sich FR-Mitarbeiter Simon Berninger zur KZ-Gedenkstätte Dachau, und die FR widmete der Frage ein Pro – also: Ja, Besuche solcher Gedenkstätten sollen verpflichtend sein – von Ursula Rüssmann und ein Kontra von Nadja Erb, beide FR-Redakteurinnen. Ansonst hat sich seit November nichts verändert, so dass ich es mir ausnahmsweise – ich wiederhole mich – leicht mache und einfach meinen Text vom 15. November 2017 recycle – allerdings mit vielen neuen Leserbriefen, die auch der eigentliche Grund für diesen neuen Thread sind.
Lernen an den Stätten des Grauens (2)
Was tun gegen das Erstarken rechtsextremer Strömungen in Deutschland und gegen Antisemitismus? Ein Weg könnte mehr bzw. bessere politische Bildung sein. Darauf – so verstehe ich ihn – zielte der Chef des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mit seinem Vorschlag, verpflichtende Besuche von Konzentrationslagern in die Schullehrpläne aufzunehmen. Besuche an authentischen Orten könnten die Geschichte begreifbarer werden lassen, hatte er dem MDR gesagt. Er halte „solche Besuche auch für Schüler mit Migrationshintergrund, also deren Vorfahren nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, für sinnvoll.“ In einer solchen Gedenkstätte werde „sichtbar, wohin die Diskriminierung und Verfolgung einer Minderheit im Extremfall führen kann“.
Das klingt im ersten Moment einleuchtend. Auf den zweiten Blick scheint jedoch durch, wie deutsch dieser Vorstoß nun wieder ist. Pflichten und Zwänge, das fällt uns Deutschen gern als erstes ein, wenn wir einen Missstand wahrgenommen haben wollen, nicht aber Überzeugung und Vernunft. Es ist ja nicht so, dass es solche Besuche nicht gibt. Als ich vor rund zehn Jahren in Auschwitz war (zum ersten und bisher einzigen Mal), waren mehrere Schulklassen – nicht nur aus Deutschland – auf dem Gelände unterwegs. Diesen Ort zu erleben, ist in der Tat eine Erfahrung. Sie kann allerdings auch überfordern. Sensible Menschen sollten sich gut überlegen, ob sie sich das antun, denn das Grauen der Vernichtung von Menschenleben am Fließband ist dort nicht nur fassbar, sondern körperlich spürbar. Was Ralf Isaacsohn, der Ehrenvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Leipzig sagte, stimmt natürlich: „Freiwillig haben ja manche Scheu davor, das zu sehen oder zu erleben.“ Sie könnten gute Gründe dafür haben, nicht wahr?
Leserbriefe
Frederike Frei aus Berlin meint:
„Heilfroh bin ich, dass meine Schulzeit mir die Freiheit ließ, ein KZ erstmalig zu erwachsenen Zeiten zu besuchen. In der Jugend habe ich mich mt Bildern, Reportagen, Büchern und Fernsehfilmen darüber auseinandergesetzt. Schon das war schwer zu verkraften. Als Erwachsene mittleren Alters dann kam ich im Urlaub an Mauthausen vorbei, und mein Mann und ich beschlossen mit leichtem Sinn, es zu besuchen. Auch er ein erstesmal in einem KZ. Erst jetzt besaß ich im Innern die Sprache, um dieses Erlebnis – auch literarisch – zu verkraften und zu verarbeiten, zumal die Fallhöhe durch den Urlaub umso höher war. Mein Gedicht über Mauthausen wurde mehrmals abgedruckt. Und ich freue mich, wie gesagt, noch nachträglich, dass mich nicht irgendeine ungeliebte Lehrerin schon in viel zu frühen Zeiten in ein KZ komplimentiert, geschubst oder gezerrt hat.
