Der Autor Pankaj Mishra hat der FR ein Interview gegeben, in dem es kräftig zur Sache geht. Manchem kann man uneingeschränkt zustimmen, andere Positionen goutiert man zähneknirschend und auf der Suche nach Argumenten für den Widerspruch. „Wenn wirtschaftliche Krisen, politische Unzufriedenheit, wenn Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit zusammenkommen, dann entsteht eine Situation, in der Sündenböcke gesucht und geschlachtet werden“, sagt Mishra beispielsweise. Trifft das auch auf uns in Deutschland zu? Die Sündenböcke, von denen er spricht – meint er damit Muslime? Flüchtlinge? „Der Terrorismus ist kein Privileg des Islam“ – richtig, das wissen wir Deutschen sehr gut. Jene „Defekte ist, die wir so gerne fremden Religionen, fremden Völkern zuschreiben“, würden mit Leichtigkeit bei jedem einzelnen von uns entdeckt werden, wenn wir nur genauer hinsehen würden.
Die Ansicht sei sehr neu, dass Aufklärung und Demokratie eng zusammenhingen. Diese Ansicht wurde „1945 entwickelt. Es ging damals darum, den Westen neu und möglichst positiv zu definieren.“ Die Aufklärer selbst hatten „wenig im Sinn mit der Demokratie. Sie liefen despotischen Tyrannen wie Friedrich II. von Preußen oder gar Katharina von Russland hinterher und hofften, sie von ihren Ideen zu überzeugen.“ Spätestens an dieser Stelle frage ich mich, ob diese Sichtweise nicht doch ein wenig unhistorisch ist — erstens weil Philosophen nicht immer als Revolutionäre taugen, die auf die brennenden Barrikaden steigen, zweitens weil die Entwicklung von Aufklärung hin zu den Menschenrechten und damit zur Demokratie ein jahrzehntelanger Lernprozess war, in dem ständig Erkenntnisse und Positionen erarbeitet wurden und der zugleich ein Prozess der Emanzipation von Kirche und anderen autoritären Strukturen war, und drittens — wem hätten die Aufklärer denn sonst „hinterherlaufen“ sollen? Das Volk — wenn es das jemals gab — ist ja in der Regel nur dann aus eigenem Antrieb aufgestanden, wenn es Hunger und Not litt, jedoch nicht, um für abstrakte Ideen wie Demokratie zu kämpfen, von denen der größte Teil des europäischen Kontinents ideell weit entfernt war und die erst in die Köpfe einsickern mussten.
In diesem Punkt – und anderen – bin ich dann doch ein wenig anderer Meinung als der Träger des Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung von 2014, Pankaj Mishra. Aber unseren Leserbriefautor Jürgen Malyssek aus Wiesbaden hat das Interview sehr bewegt. Er schrieb einen langen Leserbrief, den ich im Print-Leserforum nur zur Hälfte veröffentlichen konnte. Hier kommt der gesamte Brief als ungekürzter Gastbeitrag im FR-Blog.
Die Überforderung des Einzelnen
Von Jürgen Malyssek
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Die Hoffnung auf eine gerechtere und gewaltfreiere Welt kann man wohl vorerst begraben. Und wenn überhaupt, dann kann das „Wunder“ allenfalls durch nächste Generationen passieren, die möglicherweise aus den alten und immer noch vorherrschenden Denkapparaten herausgewachsen sein mögen. Und die ein Bild von der Welt erreicht haben, das nicht mehr die Prägung des Turbokapitalismus mit diesem verheerenden Nebeneinander von Überfluss und Mangel oder einer vollkommen einseitigen Vorstellung von technologischem Fortschritt mit verloren gegangener Menschenwürde und gesellschaftlicher Solidarität.
Pankaj Mishras Blick auf die Aufklärung, die Moderne und die Demokratie hilft den Gedankenschalter anders zu drehen und die eigenen fest eingebauten Schwarz-Weiß-Bilder von Gewalt und Terror zu überdenken.
Es ist offensichtlich, dass immer mehr Teile der Menschheit in der herrschenden totalen Globalisierung (auch durch das Internet) überfordert sind und nach und nach ins soziale Abseits fallen.
Materielles Glück, Freiheit und Sicherheit erreichen nur noch die Reichen selbst und die Spezialisten des globalen und teils ungesteuerten Arbeitsmarktes. Die Allrounder oder die klassischen Berufserfahrenen sind unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und des optimalen wirtschaftlichen Erfolgs nicht mehr wirklich gefragt. Wie Mishra an anderer Stelle betont: „Globalisierung schafft zu viele Verlierer!“ Wer das noch bestreitet, der mag weitestgehend privilegiert dastehen oder den Blick auf die gesellschaftlichen Ränder nicht riskieren wollen.
Die Überforderung des Einzelnen ist inzwischen sehr nahe zu erfahren und zumindest – wenn man es denn will – weitestgehend an den vielen Schauplätzen des öffentlichen Lebens zu beobachten: Müll- und Flaschensammler in allen Altersgruppen, Straßenszenen der gesellschaftlichen Verlierer, Streuner, Bettler, Wohnungslose, psychisch Angeschlagene, die rastlos in den Innenstädten unterwegs sind …
Die Zerstörung von alten Milieus in gewachsenen Stadtteilen, das Verschwinden von Nischen, Kneipensterben, verlassene und heruntergekommene Straßenzüge außerhalb der Zentren – um nur einige Erscheinungen zu nennen. Der Modernisierungsverlierer verzweifelt auf der Suche nach sich selbst und seinem Platz in der Welt. Tragische Figuren vieler Orten. Gleichzeitig aber die Angst der gut situierten Bürger vor den Armen und damit die Furcht, dem eigenen möglichen Scheitern ins Auge zu blicken, was alle bisherigen bürgerlich-selbständigen Ideale in Frage stellen würde. Beschleunigungsgesellschaft, radikale technologische Veränderungen, alles ist Markt, Konkurrenz, Ellenbogenmentalität. Wie soll man da auf Dauer zurechtkommen?
Auf die Frage des Interviewers Arno Widmann nach den Errungenschaften der Aufklärung, der Moderne und der Demokratie antwortet Pankaj Mishra: „Die Aufklärung ist nicht der Beginn der Demokratie. Sie ist der Beginn eines der radikalsten Prozesse der Menschheitsgeschichte: der Emanzipation des Einzelnen. Dieses Projekt wird von Minderheiten, von Einzelnen vorangetrieben […] immer einer Mehrheit gegenüber stehend.“
Auf das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück angesprochen: „Das war ein Versprechen an wenige […] Es waren die Forderungen einer kleinen, gut ausgebildeten männlichen Minderheit. Sie waren damals schon vermessen und man merkt es dem Pathos an, mit dem sie vorgetragen werden …“
Dass diese Errungenschaften so zweifelhaft herausgestellt werden, hört der vermeintlich aufgeklärte Mensch heute nicht so gerne. Mishra spricht von „Sicherheitsnetzen für den Einzelnen“, die es in einem herkömmlichen Gefüge noch gab, und wir sehen und erleben heute wie bei uns und vor allem in den zerfallenen Staaten und ausgebeuteten Ländern der Erde, dass diese Sicherheitsnetze möglicherweise für immer verloren sind.
Und letzte Zitate von Pankaj Mishra: „Wir haben es noch immer nicht verstanden, dass Modernisierung erst einmal heißt, Wurzel auszureißen. Jeder Einzelne muss mobil und mobil gemacht werden. – Die Wurzellosen sind eine leichte Beute für politische und religiöse Verführer. – Der Entwurzelte will wieder Wurzeln haben. Er sehnt sich nach einer Vergangenheit, die es niemals gab. So werden aus gefühlten Opfern häufig Gewalttäter und Bombenleger.“
Im ersten Kapitel seines Buches erwähnt Pankaj Mishra ausführlich den italienischen Dichter und Faschisten Gabriele D’Annunzio.
Dieser war ein Nationalist, dem es nicht gelang, die sozialen Vorgänge im frühen 20. Jahrhundert einzuordnen und zu reflektieren, was ihn schließlich zum Bewunderer und Gefolgsmann Benito Mussolinis machte. Für Mishra ist dieser dem Größenwahn erlegene „Führer der Unterdrückten“ ein exemplarischer Beweis für die geistige und politische Situation des damaligen Europa. Und folglich bezieht sich seine „Geschichte der Gegenwart“, wie der Untertitel des Buches lautet, auf eher untypische, gar marginale Ereignisse und Personen.
Seine Feststellung: „Schon seit der Französischen Revolution hatten frustrierte Männer gänzlich neue Formen der Politik entwickelt – vom Nationalismus bis hin zum Terrorismus“ ist an Pauschalierung kaum zu überbieten. Im Schnelldurchlauf lässt er das 19. Jahrhundert passieren. Den französischen General Georges Boulanger und den britischen Politiker Cecil Rhodes hält er dabei für erwähnenswert. Auf Denker wie Hegel, Feuerbach, Stirner, Marx, Engels, Saint-Simon, Smith oder Ricardo, welche den Wandel vom Feudalismus zum Frühkapitalismus am Übergang des 18. zum 19. Jahrhundert indirekt begleiteten oder ihm wesentliche Impulse gaben, geht er hingegen nicht näher ein. Deswegen fehlt seiner Gegenwartsbeschreibung eine Analyse der Bedingungen, die das hervorgebracht haben, was wir heute entweder als Fehlentwicklungen geißeln oder als Errungenschaften hochhalten.
