Wertegemeinschaft oder wackeliger Wirtschaftsraum?

Was sagt uns eigentlich das Ergebnis der Europawahlen? Ich drucke morgen in der Zeitung zwei Leserbriefe ab: Der eine beklagt die Ressentiments anderer EU-Mitgliedsstaaten gegenüber dem wirtschaftsstarken Deutschland und stellt fest, dass ein politisches Zusammenwachsen Europas wohl von der Wählerschaft nicht gewünscht werde. Der andere Leserbrief ruft auf zum politischen Widerstand gegen die erstarkten Rechtsparteien. Es gelte, sich auf die Europäische Idee des Anti-Faschismus und der Demokratischen Werte zu besinnen und diese zu leben.

Gleichzeitig hat das Landgericht Darmstadt geurteilt, dass Somalische Flüchtlinge nicht aus Deutschland in das EU-Nachbarland Niederlande abgeschoben werden dürfen, weil dort ihre Menschenwürde Gefahr laufe, nicht geachtet zu werden. Ein Leser regt sich, in meinen Augen zu Recht, darüber auf, dass in den demokratischen Niederlanden die Menschenrechte genauso gelten wie hier. Warum sie nicht auch für somalische Flüchtlinge einklagbar machen? Waren nicht die Menschenrechte, die Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht mal die Basis für die Europäische Union? Hallo?

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg sagt:

Bei aller Uneinheitlichkeit der Europa-Wahlergebnisse in den einzelnen Mitgliedsländern der EU läßt sich wohl eine generelle Schlußfolgerung ziehen: erhebliche Teile der Wahlbevölkerung in den einzelnen 28 Nationen wollen – zumindest vorläufig – keinen weiteren Abbau der eigenen Souveränität gegenüber Brüssel hinnehmen. Das mag man bedauern, man kann diesen Trend in der Wählermeinung aber nicht einfach ignorieren.
Die EU war einmal als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) angetreten. Der gemeinsame Markt wird allem Anschein nach auch nicht vom „Durchschnittseuropäer“ infragegestellt. Aber deutlich weitergehende Bestrebungen zu einer wirklich europäisch/politischen Integration werden ganz offensichtlich gegenwärtig abgelehnt. Die Bereitschaft, sich primär mit Europa zu identifizieren, besteht offenbar (noch) nicht. S

pätestens mit einem nicht auszuschließenden Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU wird sich dann die Frage stellen, ob es bis auf weiteres beim europäischen Freihandelsraum bleibt. Auf Schengen zu verzichten – wie es populistisch Nicolas Sarkozy allen Ernstes fordert – wäre allerdings ganz unvernünftig. Schengen, also Entfall der Grenzkontrollen, ist ein ganz zentraler Bestandteil der „acquis communautaires“.

Das Ergebnis in Frankreich gibt besonders zu denken! Emanuel Todd, französischer Schriftsteller, Anthropologe und Historiker hat in einem längeren Aufsatz in der Zeit eine Suada über Deutschland verfaßt. Die Ressentiments gegen Deutschland sind in Teilen der EU sehr virulent. In Deutschland wird diese Stimmung noch nicht recht wahrgenommen.

Sollte sich die Haltung gegenüber einem angeblich dominanten Diktat Deutschlands in der EU weiter verstärken, wird die größte Volkswirtschaft der EU gegen ihren Willen auf einen „dritten Weg“ gedrängt, der Deutschland aber noch nie bekommen ist. Das gilt es unbedingt zu verhindern.
Nicht Deutschland darf und kann aus der EU ausscheiden, sondern die Länder mögen ausscheiden, die meinen, ihre eigenen Belange besser ganz allein regeln zu können. Sollte sich Schottland vom Vereinigten Königreich lösen, kann ja das übrig gebliebene England ( mit oder ohne Wales & Cornwall) in Washington den Antrag stellen, als eigener Bundesstaat in die USA aufgenommen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Washington zustimmt, ist allerdings gering!

Manfred Kirsch aus Neuwied schreibt:

Der 25. Mai 2014 wird als ein schwarzer Tag für die Zukunft Europas und der Bundesrepublik in die Geschichte eingehen. Die Tatsache des Erstarkens rechtspopulistischer, rechtsextremer und offen faschistischer Parteien in vielen EU-Ländern gibt mir Anlass zu der Befürchtung, dass sich hier ein Eurofaschismus etablieren könnte, der langfristig gesehen den Kontinent in eine Barbarei stürzen kann.

Wenn man sich die Töne des Front National in Frankreich oder der Ukip in England und die verbalen Äußerungen der rechts angesiedelten Parteien in den anderen Staaten der EU anhört, so wird man sich nicht der Furcht entziehen können, dass in Europa die Luft für Minderheiten und aufrechte Demokraten sehr dünn werden könnte. Und in der Bundesrepublik erschreckt alle anderen Ergebnisse überlagernd die Tatsache, dass die so genannte Alternative für Deutschland aus dem Stand heraus mit sieben Prozent der Stimmen aufwarten konnte.

Mag ja sein, dass die so genannten etablierten Parteien in der Vergangenheit Fehler gemacht haben, eine Rechtfertigung für das Wählen rechter Parteien können diese Fehler jedoch nicht sein. Es ist jetzt bitter nötig und höchste Zeit, dass die sich den Werten der Europäischen Union verpflichtet fühlenden Kräfte europaweit eine gemeinsame Anstrengung gegen Rechts unternehmen. Das Wegfallen der Drei-Prozent-Hürde in der Bundesrepublik führt jetzt auch zum Einzug eines Vertreters der Nazi-Partei NPD ins Europaparlament.

Man muss in diesen Tagen einmal daran erinnern, dass es jahrzehntelang in der Bonner und Berliner Republik Konsens war, alles daran zu setzen, dass sich Weimar nicht wiederholen darf. Jetzt muss gelten: Straßburg und Brüssel dürfen auch nicht Weimar werden. Jeder Faschist im Europa-Parlament ist einer zu viel. An dieser Priorität kann auch der offensichtliche Konsolidierungsprozess der SPD nichts ändern. Ich denke, dass die SPD nicht wegen ihrer Politik in der Großen Koalition wieder zugelegt hat, sondern wegen der Glaubwürdigkeit ihres Spitzenkandidaten Martin Schulz.

Jetzt muss die Stunde der Demokraten und Antifaschisten sein. Der Angriff auf alle menschlichen Werte muss dringend abgewehrt werden. Europa muss jetzt beweisen, dass es aus der Geschichte die Lehren gezogen hat und seine Werte auch lebt.

Walter Unger aus Maintal schreibt:

Somalier dürfen nicht in die Niederlande zurückgeschickt werden, weil sie dort nicht menschenwürdig behandelt werden, so das Verwaltungsgericht Darmstadt. Ein Sieg für die Menschenrechte, möchte man meinen. In Wahrheit ist das Urteil ein (weiterer) Schlag gegen die Europäische Union. Wenn Flüchtlinge in Brandenburg oder Bayern schlechter behandelt würden als in Hessen, würde man darauf hinweisen, auch in diesen Bundesländern gebe es eine funktionierende Justiz, mit deren Hilfe man sich gegen menschenunwürdige Behandlung wehren kann.

