Das Rad scheint sich zurück zu drehen

Die Bundesrepublik, so scheint es zumindest, erlebt derzeit einen Rechtsruck. 50 Jahre nach 1968 ist Nationalismus wieder salonfähig, als wäre er eine Lösung. Die Frage ist, was eine solche „Rückbesinnung“ tatsächlich an Lösungen für gegenwärtige Probleme brächte – denn es war noch nie richtig oder klug, auf Probleme der Zukunft mit Antworten aus der Vergangenheit zu reagieren. Oder? Die Europäische Union war schon mal weiter, meint Henning Schramm aus Frankfurt, dessen Leserbrief ich um etwa die Hälfte gekürzt im Print-Leserforum der FR veröffentlicht habe. Hier kommt die ungekürzte Fassung als Gastbeitrag im FR-Blog.

Das Rad scheint sich zurück zu drehen

Von Henning Schramm

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Wir begehen gerade den 50. Jahrestag der 68er-Ereignisse. Viele der Beteiligten beriefen sich damals bei ihren Aktionen auf die in Frankfurt beheimatete ‚Kritische Theorie‘. Alexander Kluge sagte einmal in einem Interview: Die Kritische Theorie sei nicht nur eine Theorie, sondern eine Haltung. Eine Haltung, die eine offene Gesellschaft einfordert, eine Haltung auch, die sich gegen die Verharmlosung der Aktivitäten der alten und neuen Nazis in Deutschland wendet, die Menschen stärkt, die sich einer repressiven Egalität des Totalitarismus entgegenstellen und die nicht zuletzt Verantwortung für die Welt übernimmt und sich gegen die Ausplünderung der Dritten Welt stark macht.

Nimmt man diese Anspruchshaltungen als Maßstab, scheint sich heute das Rad zurückzudrehen.

Die Distanz gegenüber der Anziehungskraft, welche die herrschende Realität ausübt (die z.B. durch die sozialen Medien und die Wahrnehmungsverzerrung durch die überbordende Talk-Show-Flut beeinflusst ist), scheint der Vergangenheit anzugehören, seit die Angst vor dem Rechtsruck die politischen Diskurse bestimmt und nationalistisch-populistischem Gedankengut Tür und Tor öffnet. Und dies nicht nur innerhalb der bürgerlich-konservativen Parteien, sondern auch in Teilen des linken Spektrums. Wenn Sahra Wagenknecht meint, dass nur in einem abgeschotteten Nationalstaat soziale Politik gemacht werden kann, hat sie – und mit ihr auch alle diejenigen, die einer nationalstaatlichen Abschottungspolitik huldigen – nicht verstanden, wie die Welt im 21. Jh. tickt. Ganz abgesehen davon, dass sie den Europagedanken desavouiert und, wie Stephan Hebel richtig argumentiert, die rechte Rhetorik und reaktionäres Gedankengut hoffähig macht.

Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass in dem Verfassungsentwurf der EU, der am 29. Oktober 2004 von allen Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichnet wurde (dann aber infolge eines ablehnenden Referendums durch Frankreich und die Niederlande nicht ratifiziert wurde), das identitätsstiftende Moment für die darin lebenden Völker nicht mehr durch den Raum (wie das die radikale Rechte für sich definiert) und die Staatlichkeit, sondern durch die Zugehörigkeit und durch Verantwortlichkeit für ein übergeordnetes Ganzes bestimmt wird. Das scheint mir im globalen Maßstab ein gangbarer Ansatzpunkt, der von den nationalen Egoismen wegführt, hin zu einem politischen Universalismus. Aber noch visionärer ist der Artikel I-4, Absatz 4. Er sagt u.a.: Die Union leistet einen Beitrag zu Frieden und Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte.

Wie weit hat sich Europa, wie weit haben sich Deutschland und sogar Teile der Linken (wie das dankenswerterweise der Artikel von Hebel analysiert hat) heute von dieser Vision und diesen Ansprüchen entfernt!

