Der neue französische Präsident Emmanuel Macron scheint es ernst zu meinen. Er will die Europäische Union erneuern und damit den europäischen Gedanken wiederbeleben. Es scheint nur eines solchen Anstoßes bedurft zu haben, um Brüssel abrupt in Bewegung zu versetzen: Bis Mitte Oktober soll ein konkreter Fahrplan für Reformschritte vorliegen, kündigte EU-Ratspräsident Donald Tusk schon mal an. Es ist wirklich nicht wenig, was Macron da in einer Rede an der Sorbonne angekündigt hat: „Der Franzose will einen neuen Integrationsschub in Feldern wie der Verteidigungs-, Innen- und Außenpolitik“, schreibt FR-Leitartikler Thorsten Knuf. „Er will den Klimaschutz und die Digitalisierung mit Wucht vorantreiben und die Währungsunion vertiefen. Und er will endlich das europäische Projekt mit der Demokratie versöhnen. Denkverbote gibt es für ihn nicht.“ Und weil er damit, von Berlin aus gesehen, zur Unzeit kommt, gehört die europäische Bühne zumindest vorerst ihm, denn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ist nach der Wahl geschwächt und muss erst mal eine Regierungskoalition schmieden. Ob solche EU-Reformen wohl mit einem Vizekanzler Christian Lindner (FDP) zu machen sein werden? Er bezeichnete Macrons Prozekt eines Budgets für die Eurozone bereits als „Geld-Pipeline aus Deutschland in andere EU-Staaten“.
Seit Jahren hat kein europäischer Spitzenpolitiker mehr eine derart kühne Vorstellung von der Zukunft der EU entwickelt wie jetzt der französische Präsident. Die Euro-Zone soll einen eigenen Etat bekommen und einen eigenen Finanzminister, den das EU-Parlament kontrolliert. Auch will Macron versuchen, eine Steuer auf Finanztransaktionen an der Börse in der gesamten EU einzuführen. Er fordert eine einheitliche Bemessungsgrundlage für Unternehmenssteuern in der EU. Bis 2020 sollen verpflichtende Unter- und Obergrenzen für die Körperschaftssteuersätze festgelegt werden. Ihm schwebt vor, dass der deutsche und der französische Wirtschaftsraum bis 2024 vollständig integriert sein sollen, so dass für Unternehmen in beiden Ländern dieselben Gesetze gelten.
Er fordert ferner einen europäischen Verteidigungshaushalt, eine gemeinsame Verteidigungsdoktrin und eine gemeinsame Eingreiftruppe, die schon zu Beginn des kommenden Jahrzehnts einsatzbereit sein soll. Der größte Bremser bei der Synchronisation der verschiedenen europäischen Militäre fällt nun weg: Großbritannien wird die EU verlassen. Als Instrument gegen den Terrorismus will Macron die Bildung einer europäischen Staatsanwaltschaft forcieren. Außerdem soll es eine EU-Geheimdienstakademie geben. Macron will eine europäische Asylbehörde gründen. Sie soll die Arbeit der nationalen Behörden koordinieren. Auch sollen die Einwanderungsgesetze harmonisiert werden. Eine EU-Grenzpolizei soll die Außengrenzen schützen.
Kanzlerin Merkel hat schon zu vielen Punkten grundsätzlich ihre Zustimmung gegeben, aber es wird dennoch Widerstände geben, denn nicht alle Staaten sind bereit, weitere Veranwortlichkeiten nach Brüssel abzugeben. Vor allem die osteuropäischen nicht. Ein Problem ist aber bereits erledigt: Der bisherige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble wird nicht Finanzminister bleiben; er hatte sich gegen die weitere Integration der Eurozone mit einem eigenen Etat und einem europäischen Finanz- bzw. Wirtschaftsminister gestemmt, der natürlich Schäubles eigene Position geschwächt hätte. Und bei der Synchronisation der Wirtschaftsräume sind Widerstände zu erwarten, etwa seitens der Gewerkschaften.
Dennoch kommt Macrons Vorstoß zu rechten Zeit. Europa ist wieder da! Bei allen Projekten, die da nun angestoßen werden sollen, muss vor allem die Weiterentwicklung der europäischen Demokratie im Vordergrund stehen, denn daran krankt es im bisherigen Europa am meisten. Das Demokratiedefizit ist das größte Manko des bisherigen Europa. Das Mittel der Wahl muss daher die Stärkung des EU-Parlaments sein. Hier setzt Macron einen wichtigen Impuls, wenn er vorsieht, dass der europäische Finanzminister vom Parlament kontrolliert werden soll. Das ist der richtige Weg, Europa voranzubringen.