Nichts anderes gilt für die EU-Staaten und auch für die Niederlande. Das niederländische Recht schützt die Menschenwürde ebenso wie das deutsche. Ebenso wie in Deutschland gibt es eine funktionierende Rechtsprechung.

Und schließlich hat ein Flüchtling ebenso wie in Deutschland die Möglichkeit, sich an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu wenden, wenn seine Behandlung in den Niederlanden die Menschenwürde verletzt. Auch wird hier niemand, in den Niederlanden politisch für eine Verbesserung der Versorgung von Flüchtlingen zu werben.
Das Dublin-Verfahren ist kritikwürdig, weil es die Staaten überfordert, in denen die meisten Flüchtlinge zuerst ankommen. Zu Recht wird deshalb gefordert, Flüchtlinge müssten auf alle Staaten der EU verteilt werden. Mit dem Darmstädter Urteil wäre das nicht mehr möglich.

Schon deshalb ist das Urteil mit dem Gedanken der europäischen Solidarität nicht vereinbar. Ebenso wie das schulmeisterliche Auftreten der deutschen Bundesregierung in der Schuldenkrise ist es aber auch Ausdruck eines Anspruchs, deutsche Maßstäbe über alles zu stellen. Europäisches Denken sieht anders aus.

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17 Kommentare zu “Wertegemeinschaft oder wackeliger Wirtschaftsraum?

  1. Die Bevölkerung in Afrika wächst. Sie wird es bestimmt noch Jahrzehnte lang tun. Wohin mit all diesen Menschen, die auch an einem gewissen Wohlsztand teilhaben wollen ? Was nützt uns eine Diskussion über „Werte“ – praktische Lösungen für die auf Europa zu kommenden Probleme wären gefragt ! Grenzen wir uns in Europa dichter und rigeroser ab ? Oder lockern wir den Zuzug stufenweise – bis wir „überschwemmt“ werden ?
    Gute, machbare Vorschläge – wenn es sie denn gibt – habe ich noch nicht vernommen.
    Zugegeben, ich habe auch keine…

  2. Die Erfolge der eurokritischen Parteien werden nach meiner Meinung total überschätzt. Auch 25% (bei 40% Wahlbeteiligung) sind keine Mehrheit; erst recht 7% nicht.
    Wenn 80% europafreundliche Parteien wählen, muss das nicht bedeuten, dass die Wähler eine weitere Integration befürworten. Aber daraus eine Ablehnung abzulesen, halte ich für abwegig. Die meisten Ergebnisse beruhen auf der nationalen Politik der einzelnen Länder und eben nicht auf der Politik der EU.
    Die niedrige Wahlbeteiligung zeigt, dass das europäische Parlament nicht so wichtig genommen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Ansicht in seinem Urteil zur 3%-Klausel gerade bestätigt. Hier kann man seinen Ärger los werden, ohne Schaden anzurichten.

  3. Ich bin nicht der Meinung das Europa selbst von den Wählern die rechts gewählt haben generell abgelehnt wird. Abgelehnt wird das Ergebnis der europäischen Wirtschaftspolitik mit Massen von Arbeitslosigkeit. Die Demokrati ist dabei ihre Zukunft zu verspielen wenn es nicht gelingt bei hoher Wertschöpfung das Verteilungsproblem zu lösen. Aus diesen Gründen, gibt es wahrscheinlich zunehmend, die Möglichkeit für Extreme zu profitieren. In Griechenland war es die radikale Linke die gewonnen hat. Wen kann das wundern wenn die EU Politik Banken rettet und das Gesundheitssystem unter gehen lässt. Ich sehe aber halt keine Möglichkeit das zu ändern also wird sich das Volk immer weiter radikalisieren mit allen letztlich bekannten negativen Folgen.

  4. „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“. Zugegeben, das Gebell ist etwas lauter geworden. Doch wenn sich die „echten“ Europäer zusammenschließen, aus den Fehlern der Vergangenheit die richtigen Schlüsse ziehen, sehe ich so schwarz noch nicht. Fünf Jahre bis zur nächsten Wahl sind eine lange Zeit.
    Lasst Staaten, die ständig mit einer Abstimmung : „Raus aus der EU“ drohen, ruhig ziehen ! Sie tragen doch nichs Positives mehr dazu bei.

  5. Betroffenheit über die EU-Wahlen? – Natürlich! Noch mehr, wenn man französische Verwandte und Freunde hat und in Frankreich lebt.
    Muss man aber deshalb gleich, wie Manfred Kirsch, von einem „Angriff auf alle menschlichen Werte“ sprechen? Das dokumentiert nur die eigene Hilflosigkeit.
    Moralisierende Beurteilung durch eine von deutschen Traumata und Schuldkomplexen geprägte Brille ist schon problematisch, was aktuelle Tendenzen in Deutschland angeht. Bei den höchst unterschiedlichen Bedingungen in den verschiedenen europäischen Ländern gilt das noch viel mehr. Mit Beschwörungsformeln lassen sich rechtspopulistische Rattenfänger nicht aufhalten. Im Gegenteil!
    Wer wirklich etwas gegen die Bedrohung durch rechtsnationalistische Bewegungen in Europa tun will, kommt um eine genaue Analyse der in den verschiedenen Ländern herrschenden Bedingungen nicht herum. Ich möchte dies im Folgenden für den Wahlerfolg des Front National in Frankreich versuchen.

    Schon die geringe Wahlbeteiligung (47 %) relativiert, wie Henning Flessner richtig schreibt, die Bedrohung durch den FN: Effektiv ist dessen Anteil – schlimm genug – gerade knapp über 12 %. Dazu ist das, was die Wählerschaft angeht, alles andere als eine homogene Gruppe von „Faschisten“. Gerade mit solchen Vereinfachungen im politischen Diskurs wurden bisher Frau Le Pen die Wähler zugetrieben. Denn dies unterschlägt entscheidende Tatsachen:

    1. Mehr noch als bisher wurde die Wahlentscheidung ausschließlich von nationalen Belangen diktiert. Die diesbezügliche Stimmung in Frankreich ist die des „Ras-le-bol“ („Schnauze voll“). Vor allem ging es vielen FN-Wählern darum, den elitären, korrupten Machteliten des eigenen Landes die möglichst härteste Bestrafung zukommen zu lassen. Und die ist noch immer die Drohung mit dem Front National. Das mag pubertär sein, entbehrt angesichts der ganzen Serie von Skandalen im linken wie (mehr noch) im rechten Lager aber nicht einer gewissen Logik. Umso mehr, als dazu ein Schuldbewusstsein wie in Deutschland fehlt, die Wahl des FN also nicht von vorherein mit einem moralischen Verdikt verbunden ist.
    2. Diese Entwicklung ist in hohem Maße von einem verantwortungslosen Diskurs in staatlichen wie privaten Medien mit verschuldet. Zunächst durch Verstärkung des Desinteresses an der EU (bis hin zur Weigerung der Übertragung der Wahldebatten im staatlichen Fernsehen des FR1!), ebenso wie durch das Zuschieben der Sündenbockrolle an „Brüssel“. Und so erfasst der nationalistische Diskurs, der die Verantwortlichkeit für eine allseits beklagte Steuerlast völlig verkehrt, auch linke, bürgerliche und gut situierte Kreise.
    Schlimmer noch, dass in französischen Medien auch direkt FN-Strategien in die Hände gearbeitet wird: Wo immer von einem Skandal die Rede war, wurde der FN als die einzig „wahre“ Opposition und als Saubermann, als Ankläger und Richter aufgerufen. Korrupt sind nur die anderen. Nach (Nicht-)Anwesenheit und (Nicht-)Tätigkeit einer Frau Le Pen im EU-Parlament fragt so gut wie niemand. Und es bedarf des Brüsseler ARD-Korrespondenten Krause, um ihr das einzige künftige Programm für das EU-Parlament zu entlocken: Boykott.
    3. Dies ermöglichte es erst einer Frau Le Pen, sich als Verkörperung der „France profonde“, des „wahren Frankreich“, als moderne „Jeanne d’Arc“ und „Retterin in höchster Not“ zu präsentieren. Politischer Diskurs verkam zum Niveau von Toilettensprüchen.
    (Spruch auf einer öffentlichen Toilette in einem Urlaubsgebiet: „Le Pen, zu Hilfe! Schnell!“. – Da er nicht zu entfernen war, blieb mir nichts übrig, als ihn wenigstens, der Örtlichkeit angemessen, durch einen Zusatz zu verfremden: „Das WC ist verstopft!“)
    4. Der zweifellos fremdenfeindliche, vor allem gegen Zuwanderung aus nicht europäischen Ländern gerichtete Diskurs des FN basiert zu einem großen Teil auf Strukturkrisen und entsprechend verschärfter Arbeitslosigkeit, vor allem in Elsaß-Lothringen und der Provence – Folge vor allem der von Sarkozy versäumten Maßnahmen zum Strukturwandel.
    Dies rechtfertigt freilich nicht, nationalistischen und simplifizierenden Rattenfängerparolen nachzulaufen, vergleicht man etwa mit Spanien, wo es auch mit 50% Jugendarbeitslosigkeit keine rechtspopulistische Anti-EU-Stimmung gibt. Doch eigene Existenzängste machen dies, vor allem im Vergleich mit Deutschland, immerhin verständlich.
    Dabei soll nicht die Mitschuld deutscher Politik übersehen werden: So etwa bei der Zerstörung von Teilen der französischen Fleischindustrie durch Verweigerung von Mindestlöhnen und Laissez-faire gegenüber einer skrupellosen, mit Dumpinglöhnen arbeitenden deutschen Fleischindustrie.
    5. Bei alledem konnte ich bisher keine durchgehende Fremdenfeindlichkeit und noch weniger, wie von Sigurd Schmidt eingangs behauptet, eine Deutschenfeindlichkeit feststellen. Im Gegenteil kann man oft, in Unkenntnis der realen sozialen Auswirkungen in Deutschland, Bewunderung für die für viele Franzosen vorbildliche Entwicklung in Deutschland erkennen.
    In gewissem Sinn ist dies auch berechtigt, denkt man etwa an die heillos zerstrittenen, von völlig unrealistischen Forderungen bestimmten französischen Gewerkschaften, die ihrerseits auf wirtschaftliche Konsolidierung gerichtetes Handeln nahezu unmöglich machen. Mit Menschen, denen jede Einsicht in notwendige Veränderungen fehlt, die, aller demographischen Daten zum Trotz, mit Zähnen und Klauen eine Rente mit 60 und eigene Privilegien (so etwa bei Eisenbahnern unbegrenzte Freifahrten für die ganze Familie) für selbstverständlich erachten, lässt sich weder von einer rechten noch einer linken Regierung ein Staat machen.
    Und so verstärken – paradoxer Weise – gerade diejenigen den Ruf nach dem „starken Mann“ (bzw. der „starken Frau“), die jeglicher Machtausübung misstrauen und dem Anarchismus das Wort reden.

    Fazit:
    Zunächst ist, sowohl bei der Analyse wie auch bei Entwurf von Gegenstrategien, zwischen FN-Strategien und FN-Propaganda einerseits und den Motivlagen einer völlig verunsicherten Wählerschaft andererseits zu unterscheiden. Letztere sind noch lange nicht identisch mit dem zweifellos nationalistischen, fremden- und EU-feindlichen Diskurs rechtspopulistischer Führer.

    Zu den FN-Wählern:
    Hier scheint sogar unter französischen Journalisten Nachdenklichkeit einzukehren. Tenor: Es kommt darauf an, deutlich zu machen, dass der FN-Wahlerfolg das Gegenteil von dem bewirkt, was er verspricht: nicht Frankreichs neue „Größe“, sondern Isolierung und Schwächung in Europa und international: vom deutsch-französischen „Tandem“ bleibt nur noch eine Angela Merkel übrig. Um eben dies zu verhindern, wäre es klug von der deutschen GroKo, der französischen Regierung volle Unterstützung zu gewähren – unter der Bedingung der klaren Abgrenzung zum FN.
    Das Erschrecken kann so auch seine guten Seiten haben, wenn potentielle FN-Wähler dadurch veranlasst werden, über bloße Bauchgefühle hinweg danach zu fragen, was Rechtspopulisten denn an Lösungen in konkreter Politik anzubieten haben, wenn sie mit dem zu erwartenden Desaster populistischer Rückwendung und Destruktion konfrontiert werden. Das freilich erfordert, sie in den politischen Diskurs einzubinden statt sie mit undifferenzierten moralisierenden „Faschismus“-Vorwürfen zu dämonisieren.