‚Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.‘ Es gibt diesen Spruch, weil man als Schüler eben meistens nur für die Schule lernt. Also hätte auch ich ein KZ für die Schule gelernt – brav, betroffen und beeinflusst. In Unfreiheit.“
Robert Maxeiner aus Frankfurt:
„Der konzeptionelle Ansatz der Bundespolitik zu Antisemitismus greift meines Erachtens viel zu kurz. Zu erst einmal sollten die Erwachsenen wieder Vorbild sein und sich klar gegen Antisemitismus bekennen, allen voran Parlamentarier und Vertreter der öffentlichen Sicherheit. Dazu gehört auch, sich grundsätzlich von Rassismus und Rechtspopulismus zu distanzieren. Dies ist nicht nur eine Frage von Wortwahl und korrektem Verhalten, sondern von innerer Einstellung und Haltung, die es immer wieder zu reflektieren gilt. Hier gibt es für uns Erwachsene noch immer viel zu tun. Wie wäre es zum Beispiel, wenn die Vertreter des Bundestages sich freiwillig verpflichteten, regelmäßig KZ-Besuche zu machen, um ihre Einstellung zu demonstrieren und Schülerinnen und Schülern ein Vorbild zu geben? Die Aussage von Frau Rüssmann, dass sich kaum Jemand gegen den strafbewehrten Zwang des Lernens wendet, halte ich eher für ein Armutszeugnis pädagogischer Einsicht als ein inhaltliches Argument. Und Frau Erb faselt von einer gesellschaftlichen DNA der Bundesrepublik. Geht‘s nicht etwas weniger trivial in der Wortwahl? Wir sprechen hier von Einstellungen und verinnerlichten Haltungen, die gerade nichts mit DNA und selbstverständlich auch nichts mit Zwang zu tun hat oder haben sollte. Auschwitz wird sich nicht wiederholen, weil sich Geschichte in der selben Form niemals wiederholt. Aber gesellschaftliche Prozesse wiederholen sich in dieser oder jener Ausprägung. Bedauerlicherweise leben wir in einer Gesellschaft, die den Anfängen dieser Prozesse zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wir können uns des Problems Antisemitismus nicht entledigen, indem wir es einfach auf den Bildungskanon projizieren. Und außerdem: Durch einen guten Geschichtsunterricht, der nicht nur Lehrpläne abhakt, werden Schülerinnen und Schüler interessiert und auch betroffen sein, mehr wissen und sich selbst ein differenziertes Bild machen wollen. Denn Historie ist nicht eindimensional, beziehungsweise zeigt immer nur faktische Ausschnitte, niemals das Vollständige. (Diese Aussage ist nicht geeignet, um sie dazu zu benutzen, Fakten zu leugnen.) Ich erinnere an die Fragen eines lesenden Arbeiters von Berthold Brecht: Wer baute das siebentorige Theben?“
Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:
„Der Pflichtbesuch von KZ-Lagern oder Vernichtungsmaschinerien industrieller Art ist nicht geeignet für weiterführende Schulen. Ja, die israelische Armee schickt ihre Soldatinnen und Soldaten auch nach Ausschwitz und andere Lager, damit sie dort Ansicht von dem Unsäglichem gewinnen. Für Israelis ist dies einsichtig. Deutsche Gymnasiasten sollte man nicht verpflichten zu solchen Besuchen. Dass die US-Amerikaner nach der Einnahme von Weimar die dortigen deutschen Bürger zur „Anschauung“ des Grauens nach Buchenwald hintrieben, war durchaus richtig.
Entweder haben die heutigen Schüler das Bedürfnis oder eben nicht. Das Deutschland nach 1945/49 –die damalige BRD I –hat die Losung gefunden: keine Kollektivschuld, kein Lebensgram für die nachfolgenden Generationen; Erinnerungskultur sei angezeigt ( ein euphemistisches Wort). Wer empfindet heute eigentlich kollektive, Geschichtswelten übergreifende Schmach? Kann man dies von eingebürgerten Deutschen ausländischer Herkunft eigentlich erwarten?
