Wichtiger als eine eloquente Zunge wäre eine ehrliche Zunge

Frank-Walter Steinmeier ist der neue Bundespräsident. Und das auch noch gleich im ersten Wahlgang — was allerdings angesichts der Tatsache, dass er der Kandidat der großen Koalition war, nicht allzu überraschend kam. Der wichtigste Gegenkandidat, der Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge, der als Kandidat der Linken in die Wahl ging, erzielte einen Achtungserfolg, indem er 30 mehr Stimmen erhielt, als die Linke allein auf die Waage brachte. Auch der Kandidat der AfD-Kandidat Albrecht Glaser sammelt 42 Stimmen ein, sieben zusätzlich zu den Wahlleuten seiner Partei. Es gab 103 Enthaltungen. Gleichwohl ist Frank-Walter Steinmeier sogleich durchgeflutscht. Er ist zweifellos ein respektabler Kandidat gewesen. Jetzt muss er ein guter Bundespräsident werden.

Es wird eine Weile dauern, bis ich mich mit ihm angewärmt habe, denn ich hätte viel lieber Gesine Schwan an seiner Stelle gesehen. Es wäre Zeit gewesen für eine Frau an der Spitze dieses Staates. Eine hochintelligente Frau zudem, die schon oft die richtigen Worte gefunden hat, auch in heiklen Situationen. Aber sie wollte wohl nicht mehr nach den Fehlschlägen von 2004 und 2009. Ich kann’s ja irgendwie auch verstehen. Ein Bauchgrummeln bleibt gleichwohl zurück. Warum, das mögen Sie in den Leserbriefen nachlesen, welche alte Sünden des neuen Bundespräsidenten aufzählen: vor allem Agenda 2010 und die Affäre Kurnaz. FR-Autor Stephan Hebel nennt es in seinem Leitartikel das „Hillary-Problem„.

Steinmeier BuPräWas die Agenda 2010 betrifft, so ist vielfach argumentiert worden, dass eine Reform der Sozialhilfe in Deutschland überfällig war. Da ist sicher was dran. Allerdings ist den Genossen und Genossinnen im Verein mit den Grünen und mit CDU/CSU — die damals via Bundesrat ein gehöriges Wort mitredeten — vor lauter Fordern ein wenig das Fördern abhanden gekommen, soll heißen: Die Reform mit all ihren Schikanen ließ es an Augenmaß vermissen. Das kann man Frank-Walter Steinmeier durchaus nachtragen. Er gilt als Architekt der Agenda-Politik. Er hat sie allerdings nicht allein zu verantworten.

Der Fall Murat Kurnaz ist hingegen viel undurchsichtiger. Kurnaz, in Deutschland geborener türkischer Staatsbürger, war in Pakistan aufgegriffen und Ende 2001 gegen Kopfgeld an die US-Streitkräfte übergeben worden. Er saß bis 2006 im berüchtigten US-Sondergefängnis Guantánamo auf Kuba, da er zunächst als „ungesetzlicher Kombattant“ eingestuft worden war; diesen juristischen Terminus hatte die Bush-Regierung eingeführt, um Gefangene nicht als Kriegsgefangene und damit nach den Genfer Konventionen behandeln zu müssen. Im Jahr 2002 sollen die USA angeboten haben, dass Kurnaz nach Deutschland zurückkehren könne. Die deutschen Behörden bevorzugten erst eine Abschiebung in die Türkei und behaupteten dann, Kurnaz‘ Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland sei abgelaufen, da er sich mehr als sechs Monate außerhalb des Landes aufgehalten habe, ohne eine Verlängerung zu beantragen. Mitverantwortlich für diese Entscheidungen und ablehnende Haltung soll Frank-Walter Steinmeier gewesen sein. Er bestreitet das. Bei Wikipedia ist anchzulesen:

„Es habe kein offizielles belastbares Angebot der Vereinigten Staaten gegeben und es bestehe kein Zusammenhang zwischen der Entscheidung, Kurnaz wegen Terrorismusverdachts nicht in die Bundesrepublik einreisen zu lassen, und seiner langen Haft in Guantánamo. Er [Steinmeier] sagte im Januar 2007: „Ich würde mich heute nicht anders entscheiden“ und „Man muss sich ja nur vorstellen, was geschehen würde, wenn es zu einem Anschlag gekommen wäre, und nachher stellte sich heraus: Wir hätten ihn verhindern können“.