Leserbriefe
Arthur Sturm aus Saarburg meint:
„Frankreich ist ein mir persönlich, sprachlich und kulturell sehr vertrautes Land. Deshalb kann ich, ohne Tabus beachten zu müssen, zu Ihrem Beitrag „radikal“ Stellung nehmen.
Präsident Macron, selbst aus deren Mitte erwachsen, repräsentiert die Ambitionen der französischen Elite und des Großkapitals und setzt die Arbeit seiner Vorgänger an einem durch das französische Verständnis von Politik geprägten Europa kontinuierlich fort. Herr Moscovici ist schon Kommissar für Wirtschaft und Finanzen. Ich gehe jede Wette ein, dass der Nachfolger von Herrn Dijsselblom als Chef der Euro-Gruppe Herr Le Maire werden wird. Der Nachfolger von Herrn Draghi wird nicht aus einem Nordland der Euro-Zone kommen.
Dieses Europa des Herrn Macron ist ein Europa des freien Waren- und Kapitalverkehrs auf der einen und des organisierten Sozialdumpings auf der anderen Seite. Das EURO-Desaster spare ich hier aus Platzgründen aus. Für dieses Europa steht Macron. Dagegen haben sich in seinem Heimatland bisher nur 55% der Wähler links und rechts „radikalisiert“ und daher gärt es auch im übrigen Europa und die Menschen wenden sich von DIESEM Projekt innerlich ab.
Die Menschen, die von diesem unsozialen Projekt betroffen sind und in ihrem Alltag gerade zurecht kommen müssen , können zwei und zwei zusammenzählen; das genügt; da braucht es keine Symbolik in der Sorbonne. Da bleiben die unter sich, die von diesem Europa profitieren oder als zukünftige Elite an die Honigtöpfe wollen. Man kann das ruhig offen schreiben, das berührt die Freundschaft und Sympathien zwischen dem deutschen und dem französischen Volk mithin überhaupt nicht.
Ich habe im Übrigen den Eindruck, daß unsere deutschen Politiker zur Zeit und in den letzten Jahren diesen aggressiven Seilschaften nicht gewachsen sind und waren.“
Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:
„Präsident Macron reicht Deutschland die Hand. Dieses sehr bewusste Zugehen auf Deutschland sollte in der europäischen Frage nicht ausgeschlagen werden. Dieser Mann denkt einfach durch! Wer hat in Deutschland jetzt den Mut, auf seine Vorschläge einzugehen? Die Italiener würden sagen: Forza, forza! Europa muss sich geopolitischer Realitäten bewusst werden. Wenn nicht, hat Europa zukünftig, angesichts der aufkommenden Weltmacht China nichts mehr zu melden.
Die Bundesrepublik wäre gut beraten, nicht in reflexartigem Skeptizismus zu verharren. Selbst über eine gemeinsame Banken- Einlagenversicherung in der €-Währungszone sollte gesprochen werden können. Nur dort, wo es um unmittelbare gegenseitige, direkte, Finanzhilfen zwischen EU-Ländern geht, müssen die nationalen Zustimmungsprozesse verfassungsrechtlicher und parlamentarischer Art natürlich eingehalten werden. Der prinzipielle Zusammenhang von Verantwortung und Haftung darf nicht auseinandergerissen werden. Andererseits muss natürlich Mutualität, also Unterstützungszusagen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, gelebt werden können. In diesem Zusammenhang muß dem Genossenschaftsgedanken in der Europäischen Union ein breiterer Raum eingeräumt werden. Die gemeinschaftliche Haftung außerhalb schon bestehender EU-Institutionen sollte jedoch stets vom nationalen Souverän legitimiert werden. Die französischen und holländischen Bürger haben seinerzeit eine europäische Verfassung ganz klar abgelehnt. Der jetzige frz. Präsident und seine politische Plattform der „République en marche“ müssen bei ihren weit ausgreifenden Reformvorschlägen für die EU und für das bilaterale deutsch-frz. Verhältnis die Stimmungslage des frz. Wahlvolks vor Augen behalten. Eine ganz tiefgreifende Integration der EU wird ohne nationale Volksreferenden nicht möglich sein.
Bemerkenswert sind auch die Überlegungen Macrons zur Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit in Europa (u.a. die Etablierung einer Art von innereuropäischen Fremdenlegion) sind unbedingt verfolgenswert, zumindest was die Berufsarmeen anbelangt.