Es bleibt die Spaltung zwischen Altem und Neuem Testament. Im Alten Testament geht es Zahn um Zahn. Was du meinen Altvorderen angetan hast, das tue ich jetzt Dir auch an. Das Barmherzigkeitsgebot des Neuen Testaments hingegen verherrlicht in einem gewissen Sinne den am Kreuze sterbenden Jesus, kann aber nicht Solidarität mit den Hinterbliebenen von unsäglichen Massakern in der Geschichte erzwingen. Deutschland muss mit der ungeheuerlichen Bürde leben, unsägliche Menschenverbrechen sich nun einmal anlasten zu müssen. Es hilft nur hier: Geschichte überhaupt zu kennen und tiefe Demut zu zeigen … und manchmal besser ganz zu schweigen.“
Hans-Hermann Büchsel aus Heidelberg:
„Kaum ist das Kind in den Brunnen gefallen, kommt aus der CDU ein Vorschlag, in Zukunft Brunnen gesetzlich zu verbieten. So kennen wir das. Nach der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch Trump geriet eine Demonstration dagegen zu einer widerwärtigen antisemitischen Weg-mit Israel-Kampagne. Nun ist es eine SPD-Politikerin, die Berliner Staatssekretärin Chebli, die volles Rohr auffährt: KZ-Besuche für Schulklassen als Pflicht; und die FR ist gleich dabei mit einem PRO und CONTRA zum Thema: Habt Ihr es nicht eine Nummer kleiner?
Natürlich sind nationalsozialistische Verbrechen einschließlich der Shoah Bestandteil aller Lehrpläne in deutschen Ländern, und dabei sind in der Regel – mehr oder weniger verpflichtende – Hinweise auf Besuche von entsprechenden Gedenkstätten enthalten – es muss ja nicht immer Auschwitz oder Dachau sein. Das alles wird seit Jahren praktiziert, wie auch der Bericht auf S. 2 der gleichen FR belegt. Und ja: KZ-Besuche, richtig vor- und nachbereitet, sind sehr wertvolle veranschaulichende Elemente in der antifaschistischen Erziehung, wie ich aus eigener jahrelanger Erfahrung bestätigen kann. Es gibt auch entsprechende Fortbildungsangebote für die begleitenden Lehrer/innen. Und ich halte es für durchaus angebracht, angesichts der aktuellen Ereignisse darauf hinzuweisen, wie wichtig diese Praxis für die Bildung und Erziehung aller Schüler/innen ist.
Aber die Forderung nach einer „Pflicht“ ist zwar für eine flotte Schlagzeile gut, eröffnet aber nur einen Nebenkriegsschauplatz, und die Argumente sind in der Regel von der Kenntnis der schulischen Praxis mehr oder weniger unberührt. Es geht nicht um Pro oder Contra, sondern darum zu überlegen, wie man eine bestehende schulische Praxis weiter unterstützen und gegebenenfalls verbessern kann, z.B. durch einen Fond, der Klassenfahrten zu entsprechenden Gedenkstätten (wie es ihn in Brandenburg gibt) und auch sonstige geeignete Maßnahmen finanziell unterstützt, diesen Teil der deutschen Geschichte für Schüler/innen möglichst konkret erlebbar zu machen.
In der Vergangenheit waren das v.a. Begegnungen mit Überlebenden, die ich immer als sehr beeindruckend erlebt habe, leider ist diese Zeit vorbei. Gut fand ich daher z.B. die Idee einer Kollegin, in einem Unterrichtsprojekt mit einer 6. Klasse anhand der in der Heimatstadt verlegten Stolpersteine und entsprechenden Quellen die Schicksale der früheren jüdischen Mitbewohner/innen zu erarbeiten. Wichtig ist: Erinnerungsarbeit muss immer konkret sein.“
Saskia Schneider aus Hamburg :
„Ich würde noch etwas weitergehen: nicht nur (persönliche) Besuche dieser Gedenkstätten. Vorab würde ich die jungen Leute wie z. B. Schüler (so denn noch „greifbar) mit einem (überlebenden) Zeitzeugen auf den bevorstehenden Besuch vorbereiten. Am besten wäre es idealerweise ab der Orientierungsstufe oder: Generell ab dann, sobald das „Dritte Reich“ in Geschichte/ Politik „angeschnitten“ wird.