    Zum Umgang mit dem FN:
    Zweifellos ist es Marine Le Pen gelungen, durch Eindämmung des plumpen Rassismus ihres Vaters (so etwa seiner Bemerkung, die Einwanderungsproblematik aus Afrika werde sich durch das Ebola-Virus von selbst erledigen) den Anschein von Glaubwürdigkeit ihrer nicht weniger zynischen und autoritären Politik zu erreichen.
    Ihre Blöße wird aber offenbar, wenn man nicht mehr (wie Sarkozy) ihrer Demagogie hinterher läuft, sondern sie zur Konkretion zwingt: So etwa zeigte sich ihr extrem autoritärer Führungsstil beim Verbot an FN-Mitglieder, an den landesweiten Demonstration gegen Gleichstellung Homosexueller teilzunehmen. Denn dies stand ihrer Absicht im Wege, eine Allianz mit der diesbezüglich völlig anders gestrickten niederländischen PVV eines Geert Wilders zu schmieden. Eine Strategie allerdings, die bei den englischen Brüdern im Geiste, der UKIP, auf erheblichen Widerstand stößt: Die lehnen nicht nur die Bildung einer Fraktionsgemeinschaft mit dem Front National ab (von Nigel Farage als „rassistisch“ uns „antisemitisch“ bezeichnet), sie wollen diese auch verhindern.
    So blockieren sich FN und UKIP gegenseitig: Zwar ist es Le Pen gelungen, neben der niederländischen PVV, der belgischen Vlaams Belang und der österreichischen ÖVP auch die italienische Lega Nord aus dem UKIP-Lager zu sich herüberzuziehen. Da sogar der FN die Zusammenarbeit mit der offen faschistischen ungarischen Jobbink und der griechischen „Morgenröte“ ablehnt, fehlen immer noch 2 Nationen für die Bildung einer Fraktionsgemeinschaft. Le Pens Hoffnung richtet sich auf die polnischen und schwedischen Nationalisten bzw. darauf, auch die dänischen Nationalisten der UKIP abspenstig zu machen. Die aber zeigen dazu wenig Neigung.
    Für die Arbeit im EU-Parlament heißt das: Europäische Nationalisten sind sich zwar einig im Boykott, wenn es aber um konkrete Politik geht, bekämpfen sie sich gegenseitig bis aufs Messer. Zu befürchten gibt es also wenig, wenn „Pro-Europäer“ sich der Notwendigkeit der Zusammenarbeit über Unterschiede in Einzelfragen hinweg bewusst sind. Auch wenn Bedenken bezüglich seiner Haltung in der Bankenfrage berechtigt sind: In dieser Hinsicht ist der voraussichtliche Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, durchaus auf dem richtigen Weg, wenn er betont, dass für ihn keine Präsidentschaft mit Unterstützung rechtspopulistischer Parteien in Frage kommt.
    Die wirkliche Gefahr geht m.E. nicht von rechtspopulistischem Boykott aus, sondern von der Zerstörung der Gemeinschaft durch EU-Feinde von innen, durch nationalistische Regierungen: allen voran die Erpresserpolitik eines David Cameron und die mehr als dubiose Haltung einer Angela Merkel, so gegenüber Herrn Juncker. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass – wie spekuliert wird – eine Art Kriegserklärung an das EU-Parlament seitens nationaler Regierungen und die Verhöhnung der Wähler ohne ein politisches Erdbeben in vielen Ländern von statten gehen könnte und dass eine große Koalition in Berlin dies überleben würde.

  6. ist es nicht auch so mit den Rechtspopulisten? Da wird gehandelt frei nach dem Motto, Spatz in der Hand, der mir näher ist, als die Taube auf dem Dach. Der Nationalstaat als Spatz, die Gemeinschaft als Taube, die eigene Heimat ist nahe, alles andere fern. Fern ist auch die Brüsseler Bürokratie, vom Durchschnittsbürger weit weg, eben ein Grund um antieuropäisch zu wählen

  7. Zunächst einmal vielen Dank, Herr Engelmann, für Ihre aufklärerisch-kritische Analyse der Lage, nicht nur in Frankreich.

    Vieleicht trage ich jetzt zu dick auf, aber ich möchte mal einige Dinge gerade rücken. Für mich sind die wahren EU-Feinde genau die, welche sich jetzt heuchlerisch als große Europäer gerieren. Unsere „Mutti“ Merkel steht da in vorderster Front. Ich kann auch das begleitende Neusprech, schlecht abgekupfert bei Orwell, nicht mehr hören, so z.B. die Staatsschuldenkrise anstelle Bankenkrise seit Lehman & Co. Ich kann dieses neoliberale Gesülze nicht mehr hören und lesen, welches permanent Volks- und Betriebswirtschaft verwechselt. Ich kann diese Empfehlungen nicht mehr ab, ganz Europa würde an Lohnkürzungen und Austeritäts-fixierten Haushalten genesen. Dann kauft eben der deutsche Hartzer für den griechischen Arbeitslosen kiloweise Feta, den sich letzterer nicht mehr leisten kann? Dann produziert der deutsche Billiglöhner im Zuge der Export-Fixierung Tausende von Luxus-PKWs für gut ausgebildete, doch leider arbeitslose spanische Ärzte und Architekten?

    Welche Drogen nehmen unsere Politiker und die neoliberalen Prediger in den Wirtschaftsinstituten ein, um immer noch an den von ihnen verbreiteten Stuß zu glauben? Was ist mit der Abschaffung der Demokratie im Zuge von TTIP? Da geht es nicht um die blöden Chlorhühnchen, sondern um Abschaffung von Bürger- und Verbraucherrechten durch Kungeleien in Hinterzimmern mit der Absicht, diskret künftiges Recht durch die Wirtschaft bzw. Konzerne schreiben zu lassen. Ja klar, auch die Mafia hat Ehrengerichte.

    Wollen wir demokratiekonforme Märkte oder eine marktkonforme Demokratie? Nein, nicht Le Pen oder Wilders sind für mich die Gefahr, sondern die derzeit Regierenden, die dann auch noch versuchen, die rechten Rattenfänger mit noch rechteren Parolen – siehe CSU – zu überholen. Wieviele kritische Kommentare von Hebel in der FR, Schumann im TAGESSPIEGEL oder Münchau auf SPON muß es noch geben, wieviele aufklärende Bücher müssen noch (ne, geschrieben sind genug) gelesen werden, so wie das von Thomas Piketty oder Brigitte Witzer, bis es anfängt im Bürger zu rumoren und er endlich den Aufstand wagt? Geben wir uns weiterhin mit Sprüchen zufrieden und picken die Brosamen auf, die von den Tischen der 5% fallen, die wirklich das Sagen haben?

    Geheuchelt wird auch und gerne bei der Zuwanderung. Wir versorgen die ganze Welt mit Waffen, weil wir selbst definieren, wo Spannungsgebiete sind und was wir liefern. Uns ist es schnurz, welcher Konzern wo Wasser versaut, Boden vergiftet, Wald abholzt, Hauptsache, der Aktienkurs stimmt. Und wenn sich dann einige aufmachen in das vermeintlich gelobte Land Europa entpuppt sich dieses als Festung mit Stacheldraht drumherum, an dem Schilder hängen: Wir dürften hier nicht rein. Wenn uns Europa eines nicht allzu fernen Tages um die Ohren fliegen sollte, dann waren es nicht Le Pen & Co, welche die Zündschnur angesteckt haben. Politikerworte sind vergleichbar mit der Werbung. Mit Tatsachen haben sie meistens nichts zu tun, genauso wie das Wahlplakat der CDU mit Frau Merkel, die weder zur Wahl stand noch der ca. 40jährigen Dame auf dem Foto entspricht.

    Eigentlich hilft nur eines: öfter das eigene Gehirn einschalten und bei allem wirklich die Frage stellen: Qui bonum – wem nützt es?