Zwar trifft es zu, dass sämtliche Prozesse der wirtschaftlichen, speziell der industriellen Modernisierung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts diejenigen, die nicht davon profitierten, anfällig machten für Demagogen. Doch neben den Verführten und ihrem Hass auf konstruierte Feindbilder gab es auch Gegenbewegungen, die sich dem Humanismus, der Gerechtigkeit und der Solidarität verbunden fühlten und diese Tugenden propagierten. Sie sind bis heute nicht verschwunden, im Gegenteil!
Ein typisches Beispiel für Mishras Fehleinschätzungen ist der von ihm als lediglich herbeigeredet bezeichnete Antagonismus zwischen Islam und säkularer westlicher Welt. Islam bedeutet seiner Wortbedeutung nach Hingabe, nämlich die Hingabe des Menschen an einen geglaubten Gott, also jenem, der vom Propheten Mohammed offenbart worden war. Diese Religion entstand in einem bestimmten sozialen Umfeld, nämlich dem Arabien des siebten Jahrhunderts, das von autoritären Herrschaftsstrukturen, sich verschärfenden Stammeskonflikten und einem verbreiteten Polytheismus geprägt war. Der neue Glaube war, ganz im Sinn von Feuerbachs Religionskritik, ein Spiegel dieser Verhältnisse. Er setzte auf die Einheit der kernarabischen Völker, auf eine neue Alltagsethik und auf eine Erlösungshoffnung, die bewusst auf eine jenseitige Welt zielte. Denn die bestehenden Machtverhältnisse sollten selbstverständlich nicht angetastet werden. Daran hat sich im Prinzip bis heute wenig geändert.
Die Vorstellungen des Christentums von irdischer Welt und künftigem himmlischen Paradies waren durchaus ähnlich und sind vermutlich Vorbild gewesen. Schließlich beanspruchte diese Religion seit dem vierten Jahrhundert die Deutungshoheit in allen Fragen des Lebens. Und auch ihre Bindung an die Interessen der Herrschenden war vergleichbar. Im Gegensatz zur arabischen Welt traten aber im Laufe von Jahrhunderten die Widersprüche zwischen Glaubensanspruch und Glaubenswirklichkeit auf der einen Seite und die zwischen Herrschern und Beherrschten auf der anderen deutlicher zu Tage. Das christliche Abendland war politisch zerrissener als die arabische Halbinsel. Im Heiligen Römischen Reich sorgten bereits die Antipoden Papst und Kaiser für einen permanenten Konflikt, der von den unterschiedlichen Nationen sowohl verschärft als auch auf weitere Ebenen ausgedehnt wurde. Zusätzlich setzten die ökonomischen Veränderungen neue Akzente. Neben der Agrarwirtschaft gewann das Handwerk an immer größerer Bedeutung. Zudem waren beide auf den Handel angewiesen, der einen eigenen Stand, den der Kaufleute, hervorbrachte.
Als Martin Luther seine im Kern rein theologischen Forderungen an Kirche und Welt formulierte, gärte längst der Kampf zwischen leibeigenen Bauern und Grundherren und stellte auf seine Weise die überkommenen Vorstellungen in Frage.
Die Doppelkrise von Kirche und weltlicher Macht mündete schließlich in der Aufklärung und in der zunehmenden Bedeutung einer philosophischen Richtung, die neben der traditionellen Suche nach dem Sinn des Menschseins völlig neue Fragen stellte. Nämlich nach der Ordnung der Gesellschaft, nach formaler Gleichheit aller Bürger, nach Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen. Diese Entwicklung beschleunigte das Bewusstsein jener Schichten, denen bislang nur ein Leben als rechtlose Knechte und Mägde beschert war. Die Französische Revolution von 1789 war schließlich sowohl Schlussakkord der alten untergehenden Welt als auch der Beginn eines neuen Zeitalters.
Die neuen sozialen Bewegungen, die in ihrer Folge entstanden, fußten auf drei Quellen: Der klassischen deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie und dem französischen Sozialismus. Sie stellten die „Mächte des alten Europas“ in Frage. Und diese verbündeten sich „zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten“, wie es im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 heißt.
Die sozialistischen Ideen beschränkten sich zunächst auf das westliche Europa, griffen am Ende des 19. Jahrhunderts auf Russland über und lösten dort in mehreren Schritten eine von ihrem Umfang bislang nie da gewesene Revolution aus. Und sie strahlen bis zur US-amerikanischen Ostküste. Bis zum Ersten Weltkrieg zählte die Kommunistische Partei der USA zu den mitgliederstärksten in der Welt.
Wenig Resonanz hingegen erzielten sie in den feudalen Staaten Asiens und Afrikas, die zudem durch den Kolonialismus Großbritanniens, Frankreichs und des deutschen Kaiserreichs in ihren wirtschaftlichen Entwicklungen eingeschränkt wurden.
Die islamisch geprägte Welt wies ebenfalls kaum Affinitäten zu sozialistischen oder sozialdemokratischen Vorstellungen auf. Das änderte sich auch nicht nach dem Untergang des osmanischen Großreichs. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wagten zwei Länder einen Aufbruch: Ägypten und der Iran. Doch Ägyptens Staatschef Nasser stand seiner Lesart von Sozialismus mit seinem überbordenden Nationalismus und dem Festhalten am orthodoxen Islam selbst im Weg.
Der iranische Premierminister Mossadegh hingegen verwies den Islam ins Private, verstaatlichte die Erdölindustrie, scheiterte jedoch an der Angst der USA, einen wichtigen Erdöllieferanten zu verlieren. Zudem fürchteten die Vereinigten Staaten eine Allianz Persiens mit der Sowjetunion. Mohammad Reza Schah Pahlavi hielt zwar an den kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen fest, band jedoch durch die weiterhin strikte Trennung von Staat und Religion die aufstrebenden Schichten der Akademiker und Industriearbeiter an sich. Die an den religiösen Traditionen festhaltende Landbevölkerung fühlte sich als Verlierer der Modernisierung. Das zunehmend autoritärer agierende Schah-Regime ging gegen Konservative und Progressive gleichermaßen brutal vor. Die Opposition verband sich daraufhin mit dem fundamentalistischen Islam; letzterer trug 1980 unter Chomeinis Führung den Sieg davon.
Hier trifft Mishras These zu, dass Entwurzelte, die von der Moderne nicht profitieren, sich jedem Demagogen an den Hals werfen und zur Gewaltanwendung gegen jedermann bereit sind. Aber gleichzeitig analysiert er nicht die Rolle des religiösen Fundamentalismus, der quer durch die Historie der letzten 2000 Jahre ein genuiner Partner jedweder Diktatur war und geblieben ist. Gemeinsam instrumentalisieren solche Koalitionen soziale Bewegungen und neutralisieren sie dadurch. Hier erweist sich der Islam als eindeutig gefährlicher als der dogmatische Katholizismus, der allenfalls noch in Polen und Ungarn zu reüssieren vermag.
Vor allem verwundert es den informierten Leser, wenn Mishra meint, dass im Nahen Osten durch die Globalisierung Institutionen des Zusammenhalts zerstört wurden. Die Oligarchen des Westens verbünden sich nur allzu gern mit denen aus anderen Nationen. Ein besonders abschreckendes Beispiel dafür ist das Heimatland des Verfassers, nämlich Indien, wo der britische Imperialismus in neuen Kleidern wiederaufersteht. Hier wäre eine Revolution vonnöten, die alles in Frage stelle, nicht zuletzt auch das Kastenwesen. Doch ausgerechnet hier scheint Mishra schützenswerte Institutionen des Zusammenhalts ausgemacht zu haben. Ähnlich wie in den patriarchalischen Familienstrukturen der islamischen Welt.
Auf den über 400 Seiten des Buchs habe ich keinen Hinweis auf die „Kritische Theorie“ und ihre Rezeption in Asien und Afrika gefunden. Die Globalisierung scheint sehr einseitig zu verlaufen. Es geht ausschließlich um Profit, Konsum von mehrheitlich verzichtbaren Gütern, um Ressourcenvernichtung und um politischen Einfluss. Der Rest dessen, was die Welt, nicht zuletzt Europa, hervorgebracht hat, wird dem Schweigen überantwortet.
Die sozial Benachteiligten und die um ihren bescheidenen sozialen Status Besorgten stehen zweifellos weltweit im Bann des Zorns; dies gilt erst recht in den so genannten Entwicklungs- und Schwellenländern. Statt sich zu empören und zu widerstehen, lassen sich viele, zu viele, von blindem Hass leiten und verstoßen dadurch gegen ihre eigenen Lebensinteressen. Da sie zur Bildung humaner sozialer Theorien entweder unfähig sind oder daran massiv gehindert werden, binden sie sich an doktrinäre Ideologien, sei es faschistische oder religiöse oder sogar an beide. Pankaj Mishra klärt uns über diese Fehlentwicklungen leider nicht auf.
Arno Widmann: Woher kommen diese Ähnlichkeiten?
Pankaj Mishra: Es sind sich wiederholende Konstellationen. Wenn wirtschaftliche Krisen, politische Unzufriedenheit, wenn Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit zusammenkommen, dann entsteht eine Situation, in der Sündenböcke gesucht und geschlachtet werden. Das hat wenig mit religiösen Auffassungen und auch nichts mit Volkszugehörigkeiten zu tun. Es sind soziale Bedingungen, die emotionale Situationen schaffen, in denen Menschen, die noch vor kurzem friedlich nebeneinander lebten, Kriege gegeneinander führen. Wir beobachten das zur Zeit überall auf der Welt.