Zudem würde ich entsprechende Filme/ Literatur recherchieren wie Chaplin’s „Der Diktator“ (das Brisante daran war, dass Chaplin selbst gebürtiger Jude war); Film „Hitlerjunge Salomon“ (ein gebürtiger jüdischer Junge „schlüpft“ in die Rolle eines Ariers {Hitlers: „Ur-Deutsche“} und lebt in der ständigen Angst der Entdeckung seiner wahren Identität. Glücklicherweise überlebt er – mit sehr viel Glück – das Dritte Reich. „Schindlers Liste“. Simon Wiesenthal ‘s „Recht, nicht Rache“ (sowohl als Film, als auch als Print-Ausgabe erhältlich). „Tagebuch der Anne Frank“ (vielleicht in Verbindung mit Besuch im Anne Frank-Haus in Amsterdam; Klassenreise). Edith Hahn-Beer „Ich ging durch ‘s Feuer und brannte nicht“. Ein hoher NS-Funktionär ehelicht EHB – obwohl er um ihre jüdische Herkunft weiß und diese „Mischehe“ nicht ganz ungefährlich ist (da diese von Gerichtswegen zwangsgeschieden werden, um den jüdischen Part leichter ins KZ verbringen zu können). Doch er beschützt nicht nur sie (als seine Ehepartnerin), sondern hält auch noch weitere Verfolgte (die ohne sein couragiertes Handeln sehr wahrscheinlich den sicheren Tod in den KZ-Gaskammern fänden) bei sich (daheim) versteckt. Michael Degen „Nicht alle waren Mörder“ Er und seine halbjüdische Mutter wurden während des Zweiten Weltkriegs von anderen Ariern versteckt verhalten und versorgt.
Dabei würde ich beide Seiten gleich „beleuchten“: Auf der einen Seite: National-Sozialismus allgemein (was ist das? Was bedeutet das (für das soziale Miteinander)? Dem würde ich (als Gegen-Darstellung) die persönlichen Schicksale der NS-Opfer und der Mutigen (wie Widerständler/ Kritiker des Systems/ jene, die das Dritte Reich nur überlebt haben – weil sie das Glück hatten, an die „Richtigen“ geraten zu sein.). Außerdem würde ich noch jemanden (Beschäftigten) von der Kriegsgräber-Fürsorge einladen, damit er den Schülern (z. B.) verdeutlicht, welche Folgen ein Krieg haben kann.“
Manfred Kirsch aus Neuwied:
„Wenn ich die beiden Positionen betrachte, dann muss ich zugestehen, dass sowohl die Pro- als auch die Contra-Argumente einige Aspekte beinhalten, denen ich zustimmen kann. KZ-Besuche als alleinige Pflichtveranstaltung würden mit Sicherheit das Ziel verfehlen, nachhaltig den Antisemitismus zu bekämpfen. Natürlich muss ein verpflichtender KZ-Besuch eingebettet sein in ein schon in der Vorschule beginnendes Bemühen, bereits Kindern die dringend notwendigen Tugenden von Menschlichkeit und Solidarität nahezubringen und sie im Geiste der Nächstenliebe zu schulen. Es hat nichts mit Symbolpolitik zu tun, sondern es ist in der Tat eine notwendige Zumutung, eine Pflicht für Schülerinnen und Schüler zum Besuch von KZs einzuführen. Die Menschenverachtung, die durch Nazi-Deutschland verübt wurde, muss natürlich die Konsequenz haben, die Selbstverpflichtung des Staates zu antifaschistischem Handeln zu manifestieren. Notwendig ist das Erlernen und Einüben demokratischer Eigenschaften wie Achtung vor der körperlichen Unversehrtheit und dem Leben. Die Menschenfeindlichkeit der NS-Vernichtungslager und der nach wie vor vorhandene Antisemitismus sind auch heute Bestandteil der Ellenbogengesellschaft. Mit den verpflichtenden KZ-Besuchen würde daher dem antifaschistischen Charakter und Geist des Grundgesetzes Rechnung getragen. Wir reden nicht mehr über abstrakte Erscheinungen, sondern wir befinden uns ja inzwischen wieder mittendrin in einer von Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit durchsetzten Gesellschaft und müssen dieser Entwicklung auch mit verpflichtenden Maßnahmen beim antifaschistischen Unterricht entgegenhalten.“
Martina Weigand aus Darmstadt:
„Sollen KZ-Besuche verpflichtend sein? Ja, unbedingt! Zahlen, Fotos und Filme sind wichtig, aber bleiben doch abstrakt. Vor Ort zu sehen, dass das Ungeheuerliche tatsächlich so passiert ist und wie effizient es organisiert und dokumentiert wurde – erst das macht es wirklich begreifbar. Es ist vollkommen und zutiefst erschütternd.