Angestoßen durch das Aufbegehren der 68er, das das Ende der 20-jährigen Dominanz des Konservativismus einleitete, hatte die deutsche Politik seither zwar, wenn auch häufig sehr widerwillig, der Vergangenheit ins Gesicht gesehen, aus ihr gelernt und entsprechende vernünftige Schlüsse gezogen (zumindest was die Nazivergangenheit und den Demokratisierungsprozess anging). Und es schien lange Zeit so, dass die Gesellschaft sich unumkehrbar einer liberalen, verantwortlichen Diskussionskultur geöffnet hat. Die Gesellschaft war mutiger geworden, hatte Experimente zugelassen und ein Bewusstsein entwickelt, das Nein sagen und Widerstandleisten erlaubt. Aber man muss heute konstatieren, dass diese Unumkehrbarkeit dieser demokratischen Kultur in höchster Gefahr ist.

Es ist also allerhöchste Zeit, dass wir alle uns der Verantwortung stellen und endlich unseren solidarischen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Welt und Beseitigung der Armut leisten. Wir alle in den westlichen Staaten wissen, dass wir nicht unschuldig am heutigen Zustand der Welt, insbesondere in Afrika, sind und sollten uns den gegenwärtigen ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen sowie der Schuldfrage aus der Vergangenheit stellen, wie wir es auch gegenüber den Naziverbrechen schon getan haben.

Eine langfristige Lösung der Migrationsproblematik ist nur möglich, wenn wir uns der Welt öffnen und den armen Ländern dieser Welt ohne Wenn und Aber nachhaltig helfen und dazu nicht nur viel, viel Geld für deren Entwicklung in die Hand nehmen, sondern auch die ökonomischen Parameter entsprechend anpassen.

Wie bei der Klimapolitik steht in der Flüchtlings- und Migrationsfrage die Uhr kurz vor 12. Diese weltweite Problematik mit weit über 60 Millionen Binnen- und grenzüberschreitenden Flüchtlingen ist ebenso wie die Klimaproblematik nicht nationalstaatlich lösbar. Beides wird uns überrollen, wenn wir nicht unverzüglich politische, soziale und ökonomische Schritte mit dem Ziel einleiten, allen Menschen eine würdige Existenz über die nationalen Grenzen hinweg zu ermöglichen und die Erosionskrise des solidarischen Zusammenhalts in der Gesellschaft, die eine Identitätskrise nach sich ziehen könnte, überwinden zu helfen. Gerade letzteres hat in der Spektakelkultur der autoritären Rechtspopulisten einen hohen Stellenwert, denen die liberale Demokratie nicht das Feld überlassen darf.

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31 Kommentare zu “Das Rad scheint sich zurück zu drehen

  1. Henning Schramm trifft hier den Nagel auf den Kopf: „Die Distanz gegenüber der Anziehungskraft, welche die herrschende Realität ausübt, scheint der Vergangenheit anzugehören, seit die Angst vor dem Rechtsruck die politischen Diskurse bestimmt und nationalistisch-populistischem Gedankengut Tür und Tor öffnet. Und dies nicht nur innerhalb der bürgerlich-konservativen Parteien, sondern auch in Teilen des linken Spektrums …“.

    Da ist zum einen die Anziehungskraft der herrschenden Realität, die sich vor allem in einem die Menschen schier erschlagenden Konsumismus abbildet, das „Selber denken“ (Harald Welzer)immer weiter beeinträchtigt und den Widerstand gegen die Verhältnisse bricht.

    Da ist zum Anderen die mehr als berechtigte Angst vor dem Rechtruck, Nationalismus und Rassismus. Es ist aber auch eine lähmende Ohnmacht vor der „herrschenden Realität“, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen breit gemacht hat: „Wir können doch eh nichts dagegen tun.“ – Uns sind doch die Hände gebunden.“ und und und. Gepaart mit einer unglaublichen Gleichgültigkeit vor den sich neu entwickelnden Herrschaftsverhältnissen etwa der digitalen Megakonzernen (nur ein Beispiel). An die Stelle tritt die Spielsucht, die Dauerunterhaltung.

    Und da ist – wie Henning Schramm richtig sagt – das Problem des Unkritischen und der blinden Flecken, nicht nur im bürgerlich-konservativen Lager, sondern leider auch bei Teilen der Linken. Und da muss ich, so leid es mir tut, wieder die Gallionsfigur Sahra Wagenknecht nennen, die es der Linken sehr schwer macht, ihre sonst so klare Botschaft an die Rechten und ihre Grenzen öffnende Europapolitik glaubwürdig zu vertreten.