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Ich gebe Mishra darin recht, dass wir nur zum Teil so frei sind, wie wir uns fühlen. Aber wir sind nicht nur Marionette nur eines Spielers, Mishra nennt es soziale Situation und meint damit aber im Wesentlichen die wirtschaftliche. Seine „sozialen Bedingungen, die emotionale Situationen schaffen“ sind grandios formuliert, aber er sieht nicht, was diese Bedingungen alles umfassen. Zu diesen Bedingungen gehören die elterliche Traditionen, wie die Sprache, durch die wir die Welt wahrnehmen, genauso wie die Religion mit ihren Tabus und Zielsetzungen, ohne deren unbewusste Aufnahme und ziemlich getreue Weitergabe die Akkumulation und Evolution der Kulturen nicht möglich gewesen wäre. Wir begehren zwar in der Jugend auf, aber wenn wir später ein Resümee ziehen, können wir nur feststellen, dass wir im Effekt eine große Scheu haben, etwas anders zu machen als unsere Eltern – Kultur ist ein sehr großer Dampfer, der nicht so schnell schwenkt.
Um seine Fehlinterpretation an einem Beispiel zu zeigen:
„Es gibt keine Alternativen mehr, in der Menschen sich organisieren, entfalten oder auch nur unterhalten können. Vielerorts sind sogar öffentliche Plätze, auch die kleinsten Versammlungen verboten worden. Wie sollen junge Männer in so einer Welt zu Individuen werden? Sie werden es durch Akte spektakulärer Gewalt.“ (Mishra)
Ich stimme zum Teil mit dieser Analyse überein, aber es gibt sehr große Unterschiede in der Reaktion, für die es auch eine Erklärung gibt: Die Eskimos kommen aus einer friedlichen, animistischen Tradition, ihre Götter waren Personifizierungen der Naturgewalten und ein Herrschaftsauftrag war den Eskimos fremd wie das Patriarchat, diese Kultur war eher eine Anpassung an ein überlebensfeindliches Rückzugsgebiet als ein Kult. Ein Rücksprung in die Kultur der Eltern ist dort nicht mehr möglich, weil diese Kultur weniger in Kult als in einer Lebensweise bestand, die man nur beherrscht, wenn man sie von klein auf übt. Die Gewalttaten, die dort bei der kulturellen Entwurzelung entstehen, sind Selbstmorde. Diese kleinen Orte, in denen jeder jeden kennt und jeder mit jedem spricht, haben die höchsten Selbstmordraten auf diesem Globus.
Der Rücksprung in in die elterliche Kultur, wenn man die Entwurzelung spürt, erscheint dagegen möglich, wenn diese Kultur sich über den Kult definierte, z.B. den Kult für einen Herrschergott, der auch den Auftrag zur Beherrschung der Welt erteilt hat, das ganze gespiegelt und verstärkt durch stark patriarchalen Familienstrukturen. Wenn ich hier den Versuch des Rücksprunges mache (Die Salafiyya ist explizit eine geistige Rückbesinnung auf die „Altvorderen“), lande ich automatisch wieder bei Herrschaftsanspruch, Krieg und im Fall der militärischen Unterlegenheit beim Märtyrium im Attentat.
Wie Mishra richtig feststellt, handelt es sich hier nicht um intellektuelle Reaktionen, sondern um Reaktionen aus emotionalen Situationen. Aber die Beteiligung der elterlichen Kultur an diesen emotionalen Situationen zu bestreiten, ist Unsinn, sein Modell menschlichen Verhaltens ist zu schlicht.
Darauf dass damit auch Mishras Religionsmodell zu schlicht ist, sei nur ganz kurz noch kurz hingewiesen: Religionen bieten mehr als einen sozialen Zusammenhalt. Im schlimmsten Fall transportieren sie sowohl Herrschaftsanspruch und -Methode für sich selbst als auch einen für ihre Träger – Apostaten werden dann mit dem Tod bestraft. Wer meint, das hätte keine Auswirkungen auf emotionale Situationen, sei nur auf den Begriff Gottesfurcht verwiesen – in stärker gläubigen Traditionen als der heutigen europäischen ist diese Gottesfurcht durchaus existenziell.
„Islam bedeutet seiner Wortbedeutung nach Hingabe, nämlich die Hingabe des Menschen an einen geglaubten Gott, also jenem, der vom Propheten Mohammed offenbart worden war. Diese Religion entstand in einem bestimmten sozialen Umfeld, nämlich dem Arabien des siebten Jahrhunderts, das von autoritären Herrschaftsstrukturen, sich verschärfenden Stammeskonflikten und einem verbreiteten Polytheismus geprägt war.“ (Klaus Philipp Mertens)
@ Klaus Philipp Mertens:
Das ist die offizielle arabische Geschichtsschreibung, die aber von immer mehr Historikern, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, abgelehnt wird – Günter Lüling wird immer mehr rehabilitiert und die „Saarbrücker Schule“ (Inarah) steht da nicht mehr isoliert. Weil das hier OT ist, nur Links:
http://inarah.de/sammelbaende-und-artikel/inarah-band-5/vor-und-fruehgeschichte-des-islam/
Wer viel Zeit hat, kann sich auch diese detaillierteren Zusammenschauen mit unterschiedlichen Schwerpunkten ansehen:
http://inarah.de/sammelbaende-und-artikel/inarah-band-4/geschichte-rueckwaerts-gelesen/
http://inarah.de/sammelbaende-und-artikel/inarah-band-6/grodzki-iii-zur-heutigen-situation-der-islamwissenschaften/
Ich schließe mich der Kritik von Klaus Philipp Mertens an Pankaj Mishra („an Pauschalierung kaum zu überbieten“) an, ebenso der von Frank Wohlgemuth („sein Modell menschlichen Verhaltens ist zu schlicht“).
Zu seiner Kritik an der „Aufklärung“:
Wenn Pankaj Mishra den Zusammenhang von Aufklärung und Demokratie als “ völlig aberwitzige Vorstellung“ abtut, dann hat er offenbar noch nichts von z.B. Montesquieu und von Gewaltenteilung als Grundprinzip der Demokratie gehört.
Der oben genannten Kritik wäre zudem hinzuzufügen, dass er völlig ahistorisch denkt und argumentiert. So etwa in folgender Behauptung:
„Die meisten hatten wenig im Sinn mit der Demokratie. Sie liefen despotischen Tyrannen wie Friedrich II. von Preußen oder gar Katharina von Russland hinterher und hofften, sie von ihren Ideen zu überzeugen.“
Herr Mishra wäre danach zu fragen: Welche zur Zeit der Aufklärung existierende Demokratie hätten die Aufklärer denn im Sinn haben können? Stellte doch selbst die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 erst den Beginn eines demokratischen Prozesses dar.
Und wenn es – zeitbedingt – natürlich auch Illusionen von „aufgeklärtem Absolutismus“ gegeben hat, so belegt dies in keiner Weise, dass die Aufklärer – beispielsweise Diderot – „despotischen Tyrannen (…) hinterher gelaufen“ wären. In einer Zeit, in der es keinen freien Buchmarkt und keine Möglichkeit gab, als „freier Schriftsteller“ seine Existenz zu bestreiten (erst bei Lessing gab es – immer noch mit der Absicherung als Bibliothekar in Wolfenbüttel – dazu bescheidene Ansätze), war Abhängigkeit von Mäzenatentum eine Überlebensfrage.
Welchen Drahtseilakt die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts unter feudalen Bedingungen darstellte, zeigt sich an Diderot exemplarisch. So, wenn ein Teil der „Encyclopédie“ aus Gründen der Zäsur in der Schweiz erschien und mühsam seine Verbreitung erfuhr. Wobei gerade dieses Projekt – die Demokratisierung des Wissens – als ein Meilenstein zur demokratischen Entwicklung anzusehen ist.
Ebenso scheint Herr Mishra nicht begriffen zu haben, dass – nach Marxscher Begrifflichkeit – die „Kritik des Himmels“ (also Religionskritik) der „Kritik der Erde“ vorausgehen musste und ebenso eine bedeutende Komponente auf dem Weg des „Ausgangs des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit“, also demokratischer Entwicklung darstellt: als Kritik an einer der wesentlichen ideologischen Säulen des Feudalismus. Auch dies eine der Hauptleistungen der Aufklärung. Wie gefährlich dies war, zeigt sich auch an Diderot, der den bloßen (nicht unrichtigen) Verdacht des „Atheismus“ in „Lettre sur les aveugles“ immerhin mit Festungshaft bezahlte.
Auf die Verkennung des „Herrschaftsanspruchs“ von Religion in Mishras „zu schlichtem Religionsmodell“ hat Frank Wohlgemuth bereits hingewiesen.
Zu ergänzen wäre dies durch eine Analyse, welche politische Folgen sein Versuch, Aufklärung von Demokratie zu trennen, zeitigt. Nach meinem Eindruck trägt seine aufklärungsfeindliche Einstellung auch demokratiefeindliche Züge. Erkennbar etwa daran, „Akte spektakulärer Gewalt“ in muslimischen Ländern als notwendigen Effekt der Globalisierung überhaupt zu verallgemeinern.
Seine pauschalisierende Kritik zielt damit gegen den universalen Anspruch von Menschenrechten und zumindest mittelbar gegen Demokratie. Eine Kritik, die von autokratischen Herrschern in Form des Vorwurfs eines Hegemonialanspruchs „des Westens“ (oder der „Einmischung in innere Angelegenheiten“) nur zu gerne aufgegriffen wird.
Die Aggressivität gegen aufklärerisches Denken zeigt hier – in der Mischung mit recht eingängigen Formulierungen – wohl erst seine Virulenz.