Menschen mit fest verankertem antisemitischem Weltbild wird man dadurch wahrscheinlich nicht erreichen, aber vielleicht doch wenigstens mal zum Nachdenken bringen.
Aber viel wichtiger sind doch die vielen Anderen – die Ahnungslosen, die Gleichgültigen, die Naiven – die brauchen wir um ganz klar „NICHT MIT MIR“ zu sagen – die brauchen wir damit sie demokratisch und nicht neofaschistisch wählen. Kümmern wir uns um die Mehrheit, damit sie eine bleibt!“
Friedrich Gehring aus Backnang:
Aufgrund folgender Erfahrung warne ich vor zu hohen Erwartungen an KZ-Besuche. In den Jahren 1975 bis 1977 unterrichtete ich eine 5. und 6. Gymnasialklasse an einer hessischen Gesamtschule im Fach Ev. Religion. Die Kinder wünschten sich das Thema „Christenverfolgung im 3. Reich“ und ich führte einen 45-minütigen Videobericht über das KZ Buchenwald vor. Während ich danach emotional erschöpft war, interessierten sich die Kinder nochmals für Bilder von der Genickschussanlage. Sie hatten sich – für mich bis dahin undenkbar – mit den Tätern identifiziert. Schwache Individuen müssen sich offenbar zur Kompensation der eigenen Schwäche mit den Mächtigen identifizieren, auch wenn diese ihre Macht brutalst missbrauchen. So konnte der NS-Rassismus funktionieren.
Ich nahm die Herausforderung an und arbeitete nach der damals heftig bekämpften Konzeption des „Therapeutischen Religionsunterrichts“ an der Ichstärkung der Kinder. Ich behielt die Praxis bei, nach Möglichkeit die Kinder die Themen wählen zu lassen, wobei ich darauf achtete, dass die Unterrichtsmaterialien die Identifikation mit den Opfern nahe legten. Am Ende von Klasse fünf wünschten die Kinder, ich solle aus „Quo Vadis“ die Szene vorlesen, in der die junge schöne Christin Lydia von dem bärenstarken Mitchristen Ursus zum Staunen des Publikums in der römischen Arena vor einem anrennenden Stier gerettet wird. Hier konnten sie sich mit dem schwachen Opfer und dem starken Retter zugleich identifizieren.
Im sechsten Schuljahr wurde unter anderem Gewalt gegen Kinder thematisiert sowie das Davonlaufen von Kindern. Am Ende wählten die Kinder das Thema „Schulstress und Selbstmord“. Ich musste einen Brief an die Eltern schreiben, der für die Probleme der Kinder angesichts der nahenden Zeugnisse sensibilisieren sollte. Nach dem zweijährigen Unterrichtsprozess waren sie emotional stark genug, sich als Opfer elterlicher und struktureller schulischer Gewalt und insofern auch mit anderen Opfern identifizieren zu können. Ohne solche Prozesse können KZ-Besuche und Wissensvermittlung über die NS-Gräuel misslingen.“
Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:
„Sollen Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern für Schulen verpflichtend werden? Oder würde das auf eine reine Symbolpolitik hinauslaufen? Um Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Unterdrückung und Nationalismus aufzuarbeiten, bedarf es nach meiner Erfahrung eines mehrjährigen qualifizierten Unterrichts. Das Aufsuchen der Mordstätten könnte unter diesen Voraussetzungen ein ergänzendes Element sein. Ein unvermittelter Besuch hingegen liefe Gefahr, von den Schülern als Pflichtprogramm wahrgenommen zu werden, das über eine momentane Betroffenheit hinaus keine Wirkung entfalten würde.