    Ich rätsele, was Wagenknecht umtreibt, den Europagedanken, eine liberale Flüchtlingspolitik so zu „desavouieren“ (Stephan Hebel, s.o.)?
    Das ist sowas von kontraproduktiv, dass einem der Kragen platzen kann!

    Bevor wir überhaupt von einer Vision reden können, ist doch die kritische Distanz zu den herrschenden Verhältnissen (wieder-)herzustellen. Und da sehe ich zur Zeit schwarz. Neben den nationalistischen und autokratischen politischen Entwicklungen (und da ist etwa ein Trump gefährlicher als ein Putin, weil er unmittelbar die Demokratie beschädigt), gehen die Scheren zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander und Menschenrechtsverletzungen (die Ertrinkenden im Mittelmeer, die Zustände in den Lagern und und und). Die Ohnmacht der Menschen wächst. Der Untertanengeist kriecht aus seinen schummrigen Verliesen.
    Wenn Europa verloren geht, und das ist keine billige Apokalypse, dann ‚Gnade uns Gott!‘

  2. Ich bin zwar einige Jahre zu jung um sich zu den 68igern zählen zu dürfen aber das was hier so steht scheint mir ein bisschen überhöht. Nach meiner Meinung ist das einschneidende Ereignis der Zusammenbruch das Ostblocks gewesen. Bis dahin gab es zwei konkurrierende Systeme die dazu führten das es den kapitalistischen Völkern mit ihrem Überlegenen Marktwirtschaftlichem System immer besser ging. Dieses System funktioniert aber nur wenn man dem Markt soziale Regel gibt. Diese Regel meinte man nach dem Zusammenbruch der planwirtschaftlichen System verändern oder abbauen zu können. Deshalb dreht sich das Rad rückwärts. Wenn man das aber übertreibt ist das auf einmal nicht mehr Mehrheitsfähig weil es zu viele Verlierer gibt. Jetzt steht der Kapitalismus vor dem Problem die Umverteilung wie früher aus Selbsterhaltungsgründen zu stoppen und die Linke muss erkennen das es ihr nicht gelungen ist die alten Errungenschaften zu halten. Viele Bürger wählen halt nur noch Protest. Das wird sich auch erst ändern wenn die Fehler der letzten 20 Jahre korrigiert werden, aber dazu muss man das erst einmal einsehen. Die Flüchtlinge sind nur der Startschuss für diese Entwicklung des Protestwählens gewesen. Wenn es so weiter geht wie bisher und die AFD sich nicht völlig dumm anstellt werden sie in einigen Jahren stärkste Partei hier im Land sein. Vor diesem Hintergrund ist es schon fast lustig was die CSU aufführt. Die haben den Schuss noch nicht gehört.

  3. @ Jürgen Malyssek

    „Neben den nationalistischen und autokratischen politischen Entwicklungen (und da ist etwa ein Trump gefährlicher als ein Putin, weil er unmittelbnar die Demokratie beschädigt)…“

    Was Trump und Putin anbetrifft, haben Sie recht. Denn wie kann jemand (Putin) die Demokratie beschädigen, wenn sie in seinem Land gar nicht existiert?

    Zu Henning Schramm:
    Die Verantwortlichkeit für ein übergeordnetes Ganzes, der poltitische Universalismus, den Schramm fordert, ist ein erstrebenswertes Fernziel, das nur in kleinen Schritten zu erreichen ist. Wenn man die europäische Geschichte betrachtet, so erkennt man, dass aus dem Zusammenschluss vieler Regionen erst die Nationslstaaten entstanden sind, dann wurde aus 28 Nationalstaaten mittlerweile ein vereintes Europa mit Tendenz zum weiteren Wachstum gebildet (mit Ausnahmen). Das ist, so meine ich, schon sehr viel, denn man darf die Menschen nicht überfahren und überfordern, indem man den zweiten Schritt vor dem ersten tut.

    Man kann doch wirklich nicht leugnen, dass wir in den letzten 60 Jahren, verglichen mit der Nachkriegssituation, schon erstaunlich weit gekommen sind, dass wir in einem weitgehend offenen und vor allem friedlichen Europa leben, in dem die Idee von der Verantwortlichkeit füreinander schon weitgehend umgesetzt und sowohl die Bewegungsfreiheit als auch die gegenseitige Teilhabe am Sozialsystem der Partnerländer ermöglicht wird.
    Einige Bevölkerungen (Ungarn, Polen etc.) fühlen sich bereits dadurch an die Grenzen des Verkraftbaren geführt, und man sollte deren Ängste und Abwehr nicht leichtfertig verurteilen, denn sie beruhen ja auf je eigenen, z. T. schmerzlichen Erfahrungen.