  8. @ Wolfgang Fladung, #7

    Lieber Wolfgang Fladung, zunächst einmal Dank für Ihre Stellungnahme. Vielleicht kommt so, über Kurzstatements hinaus, doch noch eine Diskussion zustande.

    Nun ist es nicht einfach darauf zu antworten, da Sie viele Dinge ansprechen, die mit dem Problem des Rechtspopulismus nur sehr bedingt etwas zu tun haben. So etwa spielt TTIP – obwohl außerordentlich wichtig – in den französischen Nachrichten, soweit ich sie verfolge, überhaupt keine Rolle. Und ich bezweifle, dass die Mehrzahl der FN-Wähler überhaupt etwas damit anfangen kann.
    Was Ihr diesbezügliches Misstrauen gegenüber „Kungeleien in Hinterzimmern“ angeht, rennen Sie bei mir offene Türen ein. Allerdings hat zumindest Martin Schulz deutlich gemacht, was er davon hält und wie er sich als Kommissionspräsident zu solchen Kommissaren verhalten würde (was er nun, leider, voraussichtlich nicht unter Beweis stellen kann). Ich glaube auch nicht, wie Sie schreiben, dass es amerikanischen Konzernen um „Abschaffung der Demokratie“ geht, sondern schlicht und ergreifend um Absicherung ihrer Marktmacht. Wofür sie freilich Demokratiedefizite als quasi „Kollateralschäden“ in Kauf nehmen. Für die Analyse wie auch für Gegenstrategien ist das aber immer noch ein erheblicher Unterschied.

    – „Für mich sind die wahren EU-Feinde genau die, welche sich jetzt heuchlerisch als große Europäer gerieren. Unsere “Mutti” Merkel steht da in vorderster Front.“ –
    Was Frau Merkel angeht, können Sie aus meiner abschließenden Bemerkung in #5 entnehmen, dass ich Ihnen bei dem Misstrauen gegen ihre europäischen Bekenntnisse relativ nahe bin. Nun steht in der Sache Juncker die Probe aufs Exempel ja bevor.
    Allerdings kann man auch hier nicht so verallgemeinern. Der ausgemachte EU-Feind Viktor Orban, nicht viel weniger David Cameron haben ja nicht gerade als „große Europäer“ von sich Reden gemacht. Die aber führen die Fronde gegen den „Föderalisten“ Juncker an, dazu kommen noch die Nationalisten aus Dänemark und Schweden. Und deren Geschäft ist schlicht das der Erpressung. So auch im Fall Juncker, den vor allem Orban und Cameron auf Teufel komm raus verhindern wollen. Dazu dient einem Cameron z.B. die Drohung an Merkel mit der AfD (die er sonst in seine Fraktion AECR aufnehmen wolle – bestehend aus englischen, polnischen und tschechischen Nationalisten sowie 9 einzelnen Abgeordneten). Und nun auch noch (so die neueste Information von Le Monde), mit dem Austritt aus der EU, offenbar, um der UKIP das Wasser abzugraben. (Ob das eine Drohung ist?). – „Heuchlerisch“: ja, aber große Europäer“?
    Dies meinte ich mit der Bemerkung „Zerstörung der Gemeinschaft durch EU-Feinde von innen“. Allerdings werden im Anti-EU-Diskurs die Tatsachen auf den Kopf gestellt, wenn die am meisten kritisierten Maßnahmen (Griechenland, Bankenfrage) „Brüssel“ angelastet werden, während in Wahrheit die Chefs der nationalen Regierungen dafür verantwortlich sind.

    – „Nein, nicht Le Pen oder Wilders sind für mich die Gefahr, sondern die derzeit Regierenden“.
    Obwohl ich soeben teilweise Zustimmung signalisierte, halte ich diese Äußerung doch für sehr problematisch, klingt da doch eine Verharmlosung der Rechtspopulisten durch: Statt „nicht – sondern“ muss es heißen: „sowohl – als auch“.
    Das sieht (so Le Monde nach einer neuesten Umfrage) sogar die Mehrheit der Franzosen zu, von denen inzwischen 2/3 den Front National als eine große Gefahr einschätzen. Dem stimme ich durchaus zu. Denn man darf nicht allein von den gegebenen Machtverhältnissen ausgehen, sondern muss auch die langfristige Wirkung der von Rechtspopulisten angerichteten Verwirrung in den Hirnen in Betracht ziehen – umso mehr, als die Kerntruppe etwa des Front National zwischen 25 und 45 Jahre alt ist.
    Natürlich streuen Rechtspopulisten, auch die AfD, ihren Anhängern Sand in die Augen, wenn sie eine „Rückkehr“ zu vermeintlich idyllischen Verhältnissen der EWG der 60er Jahre versprechen und das Heil in nationalen „Lösungen“ suchen. Wo doch die ökonomische „Vernunft“ einem Herrn Lucke sagen müsste, dass die Probleme eines weitgehend gesättigten Marktes (Arbeitslosigkeit, Verteilungskämpfe u.a.) beileibe nicht nach den Regeln des expandierenden Marktes der 60er Jahre zu lösen sind: Wie soll etwa (um bei meinem Beispiel der durch deutsche Dumpinglöhne zerstörten französischen Fleischindustrie zu bleiben) ein „Schotten dicht“ für Menschen, nicht aber für Waren die einheimische Industrie schützen? Oder die Rückkehr zu Protektionismus, der ja gerade Frankreich, vor allem im Vergleich zu Deutschland, ökonomisch zurückgeworfen hat? Und Cameron, das große Vorbild der AfD-Anhänger nach Nigel Farange, zeigt ja mit seinem Boykott der Besteuerung von Transaktionssteuer, wie sehr „EU-Skeptiker“ dem großen Kapital und Spekulantentum an den Kragen wollen!
    Schlimmer freilich noch ein anderes:
    Die Methodik des Umlenkens von (berechtigter) Empörung über Vereinfachung zu Schuldzuweisung, Feindbildern und aggressiv-vereinfachenden Schein„lösungen“ hat sich ja historisch schon vielfach „bewährt“ – mit bekannten Folgen. Und sie kann sich, einen psychologischen Mechanismus nutzend, ausbreiten wie eine Epidemie, indem sie Menschen, die sich als „Opfer“ fühlen (und die es in gewissem Sinn auch sind) mit der Perspektive des Mächtigen, des Rächers, auch des Täters verlockt – während man in Wahrheit nur die Aggressionen auf dem Rücken noch Schwächerer auslässt: in diesem Fall die von Immigranten.