Bei der Erörterung dieser Frage sollte zudem nicht vergessen werden, dass nach dem ursprünglichen Willen der Alliierten jede Form von Faschismus in einem künftigen deutschen Staat verboten sein sollte. Das Grundgesetz nimmt darauf in Artikel 139 Bezug: »Die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Ein rein formales Erinnern reicht deswegen nach meiner Überzeugung nicht aus. Es geht im Kern um eine breit angelegte staatsbürgerliche Bildung und um die Vermittlung einer Ethik des Humanen.
Das einzige ehemalige Konzentrationslager, das ich je besuchte, ist die Gedenkstätte Osthofen nördlich von Worms. Damals war ich der Schulzeit längst entwachsen. Dazu angeregt hatte mich Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“, dessen literarische Vorlage dieses erste KL im seinerzeitigen Volksstaat Hessen war. Es bestand von März 1933 bis Juli 1934 und diente vorrangig der Inhaftierung politischer Gegner, also im Wesentlichen der Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten. Um die Entdemokratisierung des Staats durchsetzen zu können, sollten die Bürger in kleinen Schritten an unterdrückende Gewalt gegen Andersdenkende und Andersrassige gewöhnt werden. Zwar befand sich das Lager am Stadtrand, doch alle Einwohner konnten sich allein durch genaues Hinsehen ein Bild davon machen, welchen Repressalien die Gefangen ausgesetzt waren. Die zur Bewachung eingesetzten SA- und SS-Mannschaften rekrutierten sich überwiegend aus Ortsansässigen oder Bewohnern der Nachbargemeinden und nicht selten kolportierten sie ihre widerlichen Heldenerzählungen in den Kneipen. Die Existenz des Konzentrationslagers sollte nicht geheim bleiben.
Die NSDAP, ein Sammelbecken von bildungsfernen, gewaltbereiten und rassistischen Spießern, von Anhängern eines antidemokratischen und nationalistischen Ständestaats und von Vertretern der Wirtschaftsmonopole, setzte von Anfang an auf die physische Vernichtung ihrer Gegner. Diesen Ungeist und seine Absichten enthüllt die Gedenkstätte Osthofen auf eindrückliche Weise.
Umfassende Kenntnisse über den NS-Unrechtsstaat und speziell über das System der Konzentrationslager waren mir von der Schule völlig unzureichend, weil widersprüchlich und zusammenhanglos, vermittelt worden. Zeitgeschichte bedeutete während meiner Schulzeit vor allem die ideologische Einstimmung auf den Kalten Krieg. Vermutlich hat mich erst die Disparatheit zwischen den verschiedenen Schilderungen und Meinungen, die mir im Alter von 15, 16 Jahren auffielen, richtig neugierig gemacht. Eine gut sortierte Stadtbücherei ersetzte mir schließlich die Lehrer und vermittelte mir die Hinterlassenschaften von Zeitzeugen.
Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine nicht nachlassende öffentliche Beschäftigung mit dem NS-Regime und für eine kämpferische Auseinandersetzung mit den Ewiggestrigen. Dazu würde aktuell gehören, AfD, Identitäre, Querfront samt ihrer Publizistik nicht länger als rechtspopulistisch zu bezeichnen, sondern als faschistische und verfassungsfeindliche Organisationen.“
Zum Schluss zwei Leserbriefe, die auf die im Print-Leserforum veröffentlichten Leserbriefe reagieren. Der erste ist von Manfred Stibaner aus Dreieich, der auf die Zuschrift von Klaus Philipp Mertens erwidert:
„Dem Leserbrief von Herrn Mertens stimme ich zu, wenn er schreibt „Umfassende Kenntnisse über .. das System der Konzentrationslager waren mir von der Schule völlig unzureichend vermittelt worden“ und von einem späterem Besuch in Osthofen berichtet. (Eh – da war doch was mit Anna Seghers / Das siebte Kreuz! Und die kannte noch nichtmal die scheußlichen internen Details der KZs, sie schrieb schon aus dem Exil …).