    Wenn man das feststellt, muss man die Geschwindigkeit drosseln und auf eine selbstgesteuerte Entwicklung hoffen. Schließlich standen sich noch vor 60 Jahren die einzelnen Regionen Deutschlands fremd und misstrauisch gegenüber, dann wurden die „Gastarbeiter“ aus den südeuropäischen Ländern voller Abwehr beäugt, heute ist man immer näher zusammengerückt, die ehemaligen Feinde aus dem zusammengebrochenen Ostblock eingechlossen.

    Bis eine noch breitere Öffnung, die andere Erdteile einschließt, erfolgen kann, muss erst einmal der Zusammenschluss innerhalb eines Kontinents funktionieren. Wenn die Öffnung, wenn die Ausweitung internationaler Zusammenschlüsse zu schnell vonstatten geht, besteht die Gefahr der Gegenbewegungen. Das muss man berücksichtigen und klug in die politischen Strategien einbeziehen, anstatt nur zu lamentieren und zu verurteilen.

  4. @ hans

    Gut und richtig: Der Zusammenbruch des Ostblocks. Und: Die Achtundsechziger sollen auch nicht überhöht werden. Aber die Verdienste sollten wir auch nicht mehr kleinreden. Und über das, was sich nicht verwirklicht hat.
    Ich wollte nur nochmal betonen, dass die „Errungenschaften“ der Linken sowieso schwer festzumachen sind. Als Gesamtpartei existiert sie erst seit gut 12 Jahren und das in der Opposition. Die Frage ist eher nicht, was es an Errungenschaften zu halten gab, sondern, wie wichtig ist die Linke für die gesellschaftspolitische Zukunft Deutschlands ist – angesichts der wohl stärker werdenden AfD und vor dem Hintergrund des bisher geschilderten Rechtsrucks?
    Über die desaströse Entwicklung der Sozialdemokraten verliere ich hier weiter kein Wort.
    Dass „die CSU den Schuss noch nicht gehört hat“, scheint so. Aber die verballern selber soviel Munition, dass sie schwerlich die anderen Schüsse hören kann.

  5. Weil das Beste nicht von Menschenhand gemacht, sondern von Natur aus gegeben ist, kommt es politisch lediglich darauf an, was der Einzelne darüber vermag, solange noch ein Interesse daran besteht, sein eigenes Handeln aus freien Stücken heraus darin einzufügen. Sich angesichts dessen widerständig zu zeigen, verkehrt deshalb nicht allein das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in sein schieres Gegenteil; was womöglich noch zu verschmerzen wäre. Vielmehr legt das in Rede stehende Gebaren es darauf an, gleichsam mit dem Kopf durch die Wand zu gehen; was äußerst infantil ist, wie der britische Nobelpreisträger Harold Pinter in der Frankfurter Rundschau bereits vor Jahren kritisierte. Anders gesagt: Gäbe es weniger Kindsköpfe, deren Adoleszenzphase mitunter bis in die späten dreißiger Jahre ihres Lebens reicht, wie der Wirtschaftswissenschaftler Karl Georg Zinn von der RWTH Aachen ebenfalls schon mit Abscheu feststellte, besäße die allgemeine Lebensnot (Freud) keine solch unerträgliche Schärfe. Insoweit also völlig unstrittig ist, dass ein voraussetzungsloses Rebellentum lediglich ein Ausweis davon ist, intellektuell bestenfalls auf dem Stand eines 8-Jährigen stehen geblieben zu sein, stellt sich vorrangig die Frage, warum sich der reife und eigenständige Teil der Bevölkerung daran messen soll und was in Wirklichkeit der gültige Maßstab ist, wie nicht zuletzt Herr Schramm anhand seines Leserbriefs wissen will.