Demnach wurde Kurnaz fünf Jahre lang in Guantánamo festgehalten, obwohl die Amerikaner und weil die Deutschen ihn nicht wollten. Es hat zu der Sache sogar zwei Untersuchungsausschüsse des Bundestages gegeben. Wie man sieht, ist von diesem Skandal nicht viel an Frank-Walter Steinmeier hängen geblieben. Unsere Leserbriefe sorgen dafür, dass dieses Wenige zumindest nicht völlig vergessen wird.

Ein neues Kapitel

Doch nun soll Steinmeier seine Chance bekommen. Er darf mein Bundespräsident werden, trotz Agenda und trotz Kurnaz. Denn als deutscher Außenminister hat Steinmeier unübersehbar viel geleistet, indem er einer Devise folgte, die man in etwa so umschreiben könnte: Hauptsache, die Konfliktparteien werden an einen Tisch gebracht und reden miteinander; und wenn sie nicht miteinander reden wollen, dann bringen wir sie dazu; und wenn sie auch das nicht wollen, dann bringen wir sie eben dazu; denn man darf den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen. Dieser Haltung ist Minsk II entsprungen, der Vertrag, der den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine um die Ostukraine zumindest entschärft hat. Beide Parteien wollten diesen Vertrag eigentlich nicht. Die Ukraine und Russland dennoch dazu gebracht zu haben, eine solche Vereinbarung zu treffen, das ist hohe Diplomatie. Auch wenn es Mängel bei der Einhaltung und Durchsetzung gibt: Das war ein kleines Meisterstück, das vor allem Frank-Walter Steinmeier zu verdanken ist.

So haben wir nun einen Bundespräsidenten mit unbestreitbaren außenpolitischen Kompetenzen. Er wird natürlich keine eigene Außenpolitik mache, denn auch ein Steinmeier hat als Bundespräsident vor allem repräsentative Aufgaben. Aber es könnte sich als gut und wichtig erweisen, gerade in Zeiten außenpolitischer Unruhe einen Präsidenten zu haben, der Erfahrung in der Außenpolitik hat. Er kennt die Zentrifugalkräfte, die derzeit an der EU zerren, er kennt die Autokraten in Russland und in der Türkei und hat in heiklen diplomatischen Angelegenheiten bisher noch immer den richtigen Ton getroffen. Nur ein Zusammentreffen Steinmeiers mit den neuen US-Präsidenten Trump dürfte nicht ganz einfach für ihn werden, da er Trump mehrfach recht undiplomatisch tituliert hat.

Steinmeier darf mein Bundespräsident werden, habe ich geschrieben, aber er muss sich diese Ehre noch erarbeiten. Der Anfang war jedenfalls nicht schlecht. Freiheit war das Leitmotiv des scheidenden Präsidenten Joachim Gauck. Steinmeier entscheidet sich für: Mut. „Lasst uns mutig sein, dann ist mir um die Zukunft nicht bange“, ruft er den Zuhörern nach seiner Wahl zu. „Wenn dieses Fundament anderswo wackelt, müssen wir umso fester zu diesem Fundament stehen“, sagt Steinmeier. Deutschland sei „ein Anker der Hoffnung“.