Ob jetzt schon über einen Wiederanschluß Großbritanniens an die „neue EU“ diskutiert werden sollte, ist eher mit einem Fragezeichen zu versehen. Die Briten oder genauer die Engländer wollen sich nun einmal vom Kontinent trennen. Es gilt in einem solchen Fall auch international der Grundsatz: Reisende sollte man nicht aufhalten. Es versteht sich, daß auch eine neu aufgestellte EU offen für die Aufnahme neuer Mitglieder sein wollte, sofern diese die Aufnahmekriterien in politischer und ökonomischer Hinsicht erfüllen. In wieweit es klug wäre, den Rahmen der EU geopolitisch zu umreißen, muß näher diskutiert werden. Schon heute gehören sehr ferne Territorien zur EU wie zum Beispiel die Insel La Réunion und die Inseln in der frz. Karibik oder frz. Guayana oder St. Pierre et Miquélon oder La Nouvelle Calédonie.“
Otfried Schrot aus Ronnenberg:
Europa ist für die Mehrzahl der Europäer ein diffuses Gebilde, eine große Ansammlung von Staaten mit viel Sinn für Geld aus Brüssel und wenig Sinn für europäische Solidarität und Loyalität und mit einer wenig Respekt einflößenden Spitze. Es fehlt der Präsident der Europäischen Union, es fehlt der europäische Regierungschef, es fehlt das europäische Kabinett, es fehlt die europäische Verfassung, es fehlt die Europäische Armee, die nicht mehr Bestanteil der NATO ist, um künftig zu verhindern, dass die europäischen NATO – Armeen noch einmal als Handlanger für die Erreichung der weltpolitischen Ziele der USA missbraucht werden. Damit wir vorankommen und bevor die Europäer wieder in dumpfen Nationalismus zurückfallen, müssen die europäischen Regierungen jetzt endlich bald über ihren eigenen Schatten springen, um diejenigen Kompetenzen „nach oben“ abzugeben, die erforderlich sind, um aus Europa das zu machen, was wir in der politischen Sprache als „Souverän“ bezeichnen. Die europäischen Bürger sollten das Europäische Parlament wählen wie bisher, aber die Europaabgeordneten sollten künftig die Befugnis erhalten, einen europäischen Ministerpräsidenten zu wählen, der wiederum sein Kabinett ernennt, das höchstens die Hälfte der Mitglieder der derzeitigen Europäischen Kommission haben sollte, deren Mitglieder künftig lediglich Verbindungsfunktionen zwischen ihren nationalen Regierungen und der künftigen europäischen Regierung haben sollten. Die künftige Europäische Union sollte über eine fugendichte europäische Verfassung verfügen, auf der ein Europäisches Gesetzgebungswerk errichtet wird und selbstverständlich auch ein eigenes europäisches Budget. Der europäische Steuerzahler sollte künftig die Hälfte seiner Steuern wie bisher an seine nationale Regierung entrichten und die andere Hälfte an den europäischen Finanzminister, den Emmanuel Macron jetzt schon in sein Herz geschlossen hat. Die europäische Außenpolitik sollte ausbalanciert werden zwischen den USA, Russland, China, Südasien und Afrika ohne Bevorzugung oder Benachteiligung einer politischen Macht. Die europäische Weltpolitik sollte sich zum Ziele setzen, das internationale Recht so zu verdichten, dass Kriege überflüssig und durch funktionierende gewaltlose Konfliktlösungsverfahren ersetzt werden und damit die Überlebenschancen der Menschheit in einem intakten Lebensraum gesichert werden.
Diskussion: frblog.de/macron
Jedwede gesellschaftliche Erneuerung hielt Helmuth Plessner in Zeiten des sozialen Radikalismus bereits im Jahr 1924 für ausgeschlossen (siehe das Vorwort zu dessen Grenzschrift). Würde heutzutage der französische Präsident es mit innovativer Politik ernst meinen, müsste er somit zuvörderst Ansatzpunkte für den Bruch mit solch einer Handlungskonstellation ausfindig machen, die es ermöglichen, die dadurch vorherrschende Sperre aufheben zu können. Solange diese Arbeit nicht notwendig getan ist, entschwinden seine Vorschläge zur künftigen Gestalt der Europäischen Union im Orkus. Wenn man so will, könnte daher kritisiert werden, dass Herr Macron den zweiten vor den ersten Schritt setzen will. Gerade die Erfahrungen in Deutschland mit den unzähligen Formen des sozialen Radikalismus bis hin zur Barbarei des Faschismus sollten ihm indes genug Warnung sein, die Interpunktion nicht zu vertauschen und in der insofern von ihm stillschweigend angetretenen Flucht vor der Notwendigkeit innezuhalten, wofür Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schon vor genau siebzig Jahren plädierten.