  6. Zur kritischen Theorie:

    Vielleicht lohnt sich auch ein interessierter Blick in die zukünftige Arbeit des Instituts für Sozialforschung der Uni Frankfurt, wo der Sozialphilosoph Martin Saar die Nachfolge von Axel Honneth angetreten ist. Bei den Römerberggesprächen im April (’68 – What’s left) waren von Martin Saar folgende Sätze zu lesen: Wenn etwas übrig geblieben sei von ’68, dann wohl dieser Traum. Da fehle etwas, das es jetzt nicht gibt. Aber wenn es sich (re-)konstruieren lasse, dann wohl „auf den Trümmern und auch mit den Elementen von ’68.“ Oder? (FR 30.04/1.05.). Martin Saar spricht u.a. vom ‚Denken auf der Höhe der Zeit‘.

  7. zu @ Jürgen Malyssek
    Sollte die AFD sich ähnlich zerstritten, die nächsten 12 Jahre , zeigen wie die Partei der Linken werden sie auf Dauer auch ähnlich erfolgreich sein. Ich denke das wird aber leider so nicht passieren.
    Die SPD ist offensichtlich nicht in der Lage eine gemeinsame Position zu entwickeln, weil sie sich Streit, vielleicht auch sogar zu recht, wohl nicht getrauen.
    Um so mehr sich die Grünen zu einer Partei der Mitte entwickeln um so weniger Streit haben sie.
    Das zeigt das Frau Wagenknecht zwar recht hat wenn sie eine linke Bewegung gründen will , das aber völlig aussichtslos ist und man eigentlich verstehen kann das immer mehr Wähler sich abwenden.

  8. @ hans

    Ich kritisiere auch die Streitigkeiten in der der Führung der Linken. Die Mitgliederschaft ist da schon reifer geworden.
    Die Linke ist inzwischen eine recht junge Partei geworden. Da ist viel Potenzial für die Zukunft.
    Das mit der linken Sammlungsbewegung habe ich an anderer Stelle bereits kritisiert („Rohrkrepierer“).

    Ob und wie die AfD sich in den nächsten Jahren streitet und spaltet, kann ich nicht sagen. Aber das ist bei dieser Partei und bei dieser Gesinnung nicht so entscheidend. Die Gefolgschaft wird stabil bleiben oder weiter wachsen.
    Zur Zeit haben die Grünen starke Führungsfiguren in Habeck und Baerbock.

    Bestand haben für mich weiterhin die Kernaussagen von Henning Schramm oben.

  9. zu @ Jürgen Malyssek
    Der Leserbrief von Herr Schramm ist ja auch ganz nett und wenn sich jemand einreden will das die 68iger Bewegung die Welt verändert hat soll er das auch von mir aus tun wenn es ihn glücklich macht. Ich bin eh ein paar Jahre zu jung um darüber sich ein Urteil erlauben zu können. Ich glaube aber nicht das die 11 Millionen Rentner die eine Rente unter 1000 Euro im Monat haben die Millionen Arbeitslosen, Hatz 4 Empfänger, Leiharbeiter und befristet Beschäftigte diesen Leserbrief als besonders hilfreich b.z.w. als Kernaussage zu den Problemen ihres Lebens ansehen werden. Selbst der Arbeiter bei VW wird wohl Angesichts der anstehenden Strafzölle sich eher für andere Aussagen interessieren. Ich denke das wir da wieder beim Zusammenbruch des Ostblocks sind und weniger bei den 68igern wenn man den Problemen dieser Menschen auf den Grund gehen will. Übrigens beschreibt ihre durchaus ehrenwerte Position exakt die Probleme die die Linke hat.

  10. So Recht ich Henning Schramm in vielem gebe, insbesondere in der Forderung, „uns der Welt zu öffnen“ – eine Verbindung der Analyse mit einem nostalgischen Rückblick auf „die 68er“ erscheint mir wenig hilfreich.
    Wenn ich mich dennoch darauf einlasse, dann nur deshalb, weil bei „den 68ern“ Modelle politischen Denkens, Fühlens und Handelns zu erkennen sind, die in besonders deutlichem Kontrast zu dem stehen, was wir heute insbesondere bei nationalistischen Bewegungen feststellen müssen.
    Keinesfalls kann es darum gehen, zur Überhöhung ihrer (angeblichen oder wirklichen) Wirkung beizutragen. Das ist hier auch nicht das Thema.