Wir sollten uns von Herrn Mishra den berechtigten Hinweis auf aufklärerische Traditionen nicht madig machen lassen.
Bronski hat in seinem Intro zu „Die Überforderung des Einzelnen“ geschrieben, dass mich das Interview mit Pankaj Mishra sehr bewegt hat. Das stimmt weiterhin.
Gleichzeitig kann und will ich den verschiedenen Kritiken oben (Klaus Philipp Mertens, Frank Wohlgemuth und Werner Engelmann) an Mishras Denken bzw. seinen historisch-philosophischen Ansätzen auch nicht widersprechen. Jedenfalls kann ich im Moment nicht in und aus der Fülle der Kommentare darauf eingehen. Was banalerweise daran liegt, dass ich zur Zeit in den Niederungen des Sportvereinslebens mit einer umfangreichen Chronik und Jubiläumsschrift beschäftigt bin, also die Tiefe des nachdenklichen Arbeitens sich in Grenzen hält. Im Buch von Mishra bewege ich mich deshalb auch erst noch im 1. Kapitel.
Ich habe mich mit den Kommentaren obenstehend auch soweit auseinandergesetzt (da sie auch dezidiert und anregend sind), dass mir dazu folgende Gedanken gekommen sind:
Mishras recht eigenwillige, aber für mich nicht ganz von der Hand zu weisenden Thesen, können zumindest provozierend dazu führen, Grenzen unseres selbstverständlichen europäischen Denkens (auch Grenzen der Aufklärung in den Turbulenzen einer gewaltgeprägten und – meiner Meinung nach – von kaum wiederherstellbaren alten Einheiten und Grenzen in der Welt) zu erkennen. Spontan denke ich an den Eurozentrismus, also an die fast unumstößliche Vorstellung, dass alle wichtigen Werte und Normen von Europa, von Europäern kommen, usw.
„Wir sollten uns von Herrn Mishra den berechtigten Hinweis auf aufklärerische Traditionen nicht madig machen lassen.“ (Werner Engelmann).
Ich glaube nicht, dass es darum geht und ich stelle die Leistungen der Aufklärung auch nach dem bisher Gelesenen von Mishra nicht in Frage. Aber es stellen sich schon auch neue Fragen.
Irgendwie liegt in (den Ideen) der Aufklärung auch ein Grad an Überschätzung (Freiheit und das Streben nach Glück etwa). Dann dieser Pathos, mit dem diese Errungenschaften oder auch Ideen vorgetragen werden (Mishra) bis heute. Ich persönlich finde es teilweise anmaßend, mit welch einer Beharrlichkeit wir auf unserem Lebensstil im Westen bestehen, der so Vieles anderswo in der Welt zerstört hat und in der auch eine Brutstätte des Hasses und des Terrors der Islamisten liegt.
Aber zurück zum Thema Aufklärung und das postmodern vereint mit dem globalen Kapitalismus und der Überforderung des Einzelnen, was mein eigentlicher Ausgangspunkt meiner Grundgedanken war. Und hier muss man auch erkennen, dass die Aufklärung nicht mehr alle brennenden Fragen der Zeit lösen wird.
Ich will da auch nicht einen neuen Pathos in den Ring der Debatte werfen. Aber die Herausforderungen an den „Modernen Menschen“ heute führen zu ganz deutlichen Überforderungen des Einzelnen, die der weitestgehend gebildete Europäer, der inzwischen auch formbare digital kompetente Mensch vielleicht nur müde belächeln mag. Aber da bin ich näher an dem Leiden der Entwurzelten, mit den Verlusten an Solidarität, Gemeinwesen, Zugehörigkeit, Anerkennung, Kontinuität (darin bin ich ziemlich altmodisch).
Ich sehe nicht, dass Mishra völlig ahistorisch denkt und argumentiert (W.Engelmann). Aber die Denker wie Hegel, Feuerbach, Marx, Engels oder Smith (K.P.Mertens)finden kaum Erwähnung, ja.
Den Zusammenhang von Aufklärung und Demokratie mag man wohl schwerlich trennen können. Aber mit seiner Kritik an der „Aufklärung“ (die uneingelösten Versprechen …) kann man sich schon auseinandersetzen.
Olga Martynova spricht in ihrem heutigen Essay zum Buch von Pankaj Mishra u.a. von „unlösbaren Widersprüchen“ des (heute) im Lebenskampf stehenden Menschen der Zukunft …
Sicherlich hat Mishra einen besonderen biographischen und von Europa distanzierteren Hintergrund, was sein Denken bestimmt hat. Wenn man ihn einen großen Intellektuellen des modernen Asiens nennt, dann erklärt es bestimmt einiges seiner Denke. Das muss aber deshalb nicht defizitär sein. Mishra selbst bezeugt ja weitgehend europäisch und amerikanisch gesprägt zu sein und gesteht auch sein Gespaltensein (bei Essay Olga Martynova). Das Gespaltensein kann auf jedenfall zu blinden Flecken mit Blick auf das eigene Herkunftsland (Indien) führen (Klaus Philipp Mertens spricht ähnliches in seinem Kommentar vom 16.07. an). Aber es gibt auch dieses produktive Moment des Denkens zwischen den Stühlen.
Kurz und gut für diesen Teil meiner Rückmeldung: Die Mängel seines Denkens, die hier und inzwischen andernorts Pankaj Mishra vorgehalten werden, sind lesenswert. Aber Mishras Denken ist auch nachdenkenswert.
Man darf dranbleiben.
@ Jürgen Malyssek, 19. Juli 2017 um 13:50
Lieber Herr Malyssek,
Zugegeben: auch mich hat das Interview von Pankaj Mishra zunächst angesprochen – solange es im verallgemeinernden Passiv oder der verführerischen wir-Form verblieb. Umso ernüchternder die Erkenntnis, dass er, sobald er konkret zu werden versucht, nicht einmal in Ansätzen hält, was er verspricht. Eben das, was er der Aufklärung vorwirft.
(Vorneweg: Ich habe das Buch von ihm nicht gelesen, beziehe mich also allein auf seine Aussagen im Interview.)
Zunächst: Ich halte einen fremden Blick auf unsere Wirklichkeit prinzipiell für bereichernd.
Beispiel: Hölderlin-Bild. Dies wurde jahrzehntelang in Deutschland vom Eindruck des Dunklen, Irrationalen bestimmt – bis der französische Germanist Pierre Bertaux ihn als Jakobiner und seinen Wahnsinn als Verzweiflung an der Welt infolge der realen Entwicklungen der französischen Revolution auswies.
Eine solche Bereicherung setzt aber intensive Kenntnis der Sache, vor allem der Kernaussagen und deren Zusammenhänge voraus. Was ich bei Herrn Mishra, zumindest bezüglich seiner Behauptungen über Aufklärung, bezweifle.
Dazu also zunächst eine Zusammenfassung der wichtigsten Leistungen der Aufklärung als Wegbereiter der Demokratie:
(1) Rationales Hinterfragen der feudalen Ständegesellschaft, Erschütterung von deren ideologischen Säulen durch Religonskritik
(2) Emanzipation des Individuums gegenüber der Gesellschaft („Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“, „Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“)
(3) Ausrichtung der Gesellschaft und des Menschenbilds („Natur“-Begriff) auf Universalismus
(4) Schaffung einer rationalen Grundlage für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft („Contrat social“)
(5) Entwurf eines funktionierenden Modells für demokratische Kontrolle (Montesquieu: Gewaltenteilung)
Zu meiner Kritik von Pankaj Mishra als „ahistorisch“:
Eine historisch korrekte Auseinandersetzung hat zunächst zwischen (a) der Sache selbst, hier: der Aufklärung und ihrer konkreten Entstehungsbedingungen einerseits und (b) deren späterer Rezeption präzise zu unterscheiden.
Hier liegt wohl der Hauptfehler von Herrn Mishra: Aufklärung ist kein „Versprechen“, wie er behauptet. Es ist einerseits eine Methode kritischen Hinterfragens, das weiter zu entwickeln ist und historisch auch immer mehr Bereiche erfasst. Andererseits ein historischer Prozess, der mit der Bewegung, die wir „Aufklärung“ nennen, erst in Gang gesetzt wurde.
Zu (a) Entstehungsbedingungen:
Natürlich ist auch die Aufklärung mit zeitbedingten Beschränkungen behaftet. Die wichtigste wohl die Reduktion des Menschenbilds auf das des bürgerlichen Individuums („tiers état“). Ein „vierter Stand“, der sich in der Revolution etablierte, kommt hier nicht in den Blick, schon gar nicht die Emanzipation in einer Sklavenhaltergesellschaft. Dementsprechend sagt die Kritik an Thomas Jefferson über die Bedeutung der Aufkärung für Demokratie nichts aus.
Zu (b) Rezeption:
Ein anderer Kritikpunkt ist das einseitig rationale Menschenbild, das ja schon im „Sturm und Drang“ und endgültig in der Romantik zu irrational bestimmten Gegenbewegungen führte, die im Nationalismus gefährliche Virulenz entfalteten.
Verheerend etwa die Pervertierung der Idee der „volonté générale“ schon in der französischen Revolution zu Zwecken des Terrors und damit des geraden Gegenteils des Rosseauschen Ideals.
Und aktuell besonders bedenklich, wenn ein solch diffuser Begriff von „Volkswille“ in „populistischen“ Vorstellungen von Volksabstimmungen als vermeintlicher Weisheit letzter Schluss wieder auftaucht – mit sehr eindeutiger Zielrichtung: der Beseitigung des demokratischen Prinzips der Gewaltenteilung.