Ob das die Griechen auch so sehen?

fr-balkenLeserbriefe

Dieter Hooge aus Frankfurt

„Nun hat die Republik einen Bundespräsidenten mit durchaus dunklen Punkten in seiner politischen Vita. Als 2003 die Regierung Schröder/Fischer damit begann, die Agenda 2010 ins Werk zu setzen, wirkte ein „Spezialist“ im Hintergrund, der dafür sorgte, dass eine der folgenreichsten Demontagen des Sozialstaats durchgesetzt werden konnte: Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier. Für mich ist das sein dunkelster Punkt. Agenda 2010 und Hartz IV werden bis heute von CDU/CSU , FDP, Teilen der Grünen und natürlich von weiten Teilen der SPD als „Jahrhundertreform“ bejubelt. Die Realität ist eine andere. Es gelten Hartz IV-Sätze, von denen die Betroffenen, vor allen Dingen ihre Kinder, nur schlecht leben können im einem der reichsten Länder der Welt.
Die Deregulierung der Arbeitswelt verursachte schlimmste Verwerfungen: Zunahme der Zeitarbeit, erleichterte Befristung der Arbeitsverhältnisse, die starke Beschädigung der Tarifautonomie brachte eine explosionsartige Steigerung prekärer Arbeit. Die Umverteilung von unten nach oben wurde fociert Einer der wichtigsten Akteure dieser „Reformpolitik“ ist nun Bundespräsident. Ich für meinen Teil ertrage das nur schwer.
Aber es geht ja nun weiter. Der Spitzenkandidat der SPD Martin Schulz will soziale Gerechtigkeit zum Schwerpunkt seines Wahlkampfes machen. Wie indifferent und halbherzig er das angehen wird, zeichnet sich bereits ab! Ich hätte da einige Empfehlungen an den Kandidaten: Zunächst sollte Schulz klipp und klar auf Distanz zur Agenda 2010 gehen und sich bei den Millionen und Abermillionen Menschen, die im Laufe der Jahre Opfer von Hartz IV geworden sind, entschuldigen. Natürlich ist es notwendig die Agenda 2010 und Hartz IV in „die Tonne zu treten“, aber so weit wird Schulz nicht gehen wollen. Er könnte aber versprechen, als Bundeskanzler, die Hartz IV Sätze soweit zu erhöhen, damit gutes Leben möglich wird und dass Zumutbarkeitssregelungen entschärft werden. Vor allen Dingen sollte er aber zusagen, die skandalöse Deregulierung der Arbeitswelt, wie oben beschrieben, rückgängig zu machen und die Umverteilung von unten nach oben durch eine soziale Steuerpolitik endlich umzukehren.
Mit einem Agenda 2010-Bundespräsidenten an der Seite und und einem nur zaghaften Eintreten für soziale Gerechtigkeit wird Schulz es schwer haben Bundeskanzler zu werden.“

Dagmar Schön aus München:

„Man muss kein Rhetorik-Spezialist sein, um die gestrige Rede von Bundestagspräsident Lammert besser zu finden als die des neuen Bundespräsidenten. Besser und wichtiger als eine eloquente Zunge, wäre jedoch eine ehrliche Zunge bei Herrn Steinmeier.
Bundespräsident Steinmeier hat sich in seiner Antrittsrede als Hüter und Kämpfer für die Menschenrechte dargestellt. Er sagte: „Wenn das Fundament anderswo wackelt, dann müssen wir umso fester zu diesem Fundament stehen.“ Weiß man um Steinmeiers politisches Handeln in der Vergangenheit, muss man sich allerdings fragen, woraus dieses Fundament besteht. Die Menschenrechte können es nicht sein, denn die hat der Bundespräsident bereits 2002 ohne Not, aus reinen Opportunitätsgründen deklassiert und leugnet, bzw. verteidigt dieses Verhalten bis heute.
Der Rechtsanwalt von Herrn Kurnaz, Bernhard Docke aus Bremen, der all die Jahre für seine Freilassung gekämpft hatte, widerspricht in der heutigen FAZ, den ständig wiederholten Lügen von Herrn Steinmeier zu diesem Thema. Steinmeier bestreitet immer noch, dass es ein eindeutiges Angebot auf Freilassung von den Amerikanern gegeben hätte.
RA Docke: „Doch diese Freilassungschance wurde ausgeschlagen, die Sicherheitsrunde im Kanzleramt lehnte zur Verwunderung der Amerikaner ab. Selbst wenn es seriöse strafrechtliche Vorwürfe gegen Kurnaz gegeben hätte, Deutschland hätte diese Gelegenheit beim Schopfe greifen müssen, um Kurnaz von Folter und Entrechtung zu erlösen“.
Murat Kurnaz musste deshalb fünf Jahre länger in dem US-Foltergefängnis Guantanamo verbringen. Die Menschenrechte können also nicht das Fundament sein, auf dem Herr Steinmeier als Bundespräsident zu agieren gedenkt.
Es gibt einige Menschen in Deutschland, für die die einzig sichere Grundlage einer Friedenspolitik die Menschenrechte sind und die nicht an politischer Amnesie leiden. Für sie ist Steinmeier als Bundespräsident ein Unglück.
Menschenrechte haben nur Bedeutung, wenn sie im politischen Alltag gelebt und durchgesetzt werden; als Beschwörungsformeln in Sonntagsreden, sind sie nichts weiter als heiße Luft, die niemand helfen und nichts bewirken.
Die meisten Journalisten und die Prominenten, die von CDU/CSU/ SPD/ GRÜNE zur Wahl von Steinmeier in die Bundesversammlung berufen worden waren, scheinen beim Fall Kurnaz an politischer Amnesie zu leiden. Für die Unterzeichnende, die 2006, nach den drei Selbstmorden in Guantanamo, für einen offenen Brief an den damaligen Außenminister Steinmeier in der Münchner Innenstadt eine Woche lang Unterschriften für die Schließung von Guantanamo und die Freilassung von Herrn Kurnaz sammelte, ist dieses Vergessen nicht möglich.“

Robert Maxeiner aus Frankfurt:

„Nun ist er also gewählt, der Herr Steinmeier, oder besser sollte ich sagen, der Deal der Regierungsparteien ist durch Wahl bestätigt. Dabei eignet sich doch das Amt eines Bundespräsidenten als Repräsentant dieser Republik hervorragend dafür, Jemanden ohne Parteibuch auszuwählen, der für dieses Land und seine Bürger spricht und nicht für Parteipolitik. Es handelt sich eben um ein Missverständnis oder ein krude Projektion, zu glauben, dass der Kompromisskandidat der Parteien auch der Favorit der Bürger-innen sei. Im Gegenteil erwarte ich von Herrn Steinmeier eine Distanzierung von Parteipolitik und deren häufig faulen Kompromissen. Ausserdem: Warum musste ausgerechnet ein Kandidat mit einem solchen Dilemma auserkoren werden? ( In diversen Leserbriefen in der FR wurde darauf hingewiesen.) Stellen Sie sich einmal vor, Sie oder eine-r ihrer Freunde oder Verwandten oder Herr Steinmeier selbst seien wie Herr Kurnaz in Guantanamo unschuldig gefangen gehalten und gefoltert worden. Ich habe mit meinem Kommentar noch gewartet, weil ich gehofft habe, Herr Kurnaz würde als Delegierter zur Präsidentenwahl berufen, oder Herr Steinmeier würde die Gelegenheit seiner Wahl zu einer Entschuldigung nutzen. Fehlanzeige! So kann ich mich nur dem Kommentar von Herrn Hebel anschließen und hoffen, dass es der neue Bundespräsident nicht damit bewenden lässt, für eine Politik des Weiter-So zu stehen. Und Ceta wird keinen Deut besser, nur weil Herr Trump es nicht will.“

Karl Höhn aus Frankfurt:

„Vielen Dank für den treffenden Kommentar. 1998 bekamen SPD und Grüne eine Mehrheit, weil die Leute die konservativ-neoliberale Politik satt hatten und sich eine soziale und demokratische Alternative gewünscht haben. Sie bekamen eine radikale Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Teilprivatisierung der Rente, eine Liberalisierung des Finanzmarktes, Steuergeschenke für Unternehmen, Kapital und Gutverdiener. Die Folgen: Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, drastische Ausweitung des Niedriglohnsektors, Erwerbsarmut, Kinderarmut, Altersarmut einerseits und Vermehrung der Milliardäre andererseits. Schwächung der Gegenmacht der Gewerkschaften. Das Lohnniveau stagniert bei wachsenden Gewinnen und Produktivität. Die Unternehmen profitierten von diesem Wettbewerbsvorteil. Es wird immer mehr produziert, aber die Leute können sich trotzdem häufig weniger leisten. Das Außenhandelsungleichgewicht wächst auf Rekordhöhe. Das setzt die anderen Länder in der EU unter Druck. Die deutsche Agenda wird nicht nur zur Blaupause für die europäischen Verträge, sondern diese neoliberale Wirtschaftspolitik wird auch zum Kern des Euro. 2008 die weltweite Bankenkrise der liberalisierten Finanzmärkte, als Folge der Bankenrettung die Staatsschuldenkrise in der EU und der vergebliche Versuch, diese mittels Austeritätspolitik ohne Rücksicht auf Menschenrechte und Demokratie auf dem Rücken der Bevölkerung in den Griff zu bekommen. 2016 die „Flüchtlingskrise“ in Europa, auch Folge gewaltsamer Zerstörung arabischer Staaten und der Zerstörung afrikanischer Märkte durch die europäische Handelspolitik. Nun die Stunde der „Rechtspopulisten“, die die Ängste und Nöte der Menschen mit dem „Ausländer“ (und vielleicht noch dem rassistisch gefärbten Finanzkapital) als Sündenbock beantworten. SPD-Bundespräsident Steinmeier sagt, angesprochen auf die Agenda 2010 (als dessen Architekt er ja allgemein bezeichnet wird): „heute zu sagen, dass Stillstand und Nichtentscheidung die bessere Alternative gewesen wäre, dem schließe ich mich nicht an“. Für ihn ist und bleibt der Neoliberalismus alternativlos. SPD-Kanzlerkandidat Schulz redet über soziale Gerechtigkeit. Das tat die SPD 1998 auch. Er spricht von „hart arbeitenden Menschen“. Ein Programm hat er nicht. Aber er ist ein glühender Befürworter von CETA, dem Handels- und Investitionsabkommen der EU mit Kanada, dass alle „Handelshemmnisse“ beseitigen will und damit potentiell alle politischen Regulierungen bedroht, das den Konzernen (auch 80% der amerikanischen Konzerne) ein Sonderklagerecht gegen staatliche Regeln einräumt, die ihre „legitimen Gewinnerwartungen“ missachten, das Liberalisierung zum Gesetz erhebt und nicht nur künftige Regulierungen zusammen mit Lobbyisten prüft, bevor sie ins Parlament kommen, sondern als „living agreement“ auch ohne parlamentarische Kontrolle das Abkommen fortschreiben und ändern darf und aufgrund des Einstimmigkeitsgebots in der EU faktisch unkündbar ist. Über dieses „fortschrittlichste Abkommen“ (Steinmeier) stimmt am Mittwoch das Europaparlament ab. Von 27 SPD-Abgeordneten wollen 4 gegen CETA stimmen. Die SPD aber hat ihre Geisterfahrt, die sie 1998 begonnen hat, nie beendet. Ihr unverhältnismäßiger Jubel kommt mir vor, als wollte da jemand mit lauter Party die unüberhörbaren Anzeichen des Krachen und Wankens im Gebälk unserer Republik übertönen, insgeheim wissend, dass sein eigenes „alternativloses“ Wirken mit dieser bedrohlichen Lage etwas zu tun haben könnte. Die Ahnung kommt auf, dass das langfristige und fundamentale Versagen der SPD historisch schwerwiegende Folgen zeitigen könnte.“