    Damit ist der letzte von Ihnen genannte Punkt der Zuwanderung angesprochen – wobei aber zwischen legaler Migration (meist aus EU-Ländern), illegaler Einwanderung und Asylsuchenden zu unterscheiden wäre. Sicher mit die größten Probleme, für die m.E. auch die EU bisher keine befriedigende Lösung bereit hält (vermutlich gar nicht kann) – die Nationalstaaten aber noch viel weniger.
    Sie irren aber, wenn Sie meinen, „nicht Le Pen & Co“ würden hier zündeln: Denen schwebt nicht nur eine „Festung mit Stacheldraht drumherum“ vor, sondern deren 28! Und ein Sarkozy, im Bestreben, dem FN den Rang abzulaufen, hat nicht nur „die nicht rein“gelassen, sondern auch legal zugewanderte Sinti und Roma „zurückgeführt“.
    Die Abschottung gegen Asylsuchende durch Abschiebung des Problems auf Länder mit „Außengrenze“ ist auch nicht auf dem Mist von „Brüssel“ gewachsen, sondern von mächtigen „Landesfürsten“ auf deren Kosten durchgesetzt.
    Das Hauptproblem ist wohl, dass man nicht einfach abwarten kann, wie die Demagogen sich in der Praxis selbst „entzaubern“. Denn das wäre mit ungeheuren Verwerfungen verbunden, nicht nur in ökonomischer Hinsicht, mehr noch durch den zum Selbstläufer werdenden geschürten Hass. Die rasante Negativentwicklung im Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine sollte da ein ausreichend abschreckendes Beispiel sein.

    Trotz des wenig schönen Diskussionsthemas noch einen schönen Sonntag!

  9. @ #8 Werner Engelmann:

    Wiederum danke für die schnelle und ausführliche Replik. Ich möchte jetzt mit einer ausführlichen Antwort erst einmal etwas warten, damit es keine Debatte a la „Augstein und Blome“ auf PHOENIX wird, und sich hoffentlich noch einige Mitdiskutanten einfinden. Daher nur soviel: in meiner Brust schlagen zwei Seelen, zum einen eine ordoliberale und zum zweiten eine linkssozialistische. Erstere neigt zu Kompromissen, die zweite sagt: Gib‘ „denen“ den kleinen Finger, dann nehmen sie die ganze Hand und fügt hinzu: Zwischentöne sind nur Krampf, im Klassenkampf. Meine eigene politische Vita hat das gespiegelt: Mitte der 60er FDP gewählt, dann wg. Willy in die SPD eingetreten, wegen Schmidt-Schnauze wieder raus, in den 80er bis in die 90er aktiv bei den Grünen, dann wegen Fischer und seiner Mitwirkung an der Agenda 2010 wieder raus und dann 2003/04 Mitgründer der WASG. Und damit kennen Sie meine Sicht auf die Dinge wie ich sie heute habe.

    Ich will Le Pen & Co. beileibe nicht verharmlosen; befürchte auch 2017 eine Koalition zwischen AfD und CDU. Erika Steinbach hat ja lt. HR-Meldung von heute schon mit dem Zaunpfahl gewunken. Da könnte ich ein lustiges Szenario für die kommenden Jahre konstruieren, im Sinne des Spruches von uns Hessen: Gut Nacht, Sannche*. (und weil ein bißchen schwanger eben nicht geht)

  10. Ich würde mich freuen wenn die Beiden die im Moment sich sehr ausführlich mit der Vergangenheit beschäftigen sich ein bisschen mehr der Zukunft zuwenden würden. Was muss denn geschehen und warum um die EU wieder so gut aufzustellen das es solche Wahlergebnisse nicht mehr gibt? Ist es richtig die EU immer weiter auszudehnen? Ich halte Beitrittsverhandlungen mit der Türkei für einfach gesagt Schwachsinn. Ähnlich sehe ich so manchen Beitritt aus dem Osten. Da tritt Ungarn bei und dann stellt man fest das es gar keine Demokratie ist? Natürlich ich kann man das einzäunen der EU trefflich kritisieren, aber wie viele Flüchtlinge kann eine Region mit hoher Arbeitslosigkeit denn aufnehmen, wenn Millionen von Hartz 4 leben?

  11. # 10, Hans: Sie können sicher sein, daß ich auf die Zukunft eingehen werde. Und die Vergangenheit, mit der „wir“ uns beschäftigen, ist gleichzeitig – die Wahl liegt ja gerade mal eine Woche zurück – Gegenwart, mit allen Folgen und Nebenwirkungen für die Zukunft.

    Nur soviel noch, Hans: Warum leben denn Millionen von Hartz 4 und wer ist dafür verantwortlich? Lösen wir das Problem dadurch, indem wir eine striktere, d.h. abwehrend-abweisende Flüchtlingspolitik betreiben? Oder liegt das Problem doch wohl eher in der Spaltung der Gesellschaft, die nicht nur wir hier in Old Germany erfahren? Auch ich bin gegen Beitrittverhandlungen mit der Türkei, weil hier sich ein diktatorisch-islamistisches Regime anbahnt. Aber dann müßten wir auch andere Länder rauswerfen, z.B. Ungarn. Oder wie sieht es mit dem Mutterland der Korruption aus, Italien, angeblich eines der EWG-Gründungsstaaten? Zu den möglichen Gründen, warum Flüchtlinge zu uns kommen, habe ich ja bereits in meinem Beitrag etwas geschrieben. Leider wissen und begreifen nur viele dieser Flüchtlinge nicht, das auch bei uns inzwischen, frei nach Büchner, der Krieg gegen die Hütten voll entbrandt ist.

    Helfen auch Sie vielleicht mit, indem Sie endlich einmal die Verantwortlichen für das Dilemma benennen und Parteien wählen, die diese Leute zur Rechenschaft ziehen wollen. Leider schlägt sich ja unsere Mittelschicht immer auf die falsche Seite, aus Angst? Über die 8000 Euro Monatsgehalt vieler Mittelschichtler, voll versteuert mit 42%, kann ein Investmentbanker nur lachen – die kassiert er in einer Stunde beim (Ab-)Zocken.

  12. Die Frage wie viele Flüchtlinge die Eu aufnehmen soll/will ist aber schon eine wichtige um den Rechten das Wasser abzugraben. Ähnliches gilt für die Osterweiterung. Den Menschen in der dritten Welt hilft man nicht in dem man z.B. eine Million Flüchtlinge aufnimmt sondern indem man das für die Flüchtling verbrauchte Geld in eine vernünftige Entwicklungspolitik steckt. Also man sollte die Menschen die aus freien Stücken mit Nussschalen auf da Mittelmeer rausfahren retten und zurück bringen.

  13. Übrigens der Grund warum ich nicht mitmache bei dem Thema zu weit links wählen ist ganz einfach. Es gibt leider kein Beispiel in dem das zu besseren Lebensverhältnissen für den kleinen Mann geführt hat. Ich denke dass das skandinavische Modell das Vorbild sein sollte. jetzt kann man darüber streiten wen man dafür wählen soll, aber die Linke ist es nicht.

  14. Je regrette, aber wenn dies hier eine Dreier-Veranstaltung bleiben sollte, gehe ich künftig lieber auf eine andere Wiese zum Grasen. Ein Blog, dessen Teilnehmer auch eine Skatrunde betreiben könnten, ist mir für die Absonderung von Gehirnschmalz zu schade und zu wenig.

  15. Wer auch nur einen Moment gedacht hat das es eine Alternative ist die Linke zu wählen konnte sich heute in der FR von der Sinnlosigkeit dieses tun überzeugen.