Besonders für den katholischen Bereich wäre auch noch die Pervertierung des „Natur“begriffs zu dogmatischen Zwecken zu nennen, etwa bez. Empfängnisverhütung und Abtreibung, aber auch – ganz aktuell – bez. des „Ehe“begriffs.
(Anm.: Schon in Goethes „Werther“ ist dieses bürgerliche Verständnis prinzipiell hinterfragt. Und Napoleon, der in seinen Schlachten ein Exemplar des „Werthers“ in der Brusttasche trug, hat dessen revolutionären Inhalt sehr wohl verstanden.)
Diesen ganz oder teilweise pervertierenden Rezeptionen stehen im positiven Sinn Weiterentwicklungen gegenüber, die „Aufklärung“ richtig als historischen Prozess begreifen, der noch keineswegs abgeschlossen ist. Insbesondere in der Kodifizierung der „unveräußerlichen Menschenrechte“, basierend auf der Idee des „Naturrechts“ (Nr. 3). Diese sind zugleich Ausdruck ihrer Universalität, die sich partikularistischen Ideen, insbesondere Nationalismen aller möglichen Schattierungen entgegen stellen.
Dies ist wohl der entscheidende Aspekt, weshalb an einer positiven Rezeption von „Aufklärung“ unbedingt festgehalten werden muss: Weil dieser universale Ansatz der einzige ist, der ohne Diskriminierungen auskommt, der – sofern die Praxis sich danach richtet – gesellschaftliches Miteinander unter dem Aspekt einer Win-win-Situation begreift und niemanden ausschließt. Demnach alleine als Basis für demokratische Entwicklungen auch in anderen Ländern in Frage kommt.
Ich kann nicht einen Ansatz von Kritikern des „Eurozentrismus“ erkennen, der solches zu leisten imstande wäre oder dies überhaupt nur beabsichtigt.
Es kann kein Zweifel bestehen, dass wir in einer gesellschaftlichen Situation des realen Casino-Kapitalismus Pervertierungen gewaltigen Ausmaßes im Weltmaßstab erfahren. Dass Standards „westlicher Werte“ nicht eingehalten werden.
Das hat sicherlich etwas mit „Globalisierung“ zu tun, mit „Aufklärung“ im oben genannten Sinn dagegen nichts. Auch Ihre – im Prinzip richtige – Kritik an „westlichem Lebensstil“ liegt auf einer ganz anderen Ebene.
Zugleich leben wir in einer Zeit der Gegenaufklärung: der nationalistischen Aufwallungen à la Trump und Möchtegern-Diktatoren. Die „Eurozentrismus“ sagen und Abschaffung der Menschenrechte meinen. Denen jeder Universalismus ein Dorn im Auge ist und die ihre Angriffe gegen demokratische Institutionen unter Schlagworten wie “ nationale Souveränität“ verstecken.
Pankaj Mishra vermischt die vorgenannten Ebenen. Seine Aussagen über „Modernisierung“, über die „Entwurzelten“ sind diffus, aus dem konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang (etwa in den genannten Ländern) herausgerissen. Sie enden dementsprechend in völligem Pessimismus. Und ich kann nicht den geringsten Ansatz einer Alternative erkennen.
Man könnte auch sagen, dass er mit seinem Ansatz einer verallgemeinernden, ahistorischen Kritik an „Aufklärung“ – sicherlich wider Willen – der Rechtfertigung solcher Zustände dient. Und ich befürchte, dass er zu solchen Zwecken auch benutzt werden wird.
Lieber Herr Engelmann,
ich melde mich morgen nachmittag zurück zum Thema. Es klappt heute nicht mehr.
Lieber Herr Engelmann,
danke für Ihre Rückmeldung. Ich kann grundsätzlich und auch Ihren einzelnen Argumenten pro Aufklärung nicht groß etwas dagegen halten. Und darum geht es mir sowieso nicht. Denn auch ich bin ein „Freund“ der Aufklärung. Aber P. Mishra hat uns trotzdem auch einige Hürden in den Weg gestellt, unseren europäischen Vorstellungen und zumindest die Folgen der Aufklärung mit Ambivalenz zu betrachten.
Damit meine ich – und das ist der eigentliche Ausgangspunkt der Debatte – seine im besagten Interview geäußerte Kritik an der Moderne, der Modernisierung in der Folge der Aufklärung. Und ich habe zugegebenermaßen den Fokus besonders auf „Die Überforderung des Einzelnen“ und „Die Entwurzelung“ gelegt. Bei den Fragen an Mishra – und das sollten wir nicht vergessen – ging es auch um die nach den Ursachen des Hasses, des Terrors und des Zorns („Das Zeitalter des Zorns“. Eine Beschreibung der Gegenwart).
So ist es selbstverständlich und wichtig, die AUFKLÄRUNG zu verstehen (da haben Sie, Klaus Philip Mertens und Frank Wohlgemuth wesentliches aufgelistet). Es geht aber auch darum EUROPA zu verstehen und die Zumutungen der MODERNE wahrzunehmen. Natürlich ist auch die DEMOKRATIE nicht von der Aufklärung zu trennen. Aber ich verstehe die Aussage von Mishra nicht nur als eine Ablehnung dieses Zusammenhangs, sondern auch als die Beschreibung der anderen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge in den Zeiten der Aufklärung.
Um an dieser Stelle soweit abzuschließen: Die Errungenschaften der Aufklärung sind nicht anzuzweifeln. Aber wir haben in der Folge der Zeiten Entwicklungen, die nicht nur die Errungenschaften erschüttern – eben bis zu heutigen Tagen mit einem Zustand des Kapitalismus („freies Spiel der Kräfte“)-, die alles andere als zur Mündigkeit, Urteilskraft, Gerechtigkeit oder Menschlichkeit geführt haben, sondern auch eine Öffnung der Welt in eine grenzenlose Herrschaft der Ökonomie und der Besitzenden.
Und hier sehe ich die Hauptargumente von Mishra geortet: Kritik der Modernisierung und Globalisierung. Nicht aber die Aufklärung als deren Ursache, sondern als eine Folgemöglichkeit. Wir wissen auch nicht, wie es ohne Hegel, Marx, Engels, Kant oder Smith geworden wäre?
Sie haben ja auch gesagt, dass Sie einen fremden Blick auf unsere Geschichte und Wirklichkeit prinzipiell für bereichernd halten. Das ist mit ein Grund, warum mich Mishras kühne und unpräzisen Thesen („Globalisierung schafft zu viele Verlierer!“ – „Die Aufklärung ist nicht der Beginn der Demokratie. Sie ist der Beginn eines der radikalsten Prozesse der Menschheitsgeschichte: der Emanzipation des Einzelnen. […]“)auch angesprochen haben.
Und Sie sprachen u.a. zurecht als Kritikpunkt ((b) Rezeption) der Aufklärung, das „einseitig rationale Menschenbild“ an, was wiederum zu unsäglichen Gegenbewegungn führte (etwa Nationalismus).
Ich schiebe an dieser Stelle ein für mich „leuchtendes“ und aktuelles Paradebeispiel für die Fehlleitungen der Glücksversprechen der Moderne und den Freiheits- und Glücksbestrebungen ein: Das ist die Entwicklung und Etablierung von Silicon Valley – ein ökonomisches Imperium, weit entfernt von einer demokratischen (Welt-)Veranstaltung.
Aber auch hier kann man nicht einfach sagen, dass die Hippies und Freaks der Westküsten-Revolution das verursacht haben. Es passierte im folgenden Rausch des amerikanischen Traums auf einer neuen revolutionären chaotischen Stufe dieser Epoche.
Ich sehe übrigens auch die Gefahr, die Sie am Schluss ihres Kommentars (19. Juli)äußern, „dass Mishra mit seinem Ansatz einer […]Kritik an „Aufklärung“ der Rechtfertigung destruktiver pessimistischer Ideologien Stoff liefern könnte. Die Kurzdenker sind allgegenwärtig. Ansonsten ist eine skeptische bis pessimistische Weltsicht zwar nicht sehr aufbauend, aber durchaus berechtigt.
Ein Zitat aus Hannah Arendts „Vita Activa – oder: vom tätigen Leben“ (1960): „Es ist durchaus denkbar, dass die Neuzeit, die mit einer so unerhörten und unerhört vielversprechenden AKTIVIERUNG aller menschlichen Tätigkeiten begonnen hat, schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.“
@ Jürgen Malyssek, 23. Juli 2017 um 1:12
Lieber Herr Malyssek,
ich habe den Eindruck, dass wir uns langsam doch den entscheidenden Fragen nähern.
Zunächst: Ich habe keine Einwendungen gegen Ihre Ausführungen, nur Vorschläge der Präzisierung und Weiterentwicklung.
Vielleicht können wir uns zunächst darauf einigen, dass Mishra von einer richtigen Problemstellung ausgeht, den problematischen Auswirkungen von „Modernisierung und Globalisierung“, dies aber mit den falschen Mitteln, einer undifferenzierten „Aufklärungs“-Kritik verfolgt, mit der Gefahr, von den Falschen für sich okkupiert zu werden.
Doch auch aus falscher Analyse kann ein richtiger Kern herausgeschält werden, was ich im Folgenden versuchen möchte. Der Weg dazu ist, (wie ich bereits vorgeschlagen habe), zwischen den historischen Bedingungen (Aufklärung damals und heute) zu unterscheiden, die widersprüchlichen Formen der Rezeption zu verfolgen und entsprechend praktische Konsequenzen daraus zu schließen.