Jürgen Malyssek aus Wiesbaden

„Nun ist, wie erwartet, Frank-Walter-Steinmeier der neue Bundespräsident. Stephan Hebel hat bereits vor der Wahl in seinem Leitartikel viel Bemerkenswertes zu den notwendigen und wichtigen Alternativen zur herrschenden großkoalitionären Konsenspolitik gesagt,
„weil die extreme Rechte sich unter anderem von den Schäden ernährt, die diese Politik angerichtet hat.“
Und dann stellt er eine der entscheidenden Fragen: „Kann man dem Aufstieg der neuen Rechten Einhalt gebieten, indem man ihnen einen führenden Repräsentanten des „Weiter so“ als Bundespräsidenten entgegenstellt?“ Ich kann da höchstens noch ergänzen: So bleibt die große Mehrheit der politischen Elite weiter unter sich.“

 

 

 

 

Diskussion: frblog.de/steinmeier-3

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6 Kommentare zu “Wichtiger als eine eloquente Zunge wäre eine ehrliche Zunge

  1. Die kurze Szene im Fernsehen sagte mehr aus als Worte: Frank-Walter Steinmeier wird nach erfolgreicher Wahl bejubelt von Sigmar Gabriel, Thomas Oppermann, Andrea Nahles und Hannelore Kraft. Also exakt von jenen, denen ich längst nicht mehr traue, die mein Vertrauen, das ich ihnen vor Jahren als Wähler gab, verspielt haben. Und der siegreiche Kandidat bedankte sich mit einer Rede, von der mir nur das Wort „Mut“ im Gedächtnis blieb.

    Diesen Mut werden alle, die sich nicht von der Schlichtheit allzu einfacher Rezepte überzeugen lassen, dringend benötigen. Denn der Sozialdemokrat Steinmeier stellt bewusst keine Solidarität in Aussicht. Im Gegenteil: Der Mensch wird weiterhin zum Teil des Markts statt dessen Nutznießer, wird wie eine Ware aussortiert, sobald sein Talent und seine Arbeitskraft nicht mehr nachgefragt werden. Letzteres ist der eigentliche Kern der Agenda, jenes Ermächtigungsgesetzes zu Gunsten der Monopolwirtschaft, an dem Steinmeier entscheidend mitwirkte. Die Folgen sind längst nicht mehr zu übersehen, organisieren sich dort, wo die Demokratie keinen Blumentopf gewinnen kann.

    Mut statt Solidarität, Mut statt breiter Bildung, Mut statt Gerechtigkeit, Mut statt Emanzipation der Benachteiligten, Mut statt humaner Wirtschaft. Mut klingt in diesem politischen Kontext wie eine Durchhalteparole angesichts der unausweichlichen Katastrophe. Steinmeier wird in diesem Spiel eher eine Randfigur sein. Die Karten des Spiels werden von anderen gemischt – zumindest so lange, wie man ihnen das Blatt nicht wegnimmt.

  2. Sind die Anforderungen und Erwartungen für dieses Amt nicht viel zu hoch? Es ist formal (ich vermute auch von den Bezügen) zwar das höchste politische Amt dieser Republik, wenn ich die Arbeitplatzbeschreibung in der Praxis zusammenfasse, handelt es sich einfach um eine Fachkraft für Staatsempfänge und Sonntagsreden.

    Aus Sicht der aktiven Politik ist es eine Versorgung für Alte, die endlich den Mund halten sollen, und ansonsten bei dieser Besoldung ein Angebot an starke Konkurrenten, das keiner abschlagen kann (dass Wulff sich da auch noch selbst zerlegt hat, war eigentlich gar nicht mehr nötig.) Eine Rückkehr aus diesem Amt in die aktive Politik ist praktisch ausgeschlossen.