    Hans hat hier einen Aspekt eingebracht, dem nachzugehen mindestens ebenso sinnvoll erscheint: Nämlich den Gedanken, dass die Zurückdrängung sozialer Ausrichtung der „Marktwirtschaft“ zugunsten eines ungebändigten Raubtier-Kapitalismus auch mit dem Zusammenbruch des „kommunistischen“ Systems und damit fehlender Systemkonkurrenz zusammenhängen könnte.
    Ich möchte daher diese beiden Gedankenstränge im Folgenden miteinander verbinden.

    Die 68er waren wesentlich geprägt:
    (1) von einem hohen moralischen Anspruch (in Abgrenzung von Faschismus und Verdrängungshaltung der Elterngeneration), den sie freilich überwiegend selbst nicht einlösen konnten und der, in der Verhaftung mit „hilflosem Antifaschismus“ (W:F.Haug) auch zur ideologischen Zersplitterung beitrug,
    (2) von internationalistischem Denken (Protest gegen den Vietnam-Krieg, Solidarisierung mit Befreiungsbewegungen der 3. Welt) und
    (3) von einer prinzipiell positiven Weltsicht, mündend in der Erwartung, durch eine Massenbewegung von unten die versteinerten gesellschaftlichen Verhältnisse „zum Tanzen bringen“ und langfristig verändern zu können.

    Bez. aller drei Aspekte ist das, was wir heute beobachten müssen, das gerade Gegenteil.

    Besonders schlimm natürlich der Befund zu (1):
    Hier muss nicht nur Akzeptanz von Unmoral und Aufgabe der Suche nach Wahrheit als Motor der Geschichte festgestellt werden, sondern (besonders unter der Ägide eines Trump) noch weit mehr – die Verkehrung jeglicher Werte in ihr Gegenteil: Menschenverachtung, Brutalität, ein ganzes Lügensystem – mithin, was an schlimmsten Perversionen im Menschen schlummert, als politische Richtschnur und neue „Moral“.
    Um hier den von Hans angesprochenen Aspekt einzubringen:
    Man kann das durchaus auch als „Überbau“ eines aus den Fugen geratenen kapitalistischen Systems bezeichnen, das – von der Notwendigkeit des Nachweises auch moralischer Überlegenheit gegenüber dem „kommunistischen“ System befreit – seinen nackten Raubtiercharakter ungehindert entfalten konnte.
    Ein Trump ist in dieser Hinsicht eben nicht der „Kämpfer“ gegen „das Establishment“, sondern ganz im Gegenteil: die sinnfällige Erscheinungsform der im ungebändigten Kapitalismus angelegten gesellschaftlichen Perversionen.

    Zu 2)
    Nationalismus (der im Gegeneinander notwendigerweise selbstzerstörerische Kräfte in sich trägt) als neuerdings sich ausbreitende Ideologie ist sicher auch in dem Zusammenhang zu sehen, dass – im Zuge der „Globalisierung“ – sowohl eine Bewegung „von unten“ (68er) als auch die Politik von „oben“ (europäische Einigungsbewegung) durch die ökonomisch Mächtigen ihres internationalistischen Ansatzes beraubt wurden: Internationalismus wird durch den herrschenden Casino-Kapitalismus nicht nur desavouiert, er löst sogar als Erfahrung der „Fremdherrschaft“ (und somit gesellschaftlicher Entfremdung herrschender Klassen) unkontrollierte Ängste und Aggressionen aus.
    Aus dieser Entfremdung schöpft ein Nationalismus erst seine Kraft. Erst deshalb kann er sich erst als vermeintlich positive, „befreiende“ Gegenbewegung etablieren.
    Nationalismus als Flucht in (vermeintlich) überschaubare Verhältnisse scheint Schutz vor solcher Entfremdung zu gewähren.

    Zu 3)
    Nationalistische Demagogen machen ihr Geschäft mit den Ängsten der Menschen. Nur so können sie sich – in vollständiger Perversion des „Revolutions“-Begriffs der 68er – auch als vermeintlich „revolutionär“ gebärden.
    Da Dummschwätzer der „konservativen Revolution“ wie Alexander Dobrindt aber keine eigenen Konzepte, schon gar keine Lösungen anzubieten haben, müssen sie die 68er dämonisieren, als Buhmann aufbauen, um ihrem Geschwätz den Anschein der Sinnhaftigkeit zu verleihen und sich – in Opposition zu ihnen – als „neue Elite“ in Szene zu setzen.
    Zugleich aber müssen sie auch jegliche Verdienste der 68er bestreiten.
    In der Zerstörung der positiven Weltsicht der 68er vollzieht sich auf symbolische Weise ihr eigentliches Anliegen:
    – die Zerstörung jeden Ansatzes gegenseitiger Solidarität „von unten“, der ihre Machtbasis gefährden würde,
    – die Verbreitung und die Akzeptanz ihrer demagogischen Behauptung, „das Volk“ zu repräsentieren, seine Interessen zu wahren – während sie doch in Wahrheit (wie etwa im AfD-Programm erkennbar) nationalistisch umdefinierten Monopolinteressen dienen.