(1) Hauptwidersprüche der historischen Aufklärung:
Allen historischen Erscheinungsformen sind (nach Hegel) Widersprüche immanent.
(a) Der erste Hauptwiderspruch der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts bestand darin, nicht ausreichend zwischen den unterschiedlichen Sphären individueller Emanzipation, zwischen „bourgeois“ und „citoyen“ zu unterscheiden. Das konnte auch nicht anders sein, da der „bourgeois“ bereits seit der „Hanse“ in voller Entwicklung war und expandierte, während der „citoyen“ nur als Idee vorhanden war und erst mit der französischen Revolution die Möglichkeit erhielt, sich zu entfalten.
(b) Der zweite Hauptwiderspruch (von mir bereits ausgeführt) bestand einerseits im bloß rationalistischen, andererseits im einseitig optimistischen Welt- und Menschenbild (vgl. Leibniz: „die beste aller Welten“).
Diese Hauptwidersprüch bestimmen schon sehr früh Gegenbewegungen einerseits, in sich widersprüchliche Rezeptionsformen andererseits.
(2) Gegenbewegungen zur Aufklärung:
Die Gegenbewegungen setzen schon während der Revolution, mit dem Terror unter Robbespierre ein. Sie manifestieren sich geistesgeschichtlich im antirationalen, zur Mystik neigenden romantischen Weltbild, das sich zudem rückwärts, an mittelalterlichen Identifikationsmustern orientiert. (Das auch erkenntnistheoretische Bedeutung besitzt, denn ohne die Romantik wäre die heutige Psychologie nicht denkbar.)
Politisch in anti-kosmopolitischen, nationalistischen Bewegungen. Diese haben zwar, in der Wendung gegen totalitäre Fremdherrschaft (Befreiungsbewegungen) auch positive Bedeutung, zeitigen aber mehr und mehr ihre irrationalen und destruktiven Kräfte, bis hin zum 1. Weltkrieg. (Die NS-Herrschaft möchte ich, da sehr vereinfachend, hier nicht als direkte Folge aufzählen.)
(3) Widersprüchliche Rezeptionen der Aufklärung:
(a) „Befreiung“ des „bourgeois“:
Die Befreiung des „bourgeois“ von feudalen Fesseln ist zunächst einmal konstitutiv für ökonomischen Aufschwung in nach-napoleonischer Zeit, auch für die einsetzende industrielle Revolution. Das Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts beruft sich zunächst insofern zurecht auf „Aufklärung“, als dies AUCH aufklärerischen Vorstellungen entspricht. Es wird aber – in der Entwicklung zum Kapitalisten – in zunehmendem Maße zu dessen Usurpator, indem sie diese „Befreiung“ auf Besitzende von Produktivvermögen reduziert, zugleich aber die Befreiung des „citoyen“ aus der nicht-besitzenden Klasse nicht nur verhindert, sondern diesen auch seinen egoistischen Zwecken unterwirft.
„Aufklärung“ in der ursprünglich intendierten Form wird in dieser Weise rückgängig gemacht. Habermas spricht (in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“) dementsprechend auch von einem Prozess der „Refeudalisierung“ der bürgerlichen Beziehungen.
Karl Marx hat, insbesondere im „Kapital“, diesen Prozess umfassend analysiert und in den Auswirkungen beschrieben. Ein Verständnis europäischer (und auch weltweiter) Sozialgeschichte ist ohne dessen Berücksichtigung undenkbar.
(b) „Befreiung“ des „citoyen“:
Im Widerspruch zu der genannten zunehmenden Zurückdrängung genuin aufklärerischen Gedankenguts steht deren Fortentwicklung im Zuge zunehmender Emanzipation des Individuums als politisches Wesens – auch unter kapitalistischen Verhältnissen –
(α) auf politischer Ebene durch die Gewerkschaftsbewegung und Erstarken der Sozialdemokratie,
(β) auf rechtlicher und universeller Ebene durch Kodifizierung und Erweiterung der „universalen Menschenrechte“.
In dem Maße, in dem Kapitalfraktionen sich politische Institutionen unterwerfen und demokratische Entwicklungen verhindern (insbesondere in Bündnissen mit totalitären Bewegungen, vgl. „Harzburger Front“) wird diese Weiterentwicklung von „Aufklärung“ zur einzig legitimen Form der Rezeption.
(4) „Aufklärung“ und Globalisierung:
Globalisierung kann nur in einer sehr mittelbaren Weise mit „Aufklärung“ in Zusammenhang gebracht werden, insofern, als Globalisierung unter den Bedingungen von „Neo-Liberalismus“ (oder „Turbo-Kapitalismus“) längst schon auf deren Pervertierung ausgerichtet ist.
Erfahrbar ist dies
(a) ökonomisch durch die Ausbeutung ganzer Weltregionen und Kontinente durch internationale Konzerne und Monopolisten (nicht: durch Europa!)
(b) politisch durch zunehmende Zerstörung demokratischer Prinzipien und Umsichgreifen totalitärer Herrschaftsformen unter nationalistischen Autokraten,
(c) gesellschaftlich durch Infragestellung und Zurückdrängung universeller Menschenrechte.
(5) Aufklärung unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung:
„Globalisierung“ ist ein notwendiger Entwicklungsprozess, bedingt sowohl durch demografische als auch klimatologische sowie ökonomische Faktoren. Insbesondere Umweltprobleme sind ohne globalisierte Strukturen nicht mehr lösbar.
Problematische Folgen dieser Entwicklung unter den Bedingungen turbokapitalistischer Herrschaftsverhältnisse und zunehmend totalitärer Herrschaftsformen der „Globalisierung“ an sich zuzuschreiben (oder gar – so Mishra – mit Folgen von „Aufklärung“ zu verwechseln) geht völlig an der Sache vorbei.
Die Problematik eines Kampfes für „Gerechtigkeit“ in globaler Hinsicht liegt in der fast unauflösbaren Verquickung von ökonomischen, politischen und psychologischen Herrschaftsformen.
Völlig absurd wird es, wenn der Übelste der Kapitalisten in Gestalt eines Donald Trump nach der ökonomischen auch die (fast) totale politische Macht an sich reißen und mit Methoden, die in jeder Hinsicht das Gegenteil von „Aufklärung“ darstellen, Herrschaft über Hirne ausüben kann.
Mit Hinweisen auf pathologische Formen der Herrschaftsausübung ist es nicht getan, noch weniger wird mit Gewaltaktionen erreicht werden können.
(6) Lösugsansätze:
Der einzig gangbare Weg scheint mir der zu sein,
(a) mit Konsequenz und Hartnäckigkeit das legitime aufklärerische Erbe zu verteidigen und weiter zu entwickeln, insbesondere unter den Aspekten von „universalen Menschenrechten“ und von „Gerechtigkeit“ (vgl. z.B. auch die „Ehe für alle“),
(b) die Usurpatoren der Macht wie auch der „Aufklärung“ zu entlarven, wo immer dies möglich ist,
(c) eigene Positionen – entsprechend aufklärerischen Prinzipien – beständig in Frage zu stellen und fremd erscheindende Positionen aufzugreifen und zu prüfen,
(d) eigene ökonomische und politische Einflussmöglichkeiten in Einklang zu bringen mit den verkündeten „Werten“ und Überzeugungen.
Dass dieser Kampf nicht aussichtslos ist, davon bin ich überzeugt. Insbesondere (unter Aspekt b), da die Usurpatoren der Macht notwendiger Weise in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit mehr und mehr selbstzerstörerische Momente aufweisen und entwickeln. Es ist freilich eine Frage, wie zu verhindern ist, dass diese Selbstzerstörung globale Ausmaße annimmt.
Ich habe noch zwei Quellen gefunden, die zum Thema passen dürften und aus denen ich Passagen zitieren möchte. Eine Quelle stammt von Christian Thomas, FR-Feuilleton vom 4. Januar 2016, „Fortschritt“ (Times mager):
„Die Erklärung der Menschenrechte, 1789, war ein Versprechen, das sich auf die Grundgedanken der europäischen Aufklärung berief. Damit wurden, wenn auch unter dem Diktat der Gewalt und Blutgerichtsbarkeit der Französischen Revolution Ideen von einer Moderne in die Welt gesetzt, die auf demokratischen Prinzipien und säkularen Werten gründeten.
Das sich anschließende 19. Jahrhundert war geprägt von einem (philosophisch fundierten) Glauben an eine Welt der Vernunft, die es für abwegig hielt, dass moderne (hochkomplexe) Gesellschaften auf vormoderne, auf despotische oder tyrannische Weise regiert werden könnten. Aber was abwegig schien, war nicht ausgeschlossen.