Ich, Jahrgang 43, bin nicht etwa unzureichend über KZs informiert worden, sondern unser Geschichtsunterricht in der Mittelschule endete praktischerweise beim Ersten Weltkrieg. Ganz losgelöst von diesem Unterricht wurden uns gelegentlich Filme aus der Nazizeit von einer hessischen Bildungsstätte vorgeführt mit völlig unzureichender Erklärung dazu. Ein brüllender, wutschäumender Herr Hitler, marschierende Soldaten unterm Brandenburger Tor, Goebbels-Reden – alles eher zusammenhanglos und ohne dass daraus was zu lernen war (kann auch sein, dass ich dafür zu blöd war, mit zwölf oder 14 Jahren die richtigen Schlüsse selbst zu ziehen).
Die einzigen weiteren Kenntnisse schöpften wir aus Kriegsschilderungen von zwei oder drei Lehrern; der eine beschlagnahmte im besetzten Frankreich Keller voller Cognac, der andere berichete von lustigen Zugfahrten zur Getränkebeschaffung an der Ostfront (muss wohl noch vor Stalingrad gewesen sein). Die Krüppel auf unsren Straßen hielten den Mund, die meisten der gesund Heimgekehrten meist auch.
Direkten Kontakt mit der Massenvernichtung von Menschen hatte ich erst als Erwachsener bei Besuchen in Buchenwald, hübsch gelegen auf dem Ettersberg über Weimar. Da waren natürlich nur die Nazis dran schuld, also solche Typen, die es in der DDR bekanntlich nicht gab. Abgesehen von solchen Phrasen wurde dort ein durchaus realistisches Bild der Torturen und der Mordmaschine gezeigt. Erwas verstörend fand ich allerdings, dass die hübsche Stehlampe der Ilse Koch (Frau des Lagerkommandanten) mit dem Schirm aus Menschenhaut nicht mehr gezeigt wird. Auch die gehört zu dem Grauen dort, nicht nur die Folterkeller, Schießanlage, Gaskammern und Verbrennungsöfen.
Fazit – eine andauernde Information unsrer Schüler über die Nazizeit ist unabkömmlich. Leider fallen die Zeitzeugen inzwischen aus, die direkt Erlebtes berichten können. Dafür müssen andere Wege gefunde und gegangen werden, bevor junge Generationen das als Historie ähnlich der Römerzeit ohne Bedeutung für uns einstufen werden.“
Detlef Puhl aus Ettlingen reagiert auf Zuschriften, die Vorschläge zur Ergänzung der Lehrpläne gemacht haben:
„In den Leserbriefen zur Frage verpflichtender KZ-Besuche äußerten sich auch Personen, die nicht unterrichten. Skeptische verlangen Vor- und Nachbereitung am besten in einem vieljährigen Curriculum. Frau Schneider schreibt im Konjunktiv, wie sie filmisch und literarisch dies angehen würde. Für mich wird dabei deutlich, dass hier ohne genauere Kenntnis der Schulwirklichkeit geschrieben wird.
Ich kann natürlich nur von meiner fast vierzigjährigen Unterrichtspraxis an der Drais-Realschule (heute Gemeinschaftsschule) in Karlsruhe reden – habe aber auch so einen guten Überblick über andere Realschulen.
Während meiner Zeit sind alle 10. Klassen zum Konzentrationslager Natzweiler-Struthof gefahren, oft verbunden mit einer Besichtigung eines Bunkers der Maginot-Linie. Das gehörte und gehört noch heute zum Jahresprogramm wie das Betriebspraktikum in Klasse 9, wie der Besuch im Landtag usw. Eine schlichte Selbstverständlichkeit. In den frühen Achtzigern war selten ein zweiter Bus dort oben, französische Schulen habe ich seinerzeit nicht erlebt, was sich in den letzten 15 Jahren aber völlig geändert hat.
In den unteren Klassen haben unsere Schüler z. B. „Stern ohne Himmel “ oder „Damals war es Friedrich“ auch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ gelesen. Später dann „Andorra“ oder „Grafeneck“ – über die Mordpraxis an Menschen mit Behinderung -, „Abschied von Sidonie“ behandelt das Schicksal eines Roma-Mädchens. Die Praxis des mörderischen SS-Staates wird vielfältig in Baden-Württembergs Realschulen behandelt, was sich auch darin zeigt, dass die letztgenannten Texte verpflichtende Prüfungslektüre waren.