    Fazit:
    Den genannten verheerenden Entwicklungstendenzen kann wohl nur mit einer doppelten Strategie begegnet werden:
    Einerseits ist der (unter 3 genannte) eklatante immanente Widerspruch aller nationalistischen Bewegungen aufzuzeigen: Abgleiten ins „Völkische“, Zerstörung moralischer und gesellschaftlicher Werte ist bereits im nationalistischen Denken angelegt. Die Flüchtlings-Hetze und der Wahn einer „Festung Europa“ sind dafür sinnfälliger Ausdruck.
    Das freilich setzt die konsequente Abwehr Trumpscher Formen der Perversion, der Verkehrung von Moral und gesellschaftlichen Werten, der Etablierung einer „alternativen Wahrheit“ voraus.

    In glaubwürdiger Weise kann dies aber nur geschehen, wenn man nicht bei den Erscheinungsformen des Nationalismus stehen bleibt, sondern auch deren Ursachen nachgeht: der Entfremdung des ungebändigten Casino-Kapitalismus, die nicht erst vom Nationalismus „erfunden“ wurde (vgl. Punkt 2).
    In dieser Hinsicht kann von historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit der Kraft solidarischen Verhaltens unter „Entrechteten“ gelernt werden.

    In wie weit auch das positive Weltbild der 68er, ihre Erfahrung der Überwindung der Vereinzelung in gemeinsamer Aktion als Modell dienen kann, sei mal dahingestellt. Die Frage nach „einer neuen 68-er Bewegung“ erscheint mir müßig. Denn jede Zeit hat ihre spezifischen Antworten zunächst mal aus der Erkenntnis ihrer spezifischen Probleme zu gewinnen.
    Klar aber scheint mir, dass es einer Bewegung „von unten“ mit realer Machtperspektive bedarf, die den genannten verheerenden gegenwärtigen Tendenzen entgegen wirkt.
    Ob man das dann als „Anknüpfen an den 68ern“ oder sonst wie bezeichnet, ist mir persönlich ziemlich egal.

  11. @ hans und Werner Engelmann

    Und ich gebe noch zu bedenken, dass die Ergebnisse der jüngsten Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Allensbach (über die die FAZ/Zeitgeschehen- am 18. Juli ausführlich berichtete), zwar nicht etwas ganz Unerwartetes, dennoch ziemlich Erschreckendes ergab: Deutsche sehnen sich nach starker Führung!
    Denkt man den Anstieg des Judenhasses dazu, die Flüchtlingshetze der Rechten (einschließlich der Instrumentalisierung der jüngsten Verbrechen, Beispiel Susanna F.) und die grenzenlosen Fake-News noch dazu, da kann es einem schon langsam übel werden. Ich halte das für Alarmzeichen höchsten Grades.
    Da fällt es mir schon schwer noch den alten „68er-Kampfgeist“ zu beschwören und eine Vision vor Augen zu haben, außer der „völkischen“ Bedrohungsszenarien. Ich denke wir müssen erst einmal an die Wurzel des Übels ran, auch wenn das jetzt gerade sehr plakativ klingt.
    Der FAZ-Kommentarausschnitt „Fatale Sehnsucht“ (Reinhard Müller):
    „Sorgen muss die Sehnsucht nach starker Führung bereiten. Denn die steht, was deren Anhänger teilweise auch selbst erkennen, in Widerspruch zu einer komplexen Wirklichkeit, ja letztlich zum Rechtsstaat selbst …“

    Ich beharre ja auch nicht auf eine bloße Belebung der 68er-Bewegung, aber der moralische Anspruch, die Weltsicht und der Mut und die Kraft dürfen es schon noch sein. Denken hilft.