Es hat nicht erst das 20. Jahrhundert Despoten zurückkehren lassen. Sie ließen sich von einem radikal geschichtsphilosophischen Optimismus nun mal nicht wegsperren. Ebensowenig die Tyrannen mit Eskalationsprogrammen, wie die Welt zuvor nicht erfahren hatte (Hinweis: Faschismus und Stalinismus). […] Die Hybris der Meisterdenker hat mit einem Abenteuertum zu tun, dessen politischer Kampfgeist gelegentlich spirituell-theoretisch gefärbt war. Der hemmungslos denkende Geist leitete, wie säkulär-modern auch immer, seine Tyrannenbewunderung nicht selten aus einem messianischen Furor ab (Anmerkung von mir: z.B. Martin Heidegger). Der apokalyptische Gesinnungsüberschuss europäischer Intellektueller hat die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts rückwirkend in Verlegenheit gestürzt.“
Eine zweite Quelle ist AUFKLÄRUNG. DAS EUROPÄISCHE PROJEKT, von Manfred Geier, Rowohlt TB, 2013. Hier: ‚Erziehung zur Mündigkeit‘, S. 364 ff. und zitiert aus S. 371/72:
„Das letzte Gespräch [von Adorno] mit Hellmut Becker, dem Direktor des Instituts für Bildungsforschung in der Max-Planck-Gesellschaft Berlin, kreiste um das Thema: ‚Erziehung zur Mündigkeit‘. […] Es klingt wie ein Vermächtnis, mit dem sich Adorno am Ende seines Lebens offen zu den Idealen der Aufklärung bekannte. Kants Aufforderung, den befreienden Schritt aus der Unmündigkeit zu wagen, war für ihn ‚heute noch außerordentlich aktuell‘. Das herrschende Bildungssystem sollte sich endlich von den Leitideen der Autorität und der Bindung verabschieden und die Erziehung zur Mündigkeit zu einer Hauptaufgabe erklären. Adorno sah die ungeheuren Schwierigkeiten, die der Verwirklichung von Mündigkeit entgegenstehen, und zwar in einem weltweiten Ausmaß. ‚Kant hat in seiner Schrift, von der ich ausgegangen bin, auf die Frage, *Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?*, geantwortet: *nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung*. Womit er also Mündigkeit nicht als eine statische, sondern ganz konsequent als eine dynamische Kategorie, als ein Werdendes und nicht als ein Sein bestimmt hat. Ob wir heute noch in derselben Weise sagen können, daß wir in einem Zeitalter der Aufklärung leben, ist angesichts des unbeschreiblichen Drucks, der auf den Menschen ausgeübt wird, einfach durch die Einrichtung der Welt und bereits durch die planmäßige Steuerung auch der gesamten Innensphäre durch die Kulturindustrie in einem allerweitesten Sinn sehr fragwürdig geworden.“
Der Autor schließt: „Aber diese Fragwürdigkeit sollte nicht verhindern, nach einer bejahenden Antwort zu suchen. Im Gegenteil. Doch Adorno, mit einem tief sitzenden Gefühl von Ohnmacht, war sich dabei zugleich darüber im Klaren, dass die konkrete Verwirklichung der philosophischen Ideen von Aufklärung und Mündigkeit ein immerwährender Prozess ist, gerichtet gegen stets neue Widerstände und ohne Aussicht auf ein paradiesisches, imhellen Licht der Wahrheit und Freiheit strahlendes Ende.“
Lieber Herr Engelmann,
die vorstehenden Quellentexte habe vor Erhalt Ihrer letzten Ausführungen erhalten.
Ich melde mich dann wieder, wenn ich diese gelesen habe.
Ein nicht ganz leichter, aber spannender Diskurs!
Lieber Herr Engelmann,
wir können uns darauf einigen, wie Sie’s oben konstatiert haben, auch dass Mishras „Aufklärungskritik“-Kritik nicht differenziert genug ist und und ungenau, wie es sich in den Analysen hier gezeigt hat.
Vor allem die Gefahr, dass seine Sichtweise von den Falschen aufgegriffen werden kann. Wir haben ja bei all unseren exklusiven Zeitthemen – so auch jetzt bei G20 – ein deutliches Rollback in der Meinungs- und Stimmungsmache, gegen wen auch immer es gerade den Herrschaftsleuten in den Kram passt.
Ich habe aber bei Pankaj Mishra schon angesprochen, dass er die eigenen Gedanken auch auf Trab bringt, ganz ohne ein zwangsläufiges Rollback in graue alte Zeiten zu fallen.
Und er verleitet mich auch nicht dazu, die „Aufklärung“ als Grundstock meiner Ideale und Hoffnungen (vor allem menschlichen) madig zu machen zu lassen.
Von daher habe ich an Ihrer sehr systematischen Darstellung der Widersprüche, Gegenbewegungen und (problematischen, widersprüchlichen) Rezeptionen der Aufklärung wirklich nichts einzuwenden. Sie gehen insgesamt sowieso viel systematischer an das Thema ran, während ich eher eine essayistische Form des Diskurses habe.
Wichtig ist ihre Erwähnung des sozialen und historischen Unterschieds zwischen „citoyen“ und „bourgeois“, wobei wir hier schon bei der Klassenfrage angekommen wären.
Und das wird deutlich, wenn Sie auf Karl Marx‘ „Kapital“ hinweisen, wo Aufklärung und Freiheit für die Besitzenden, die Kapitalisten eine andere Bedeutung hatte als für die Nicht-Besitzenden und wir dann später vom „Proletariat“ in den Industriestädten sprechen.
Die Emanzipation des Individuums hat im Zuge des Industrie-Zeitalters nie wirklich stattgefunden. Es bildeten sich nur zwei neue sich gegenüberstehende Klassen heraus, die fortan die kapitalistische Gesellschaft als eine Geschichte des modernen „Klassenkampfes“ bestimmten („Kommunistisches Manifest“).
„Aufklärung“ und Globalisierung:
Ich habe die Globalisierung auch nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang zur „Aufklärung“ gesehen. Sie ist jedoch bei Mishra ein Kernpunkt seiner Kritik. Wir wissen ja auch nicht so ganz genau, ab wann wir zeitgeschichtlich schon von „Globalisierung“ sprechen können, in diesem langen Prozess des Kapitalismus. Vielleicht schon früher?
Ziemlich deutlich zeigt sich aber in der Zeit, in der wir jetzt leben, dass der „Neoliberalismus“ und der „Turbo-Kapitalismus“ zu einer echten Gefährdung der Ideale/Grundlagen der Aufklärung und auch unseres Zivilisationsprozesses geworden sind!
Sie haben die Phänomene aufgezählt (Ausbeutung, Zerstörung von demokratischen Prinzipen, Menschenrechtsverletzungen, katastrophale Umweltbeschädigungen, usw.)
Ich glaube immer noch nicht, dass Mishra diese „turbokapitalistischen Herrschaftsverhältnisse einäugig als Folgen der „Aufklärung“ sieht, allenfalls als ein Kontinuum eines teils unvermeidbaren gesellschaftlichen Prozesses, auch durch die Veränderung der Klassenbildung. Ich zitiere aus dem „Kommunistischen Manifest: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft** ist die Geschichte von Klassenkämpfen (I) …
Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.“
Sie sprechen bei 6)von Weiterentwicklung und Lösungsansätzen.
Da sehe auch nur – und das in wechselvoller Gemütsverfassung – einen halbwegs standhaften persönlichen und solidarischen Widerstand gegen diesen Irrsinn des gnadenlosen Profit- und Machtstrebens, gegen die systematische Verdummung und Versklavung der Masse Mensch durch Digitalisierung, Automatisierung, Konsumterror und was weiß nicht noch alles.
Alles was Sie dazu als Möglichkeiten sehen, im weitesten Sinne der Werte und Überzeugungen der Aufklärung, kann ich gut unterschreiben.
Mehr ist nicht drin. Da selbst die „selbstzerstörerischen Momente“ und Prozesse der Akteure der Machtvollen und spätkapitalistischen „Weltverbesserer“ (die Namen dürften erahnt werden) scheinbar unerkannt und verdrängt bleiben, kann von dieser Seite nichts erwartet werden.
Lieber Herr Engelmann, ich bin ab morgen für vier Tage unterwegs und ohne Laptop, also offline und erst Ende der Woche mit Blick in den Blog. Sollte in diesem Diskurs noch was auf der Strecke geblieben sein, dann schaue ich entsprechend später wieder rein. Gute Nacht!
Lieber Herr Malyssek,
da ich am Wochenende auch für mindestens drei Tage unterwegs bin, hier erstmal eine Stellungnahme.
Zu Ihren letzten Äußerungen habe ich keinerlei Einwände.
Sehr interessant das Zitat von Manfred Geier über Adorno, dem ich voll beipflichte. Die Ansicht, dass Aufklärung „ein immerwährender Prozess ist“, habe ich (ohne expliziten Bezug auf Adorno) bereits in meiner 1. Staatsarbeit vertreten (1975, „Dramentheorie von Diderot und Lessing“). Freilich unter dem vorausschauenden Aspekt einer Rezeption, welche die positiven Grundgedanken fortsetzt und so evt. auch Adornos Pessimismus zu überwinden in der Lage ist (der ja auch unter dem Aspekt des unmittelbaren Erlebens von Krieg und Faschismus zu sehen ist).
Anders ausgedrückt: Lässt sich nicht vielleicht doch auch einiges aus der historischen „Aufklärung“periode für heute lernen?
Dazu aber vielleicht später.
Zunächst zu den Bedenken, die offensichtlich auch Sie teilen, dass Mishras „Sichtweise von den Falschen aufgegriffen werden kann“. Wenn dem so ist, woran liegt das dann?
Ich beziehe mich im Folgenden wieder auf das Interview, auch auf die recht überzeugende Kritik von Klaus Philipp Mertens (1. Beitrag). Sie können vielleicht besser beurteilen, ob dies auch für sein genanntes Buch über „die Revolte gegen den Westen“ gilt.
(1) „Der Entwurzelte will wieder Wurzeln haben. Er sehnt sich nach einer Vergangenheit, die es niemals gab. So werden aus gefühlten Opfern häufig Gewalttäter und Bombenleger.“
Ein zunächst sehr eingängiger, in seiner Verallgemeinerung und Verkürzung aber unvertretbarer Satz.
Ich erlaube mir dazu eine persönliche Bemerkung.