Der Schulleiter meiner Schule initiierte 1988 zusammen mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die Mahnwache am 9. November an der Gedenkstätte der ehemaligen Synagoge in der Kronenstraße. Dabei erarbeiten die Schüler und Schülerinnen ein Thema zur Judenverfolgung, dokumentieren dies und präsentieren ihre Ergebnisse auf Schautafeln, halten still mit einer Kerze in der Hand dort Wache. Zur zentralen Gedenkstunde kommen Repräsentanten des öffentlichen Lebens wie Abgeordnete (leider die der CDU nicht), der Oberbürgermeister spricht, Mitglieder der jüdischen Gemeinde und Zeitzeugen sind anwesend. Der Kantor singt das Kaddisch, das jüdische Totengebet.
Diese Aktion ist nicht nur auf meine Schule beschränkt, ich finde auch immer Kollegen und Kolleginnen, die mit ihren Klassen die Mahnwache gestalten.
Es tut sich also etwas, was Herz, Hand und Kopf berührt. Ich bin sicher, dabei bleibt etwas hängen. Und doch – leider nicht bei allen. Von zwei Ehemaligen habe ich bei Facebook sehr rechtslastige Kommentare zu Flüchtlingen lesen müssen. Das schmerzt und doch weiß ich, dass die überwältigende Mehrheit sich ihre Empathie und ihr Verantwortungsbewusstsein bewahrt hat.
Der Lehrplan bindet die Lehrer und Lehrerinnen, was sie ihren Schülern und Schülerinnen zu vermitteln haben. Dazu kann auch der Unterricht an einer KZ-Gedenkstätte gehören. Es ist doch gar keine Frage, dass dieser Besuch in ein umfassendes Konzept eingebunden sein muss – und das geschieht doch auch schon heute.“
Als die Debatte in der FR wieder eröffnet wurde, dachte ich: Schade, jetzt müsste im Blog mit eben dieser Debatte weitergemacht werden – danke, Bronski!
Mich beeindruckt die Schilderung von Detlef Puhl – ich finde, genau so muss eine Auseinandersetzung in der Schule mit dem Thema stattfinden.
Wenn unterschiedliche Zugangsweisen zu einem Thema ausgearbeitet werden, wenn SchülerInnen nicht nur einmal durch eine Gedenkstätte geschleust werden, sondern sich mit vielen Facetten jüdischen Lebens und Leidens beschäftigen können und auch jüdisches Leben in unserer Gesellschaft kennenlernen, dann zeigt das Wirkung.
Bedenkenswert halte ich das Argument einer Frau (ich weiß nicht mehr, ob in der FR oder der ZEIT), dass sie Gedenkstätten-Besuche, die als reines Pflichtprogramm von stumpf einherlatschenden Menschengruppen abgehandelt werden, als eine neuerliche Schändung dieser Orte empfindet. Das hat mich sehr beeindruckt, denn diese Sichtweise hatte ich bisher nicht bedacht. Also noch ein Argument für eine gute Vorbereitung und eine achtsame Durchführung von Gedenkstättenbesuchen – und das schließt die Akzeptanz der Weigerung einzelner SchülerInnen, ein KZ zu betreten, natürlich mit ein.
Ach, Unterrichtsstunden, Vorträge etc. fallen aus und können bei Bedarf nachgeholt werden. Aber Menschen fallen höchstens weg – richtig aber ist , sie sind endgültig nicht mehr da! Das mag die freuen, die ^davon^ nichts mehr hören wollen. Aber sie sind für uns nicht verloren ! Es gibt so viele ausgezeichnete Dokumentationen mit Zeitzeugen, die man jederzeit wiederhören oder wiedersehen kann , wenn man will! Gerade junge Leute sind durch Medien gut ansprechbar und Lehrer sollten das auch nutzen, um das Thema im Unterricht lebendig zu halten – aber dafür müssen einige wohl selbst erst sensibilisiert werden!
Ich selbst – Jahrgang 1933 – habe als Kind sozialdemokratischer erkennbar widerständiger Eltern bereits soviel mitbekommen, dass mich dieses Thema mein Leben lang begleitet hat und ich es auch in meinem Beruf lebendig halten konnte als Dozentin für Politik in der beruflichen Umschulung Erwachsener.