  16. Von den nationalen Regierungen können wir nicht erwarten, dass sie sich an die Spitze der Entwicklung stellen. Die Einigung Europa durch eine Abnahme der Bedeutung der Nationen kommt im Wirtschaftsbereich und im Privaten.
    Ein schönes Beispiel, wie weit wir es noch zu einem gemeinsamen Europa haben, zeigt die Einmischung der französischen Regierung in den Übernahmekampf um Alstom. Alstom ist ein internationaler Konzern, in dem unter anderem die deutsch-schweizerische BBC aufgegangen ist. Nur 9’000 von 65’000 betroffenen Mitarbeitern arbeiten in Frankreich. Die französische Regierung will jetzt diese „französische“ Firma durch eine „patriotische“ Wirtschaftspolitik vor der Übernahme durch die „amerikanische“ General Electric schützen. General Electric hat in Frankreich 10’000 Mitarbeiter, also mehr als der betroffene Energieteil von Alstom. Für die Wirtschaft sind nationale Kategorien längst überholt. Francois Hollande erinnert an den anachronistischen Wilhelm II in seiner Operettenuniform vor einem Hochofen von Krupp.
    Aber das dies so anachronistisch wirkt, ist andererseits doch auch ein gutes Zeichen.
    Ob es eine linke oder rechte Regierung ist, spielt dabei übrigens nur eine sehr untergeordnete Rolle.
    Ich glaube auch, dass im persönlichen Bereich die Nationen langfristig an Bedeutung in Europa verlieren werden. Die Menschen werden mobiler und der Anteil der bi-nationalen Ehen steigt kontinuierlich.
    Natürlich werden diese Prozesse noch lange dauern und es werden noch Umwege eingeschlagen werden. Aber ein Rückfall in die Nationalstaaten der früheren Jahrhunderte ist nicht möglich.
    Seien wir also optimistisch. Die Einigung Europas ist nicht aufzuhalten.
    Wenn irgendwann bei der Fussball-WM die EU eine Mannschaft stellt, wenn sich niemand mehr an den Front National oder die AfD erinnern.

  17. @ hans, #10
    „Ich würde mich freuen wenn die Beiden die im Moment sich sehr ausführlich mit der Vergangenheit beschäftigen sich ein bisschen mehr der Zukunft zuwenden würden. Was muss denn geschehen und warum um die EU wieder so gut aufzustellen das es solche Wahlergebnisse nicht mehr gibt?“
    – Berechtigter Hinweis, allerdings nur unter 2 Voraussetzungen: Dass (1) Vergangenheit und Zukunft nicht als Gegensätze begriffen werden und (2) die Zukunft nicht auf Antworten auf aktuelle Probleme reduziert wird.
    Zu (1)
    Erst aus intensiver Beschäftigung mit der Vergangenheit entwickeln sich Perspektiven für die Zukunft. Wann wäre dies besser deutlich zu machen als am Jahrestag des D-Days mit seinem ungeheuren Blutzoll? Welchen Sinn soll eine EU heute und in Zukunft haben, wenn nicht die Idee des Friedensprojekts und damit auch die Definition der Wertegemeinschaft als entscheidende Kriterien an oberster Stelle stehen?
    Zu (2)
    Bemerkenswert ist: An eben diesem Höhepunkt kriegerischer Auseinandersetzung hat Robert Schuman die Idee von der europäischen Integration als historischer Notwendigkeit entwickelt, der – zumindest in der Verfasstheit als Wertegemeinschaft – die heutige EU im Wesentlichen entspricht. Er hat damit auf lange Sicht die entscheidenden Kriterien vorgegeben, an denen auch aktuelles politisches Handeln zu messen ist.
    Das Problem heute ist m.E., dass es an weitsichtigen Politikern fehlt, die bereit und in der Lage wären, EU-Institutionen wie auch ihr eigenes Handeln einer solchen Prüfung zu unterziehen. Und ich stimme Henning Flessner (#16) völlig zu, dass dies vor allem für die nationalen Regierungen gilt. Einerseits, weil sie selbst zu sehr in nationalen Denkkategorien befangen sind, um mit dieser Idee von Europa etwas anfangen zu können (Orban, Cameron, aber auch Merkel), andererseits, weil dies Beschneidung ihrer eigenen Macht bedeutet.
    Darum geht es – ganz aktuell – natürlich auch in der Sache Juncker. Hinter dem Vorstoß des EU-Parlaments, Spitzenkandidaten zu präsentieren, steht der Versuch, den Konstruktionsfehler der Übergewichtung des Ministerrats (also faktisch der Quasi-Allmacht der nationalen Staatschefs) zumindest teilweise zu korrigieren. Umso wichtiger also (und unabhängig davon, was man von Herrn Juncker hält), dass der Erpressungsversuch eines David Cameron vom EU-Parlament, ggf. auch mit Unterstützung „der Straße“, abgewehrt wird. Mir erscheint dies praktisch nur machbar mit einer Art „großen Koalition“ mit entsprechender Einbindung von Martin Schulz (etwa als Koordinator der Kommission).
    Vgl. dazu Kritik in Wikipedia, Art. „Rat der Europäischen Union“: „Da der Rat Aufgaben der Legislative erfüllt, seine Mitglieder in den entsendenden Mitgliedstaaten jedoch Teil der nationalen Regierungen, also der Exekutive sind, gilt er als ein typischer Fall von Exekutivföderalismus. Kritiker sehen darin einen Widerspruch zum Prinzip der Gewaltenteilung und einen Grund für das wahrgenommene Demokratiedefizit der EU. Dabei wird häufig das sogenannte Spiel über Bande kritisiert, bei dem Regierungen Gesetzesvorschläge, für die es auf nationaler Ebene keine Parlamentsmehrheit gibt, über den Umweg der europäischen Gesetzgebung durchzusetzen versuchen.“

    @ Wolfgang Fladung, #11
    „Auch ich bin gegen Beitrittverhandlungen mit der Türkei, weil hier sich ein diktatorisch-islamistisches Regime anbahnt. Aber dann müßten wir auch andere Länder rauswerfen, z.B. Ungarn.“
    – Zustimmung insofern, dass Kriterien (Kopenhagener Kriterien), die für die Aufnahme in die EU gelten, auch innerhalb der EU gelten müssen. Und prinzipiell muss auch die Möglichkeit des Ausschlusses gegeben sein. Dem müsste natürlich der Ausschluss der ungarischen Fides aus der EVP-Fraktion vorausgehen, wo sie absolut nichts verloren hat. (Ob vielleicht deshalb Orban und Cameron Juncker um jeden Preis verhindern wollen?)
    – Bei der Türkei-Diskussion sollte man aber nicht den Strategien der Rechtspopulisten auf den Leim gehen. Das Problem der Aufnahme der Türkei unter einem Erdogan stellt sich gegenwärtig gar nicht, da sie eindeutig die Kriterien nicht erfüllt. Das Hochspielen der (schon seit annähernd 20 Jahren laufenden!) Beitrittsverhandlungen durch Rechtspopulisten hat erkennbar zwei Ziele:
    (1) zu verhindern, dass man sich mit der demokratischen Oppositionsbewegung in der Türkei befasst. (2) Islamhass zu schüren und innere Auseinandersetzungen zu provozieren.
    Aufschlussreich hierzu die Reaktionen der AfD-Gemeinde in Faz.net zu diesen Themen: Niemand, der sich zu (1) äußert, sehr viele dagegen, die von Erdogan direkt auf „demokratieunfähigen“ Islam schließen, und auch viele, die ihn zur Hetze gegen den „Doppelpass“ benutzen.
    Nun geben NPD-Strategen auch Folien für weitere Entwicklungsmöglichkeiten vor: „Ausländerfreie Zonen“ sind ja auch lesbar als „islamfreie Zonen“.