Was „Entwurzelung“ heißt, weiß ich als letzter einer kinderreichen Flüchtlingsfamilie, der seinen Vater nie kennen gelernt hat, nur zu gut. Es hat mein ganzes Leben bestimmt.
Dennoch hat die angeblich vorgezeichnete Entwicklung zum „Gewalttäter und Bombenleger“ nicht einmal in den schlimmsten Abträumen je eine Rolle gespielt. Bei 17 Millionen Flüchtlingen im Nachkriegsdeutschland, die ein vergleichbares Schicksal erlitten haben, offenbar auch nicht.
Schon von daher ist diese „Beweisführung“ unzutreffend, geht an den entscheidenden Gründen vorbei.
Schlimmer aber, dass solche gefühlsmäißge Vermischung von „Opfer“ und „Täter“ Rechtsradikalen und Terroristen, die immer die „Opfer“karte zücken, entgegen kommt. Wer als Flüchtling zu uns kommt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit als Opfer anzusehen, ein Gewalttäter oder Terrorist ist immer ein „Täter“ und als solcher zu behandeln. Das ist streng zu trennen – selbst, wenn „Opfer“erfahrungen eine Rolle gespielt haben mögen.
(2) Auffassung von „Moderne“, Terrorismus als „Begleiter der Moderne“:
Mishra wendet sich gegen – wie er meint – Denken „in falschen Gegensätzen“, so auch „Demokratie gegen Diktatur“, schafft mit seinen Verallgemeinerungen über „Aufklärung“ und „Moderne“ als vermeintlicher Ursache und dem anti-europäischen Touch aber gerade neue.
Dabei gäbe es genügend Fragen an sein Heimatland Indien: Sind etwa die für uns unfassbaren Gewaltexzesse gegenüber Frauen Ausdruck der „Moderne“ und nicht vielmehr eines menschenverachtenden überkommenen Kastenwesens, das er – zumindest indiekt – als „Sicherheitsnetz für den Einzelnen“ verharmlost?
Statt sich in Verallgemeinerungen über höchst unterschiedliche Gesellschaften zu verzetteln, wäre es förderlicher, widersprüchliche Tendenzen in seinem eigenen Land unter die Lupe zu nehmen (wie ich es bez. der verschiedenen Rezeptionen von „Aufklärung“ versucht habe).
Beispiel:
Ich habe über 20 Jahre in Luxemburg gelebt. Da haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts (Luxemburg war da noch ein rückständiger Agrarstaat), dann wieder seit der Stahlkrise (70er Jahre, wieder zu Beginn des 21. Jahrhunderts) erhebliche Strukturveränderungen ergeben. Luxemburg konnte die letztere – dank Banken und EU-Standort (über 70 % Dienstleistungssektor) – weitgehend auffangen. Anders in der krisengeschüttelten nordlothringischen Region um Hayange/ Longwy (in der Marine LePen im Präsidentschaftswahlkampf fleißig ihr Süppchen kochte).
Hauptverantwortlicher dafür: der indische Großmogul Mittal.
Mit Spekulationsgeschäften in der zusammenbrechenden Sowjetunion (Usbekistan) aufgestiegen, zeichnete er sich bis zur feindlichen Übernahme von Arcelor (füher Arbeed) zu Arcelor-Mittal duch besondere Brutalität aus. Er hat auch seither (vgl. Wikipedia) weltweit viele Stahlwerke in den Ruin getrieben. Lediglich die Saarwerke, die sich der Übernahme entgegenstellte, konnte sich dem Sog entziehen und wieder erholen. Luxemburg, nur noch nominell Firmensitz, hält nur noch ca. 3 % der Anteile.
Ist das alles Ausdruck von „Eurozentrisms“? – Ganz sicher nicht. Und wenn von „Moderne“, dann von welchen Vertretern derselben? In diesem Fall von einer Verkörperung international wirkender kapitalistischer „Charaktermasken“.
Gegenbeispiel:
Wir haben selbst einen Teil unserer Ersparnisse in einem „Alternativsparkonto“ bei „Etika“ (vertrieben von der Sparkasse Luxemburg – auch das gibt es!) angelegt, das Kredite nach ethischen Gesichtspunkten vergibt und regelmäßig über ihre Projekte informiert. (Informationen über http://etika.lu/Wer-ist-etika, Statuten: http://etika.lu/Les-statuts-d-etika -nur auf französisch).
Die Idee einer solchen ethisch vertretbaren Finanzierungspraxis (vorwiegend an Kleinunternehmer) ist auch in Indien entstanden. (Mir ist der Name der Bank entfallen.)
Solchen widersprüchlichen Beispielen von „kapitalistischen“ Verhaltensweisen nachzugehen, die Folgen aufzuzeigen, produktive Ansätze aufzugreifen, statt sich in allgemeinen Spekulationen über „die Moderne“ verlieren, darin sähe ich einen lohnenswerten Ansatz. Der zugleich geeignet ist, die von Mishra beklagte Isolierung als „heimatloser Intellektueller“ zu überwinden.
Vergleichbar dazu etwa die ausgezeichnete Initiative einer „Moschee für Frauen“ von Seyran Ates, vor deren Mut ich den Hut ziehe. Eine Initiative, die nicht nur produktiv ist, sondern auch geeignet, ein weniger klischeebelastetes Bild von „Islam“ zu vermitteln. (http://www.fr.de/panorama/leute/seyran-ates-die-unbeugsame-a-1320072)
@Werner Engelmann
„Er hat auch seither (vgl. Wikipedia) weltweit viele Stahlwerke in den Ruin getrieben.“ Ich kann dazu in Wikipedia nichts finden. Ich bitte um den Link. Auch zu Mittal und Usbekistan finde ich nichts. Meinten Sie Kasachstan?
„Die Idee einer solchen ethisch vertretbaren Finanzierungspraxis (vorwiegend an Kleinunternehmer) ist auch in Indien entstanden. (Mir ist der Name der Bank entfallen.)“ (Werner Engelmann)
Ich vermute, Sie meinen die Grameen Bank, evtl auch die SMALL INDUSTRIES DEVELOPMENT BANK OF INDIA (SIDBI).
Näheres zu diesem Konzept mit seinen Schwächen und Chancen:
https://reset.org/knowledge/mikrofinanzen-%E2%80%93-finanzdienstleistungen-fuer-kleine-leute
@ Henning Flessner ,27. Juli 2017 um 10:55
Bei Wikipedia findet man Hinweise unter folgenden Artikeln:
„Arcelor Mittal“: Geschichte nach 2009: Umsatzeinbußen, Rauswurf aus Euro Stoxx 50
„Mittal Steel Company“: Geschäftspraktiken, „Mittalgate“
„Saarstahl“, Link „Arbed Saarstahl“ unter „Arbed“: Konkursverfahren und Erholung unter eigener Verantwortung, kein Hinweis auf Verhandlungen mit Mittal, der ursprünglich auch Arbed Saarstahl einschloss
„Usinor“: u.a. Integration in Arcelor Mittal 2002.
Der Hinweis auf den „Ruin“ und den Aufkauf in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion entstammt einer schon etwas zurückliegenden Dokumentation, ich glaube, auf ARTE. Ihr Hinweis auf Kasachstan wird wohl richtig sein.
Danke!
@ Frank Wohlgemuth, 27. Juli 2017 um 13:33
Danke für den Link. Ihr Hinweis ist sicher richtig.
Was zwei Apostrophe inhaltlich so bewirken können!
Ich habe spät einen Fehler entdeckt, auf den ich hier aufmerksam machen muss, weil sonst ein Missverständnis bestehen bleiben würde. Es handelt sich um die zitierte Aussage von Pankaj Mishra aus dem besagten Interview, das zu meinem Leserbrief oben „Die Überforderung des Einzelnen“ geführt hat:
Werner Engelmann hat die Stelle am 27. Juli um 1:44 wieder erwähnt:
„Der Entwurzelte will wieder Wurzeln haben. Er sehnt sich nach einer Vergangenheit, die es niemals gab.“
Der folgende Satz: „So werden aus gefühlten Opfern häufig Gewalttäter und Bombenleger.“, das ist meine Schlussausage des Leserbriefes bzw. der ungekürzten Version im Blog hier.
Die Apostrophe nach Bombenleger.“, die hätten da nicht hingehört, sondern eben beim Satz vorher.
Das heißt, dass ein Teil der Kritik an Mishra dann mich treffen müsste, wenn diese Schlussaussage als verallgemeindernd und verkürzt kritisiert wird (W. Engelmann).
Diese Aussage ist praktisch als Schlusspunkt meines ganzen Briefbeitrages zu sehen.
Und sie bedeutet auch nicht, dass ich persönlich, aus eigener gemachter Erfahrung der „Entwurzelung“ oder als ein gefühltes Opfer (was ich persönlich nicht so empfinde) zwangsläufig auf die Idee gekommen wäre „Gewalttäter und Bombenleger“ zu werden.
Proteste und Demos freilich gehör(t)en weiterhin dazu.
Verallgemeindernd gesprochen – und das erleben wir aktuell an ganz unterschiedlichen Schauplätzen und Brennpunkten -, ist die gefühlte Opferrolle, die Überforderung des Einzelnen oder die „Entwurzelung“ als ein Ausgangspunkt von Hass, Zorn und Gewalt zu identifizieren.
Der „heimatlose Intellektuelle“ benutzt in der Regel andere Mittel, mit seiner Entwurzelung und seiner Situation als Emmigrant fertig zu werden (Schreiben, Aktionen, Solidarisierung mit Schicksalsgenossen/innen usw.).
– Später mehr.