    Wenn ich mir nur ansehe, wie mir die einzelnen Präsidenten im Gedächtnis geblieben sind, an die ich mich noch selbst wirklich erinnere, wird deutlich, was ich meine:

    Lübcke durch seine unfreiwillige Komik („equal goes it loose“)
    Heinemann eigentlich gar nicht, und das empfinde ich rückblickend schon als positiv
    Scheel als Sänger, also auch positiv
    Carstens als Wanderer, der durch seine unqualifizierten Kommentare zum Wald die Öffentlichkeitsarbeit des Umweltschutzes um Jahre zurückwarf
    Weizsäcker mit einer Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, die es in die Schulbücher gebracht hat – auch positiv
    Herzog als Ruck-Redner – das war auch der wesentliche Inhalt der Nachreden, relativ also auch positiv
    Köhler als christlicher Missionar und mit seiner Mimosenhaftigkeit bei Kritik
    Wulff – sparen wir uns das
    und Gauck mit seiner naiven Freiheits-Sicht (wenigstens ist er, obwohl Ex-Pastor, nicht auch als Missionar aufgetreten).

    Bei Steinmeier warte ich erstmal ab, wie weit er jetzt den Christen raushängen lässt. Bezeichnenderweise fängt er seine Amtszeit als Präsidiumsmitglied des deutschen evangelischen Kirchentages an. Die Kirchenrepublik Deutschland (ISBN 978-3-86569-190-3) lässt wieder grüßen.

  3. @ Frank Wohlgemuth

    Sie haben in ihrer Aufzählung Johannes Rau vergessen, Bundespräsident zu Bush und Schröder Zeiten. Mit rot grüner Mehrheit gewählt worden.

  4. @ Stefan Vollmershausen

    Danke für den Hinweis. Aber auch mit diesem Hinweis fällt mir aus seiner Bundespräsidentenzeit nichts mehr zu ihm ein. Jetzt könnte man noch überlegen, über wen das mehr sagt, über mich oder über Rau. Haben Sie noch präsidiale Taten von ihm in Erinnerung, oder nur die Person?

  5. Johannes Rau ich kann mich an nichts Bleibendes von ihm erinnern.
    Außer dass er von der SPD war.

    Frank Walter Steinmeier aus dem Kabinett der großen Koalition, besetzt nun das höchste Amt im Staat. So funktioniert Politik, aber was wäre, wenn ein Schulze oder ein Maier dieses Amt besetzen würden ? Jemand aus dem Volk, ein Bürgerpräsident. wie das Joachim Gauck war ? Gauck erledigte seine Aufgaben prima, wie in der Rede zu Dunkeldeutschland.
    Es war geschickt von Sigmar Gabriel eben Frank Walter Steinmeier mit den Stimmen der Union auf diesen Versorgungsposten abzuschieben und dabei den freiwerdenden Platz im Kabinett als Außenminister einzunehmen. Eine Beförderung für Beide, für Steinmeier wie für Gabriel. Dazu noch Martin Schulz als neuen Spitzenkandidaten aus dem Hut gezaubert, mit besten Umfragewerten. Sigmar Gabriel, der unbeliebt war, der mit einem schlechten Ergebnis als SPD Vorsitzender wiedergewählt worden war, dem seine Eile zur Merkel Koalition verübelt wurde.
    Die SPD ist damit wieder in Konkurrenz zur Union getreten, die seltsamerweise dabei mitspielt.
    Das höchste Amt im Land besetzt von einem erfahrenen Diplomaten, der auch noch von der SPD ist. Eine Win-Win Situation für die SPD.
    Da ist Sigmar Gabriel unterschätzt worden, von der Union, die bei den vergangenen Wahlen fast die absolute Mehrheit erreicht hatte. Die Umfragewerte der Sonntagsfrage im Februar zeigen die SPD gleichauf. Poltern kann Sigmar Gabriel auch, was ihm zugute kommen könnte, angesichts der Unberechenbarkeit der gegenwärtigen internationalen Lage. . Außenministerium SPD, Bundespräsident SPD, Mehrheit im Bundesrat, Umfragewerte hoch – jetzt fehlt nur noch die Profilierung in der internationalen Diplomatie für Sigmar Gabriel.

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