    @ Henning Flessner, #16
    „Von den nationalen Regierungen können wir nicht erwarten, dass sie sich an die Spitze der Entwicklung stellen. (…)
    Ich glaube auch, dass im persönlichen Bereich die Nationen langfristig an Bedeutung in Europa verlieren werden. Die Menschen werden mobiler und der Anteil der bi-nationalen Ehen steigt kontinuierlich.
    Natürlich werden diese Prozesse noch lange dauern und es werden noch Umwege eingeschlagen werden. Aber ein Rückfall in die Nationalstaaten der früheren Jahrhunderte ist nicht möglich.“
    – Zu 1: völlige Zustimmung (siehe Hinweise oben)
    Zu 2 und 3: Ob das nicht Wunschdenken ist? Bi-nationale, russisch-ukrainische Ehen gibt es auch zu Hauf vor allem in der Ostukraine – was die gegenwärtige Entwicklung und die damit verbundene Tragik gerade für solche Familien in keiner Weise verhindert hat.
    Sie beschreiben objektive Entwicklungsprozesse. Ob diese sich aber durchsetzen, hängt auch wesentlich von Bewusstseinsstand und Handlungsvermögen von Subjekten ab. Im Grunde haben sich Nationalstaaten objektiv bereits seit der Industrialisierung überlebt. Auch das hat „Umwege“ in Form von 2 Weltkriegen nicht verhindert. Der britische Historiker Christopher Clark („Die Schlafwandler“) nennt diese Entwicklung die schlimmst denkbare. Er weist übrigens darauf hin, dass die Kriegsbegeisterung zu Beginn des 1. Weltkriegs keineswegs so groß war wie allgemein angenommen. Diese fand sich vor allem in bürgerlichen Schichten, auch bei Intellektuellen, nicht aber bei Arbeiterschaft und Landbevölkerung.
    Wenn ich heute lese, was sich da in Internetforen an Zerstörungswut, vor allem gegen die EU, breitmacht, kommt mir schon das Schaudern. Und auch hier halten sich die meisten für besonders intellektuell, sprechen Andersdenkenden den „gesunden Menschenverstand“ ab (Lieblingswort). Ähnlich lassen sich auch hier, m.E. dem bloßen Bauchgefühl entstammende, Erwartungen einer Art „Reinigung“ erkennen, wenn nur erstmal die „korrupte, kriegslüsterne EUdSSR“ zerschlagen ist. M.E. Vorstellungen durchgedrehter Spießer (Marx sieht darin die ambivalente kleinbürgerliche Klassenlage), die durchaus ansteckend und gefährlich werden können. In #9 habe ich dies am Beispiel Frankreich zu analysieren versucht.
    Natürlich haben solche Bewegungen keinerlei positiven Strategien anzubieten. Das Problem aber ist, dass es bei der, in der Regel komplexbeladenen bloßen Anti-Haltung, vor allem gegen alles Fremde, was den eigenen beschränkten Horizont überschreitet, so gut wie keinen rationalen Zugang gibt. (Siehe oben: Anti-Doppelpass-Hetze – ein Roland Koch hat damit 2 Wahlen gewonnen!).
    M.E. gibt es nur den Weg, die hohlen Phrasen und die Heuchelei ihrer geistigen „Führer“ zu entlarven.
    Dazu ein Beispiel:
    In Frankreich wird zur Zeit die politische Analyse von Eric Bassin über französische politische Strategien gegenüber Zuwanderer, vor allem Roma, diskutiert. So von Nicolas Sarkozy. Der hat seinerseits schon als Innenminister von Chirac mit der Bemerkung auf sich aufmerksam gemacht (und damit wohl auch die 1. Präsidentschaftswahl gewonnen), er werde die französischen Vorstädte (er meinte damit jugendliche Einwanderer, vor allem marokkanischer Herkunft) „mit dem Kärcher reinigen“. (Man beachte die Annäherung an Nazi-Terminologie!)
    Eric Bassin zeigt nun auf, dass französische Strategie nicht nur vorhandene Vorurteile aufgreift und verbreitet, sondern auch deren Ursachen erst schafft. Da nun Roma als EU-Bürger nicht auszuweisen sind (oder, wie gehabt, in spätestens 3 Monaten wieder da sind), werden ihre Lebensbedingungen zur Abschreckung in den „bidonvilles“ so unerträglich wie nur möglich gestaltet. So etwa, indem sich manche Städte der rechtlichen Verpflichtung, etwa für Müllabfuhr zu sorgen, entziehen und so bewusst Vorurteile von Anwohnern schüren. (Leider wurden in dem Beitrag keine Namen genannt, es ist aber zu vermuten, dass es sich um solche handelt, die vom Front National regiert oder beeinflusst werden.)
    So etwa stelle ich mir aufklärerische Arbeit vor (vorausgesetzt, die Fakten stimmen). Meinen französischen Freunden sage ich da (etwas verallgemeinernd): Was vom FN als angeblich von „Brüssel“ verursacht kritisiert wird, ist fast alles „made in France“.
    Ähnliche Verhältnisse soll es in Deutschland ja auch geben: so, was Dumpinglöhne an „Fremdarbeiter“ (Oskar Lafontaine) angeht oder deren skrupellose Ausbeutung durch Vermieter in Wohnhöhlen. Von Cem Özdemir habe ich neulich erstmals einen Hinweis auf letzteres gehört. Von politischen Initiativen in dieser Richtung ist mir noch nichts bekannt.

    Was konkrete Ausrichtungen und Forderungen für EU-Politik angeht, wie etwa betr. TTIPP, NSA, Bankenregulierung, Transaktionssteuer, Flüchtlingsproblematik u.a.: Es wäre vermessen, als Einzelner endgültige Weisheiten ausspucken zu wollen, was in einem demokratischen Prozess zu diskutieren und zu entwickeln wäre.
    Es gibt viel zu tun. Zuviel, um die Hände in den Schoß zu legen und auf Eingreifen des Heiligen Geistes zu warten.
    In diesem Sinne ein schönes Pfingstwochenende – mit oder ohne Beistand „von oben“!

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