  12. @ Jürgen Malyssek

    „Ich beharre ja auch nicht auf eine bloße Belebung der 68er-Bewegung, aber der moralische Anspruch, die Weltsicht und der Mut und die Kraft dürfen es schon noch sein.“

    Genau das meine ich, wenn ich die 68er als „Modelle politischen Denkens, Fühlens und Handelns“ bezeichne.
    Die Frage ist aber, woher denn in einer Welt, in der systematisch Ängste geschürt werden und auf Negativität getrimmt wird, „der moralische Anspruch, die Weltsicht und der Mut und die Kraft“ herkommen sollen.
    Die entstehen nicht von alleine, und mit individuellem Märtyrertum ist da nicht geholfen. Da halte ich es eher mit Brecht: „Arm das Land, das Helden nötig hat“ („Galilei“).
    Es stellt sich also wieder die Frage, wie „solidarischen Verhaltens unter ‚Entrechteten'“ sowie mit diesen entsteht und mit wem es organisiert werden kann.

  13. Ich weiß nicht ob die 68er wirklich als Vorbild dienen können. Man sollte bedenken wie einmalig die Rahmenbedingungen damals waren. Es war nur ein paar Jahre nach dem Krieg und es gab erst seit kurzer Zeit die Herausforderung des konkurrierendem Systems im Osten. Wenn man sich jetzt fragt ob es eine realistische Möglichkeit gegeben hat das aus dem Wiederstand gegen G20 in Hamburg eine dauerhafte Bewegung entsteht muss man das denke ich mit nein beantworten. Das hat aber sicher nicht an der Entschlossenheit der handelnden Personen gelegen. Also das Beispiel 68er passt in Wirklichkeit nicht, zumal auch keiner weiß, zumindest ich nicht, welche Rolle die Stasi dabei gespielt hat wenn man jetzt sieht das sich RAF Mitglieder in die DDR gerettet haben. Ok das ist meine Meinung, deshalb habe ich mich an den Diskussionen hier zu den 68ern nicht beteiligt und es mag auch Ziele geben denen man heute noch zustimmen kann.
    Das die Menschen Führung wollen kann nach so vielen Jahren Merkel doch nicht wirklich wundern.
    Es hat doch offensichtlich keine Partei einen Plan, oder kann sich auf einen einigen, wie es mit D. weiter gehen soll. Die Union möchte weitgehend alles so lassen wie es ist einschließlich der langsam laufenden Umverteilung von Unten nach Oben. Die SPD ist offensichtlich nicht in der Lage ein Zukunftskonzept zu entwerfen. Ich sage mal als Stichwort Kohlefraktion in NRW. Die FDP weiß nicht ob sie nicht die Freiheitlichen in Österreich kopieren soll oder ob es reicht um über die 5% zu kommen gegen Windräder zu sein. Die Linke ist wie immer völlig zerstritten. Eigentlich kann man noch den Grünen zutrauen etwas zukunftsfähiges auf den Weg zu bringen. Das es sinnvoll und wahrscheinlich auch für die Wirtschaft gut ist bei der Energiewende und der Landwirtschaft was zu machen sollte klar sein.
    Bessere Rahmenbedingungen für die AFD sind kaum denkbar und das die Menschen Führung suchen, ich würde sagen weniger stark als klar, ist auch verständlich.

  14. zu @ Werner Engelmann
    Ihre letzte Frage ist relativ einfach zu beantworten.
    Es gibt ja den alten Spruch: Arbeiter aller Länder vereinigt euch, wenn man den umwandelt in: Arbeitnehmer der Länder vereinigt euch hätte man schon viel erreicht. Die politische Vertretung kommt dann von selbst. Wir können ja mal eine Umfrage hier im Bloog machen wie viele Gewerkschaftsmitglieder sind. Ich bin seit über 40 Jahren in der IGM. Wenn man so die Mitgliedszahlen hört geht es ja wieder aufwärts. Es scheinen einige zu merken wo das hinführt wenn man nicht organisiert ist. Wobei ich der Gewerkschaft durchaus nicht unkritisch gegenüber stehe. Die Vorteile das es sie gibt überwiegen die Nachteile

  15. Meine Antwort zur von hans hier im Blog initiierten Umfrage ist nicht besonders eingängig: Nachdem sich der Erste Bevollmächtigte der örtlichen Geschäftsstelle der IG Metall erhängt hatte, legte mancher hauptamtliche Funktionär auch mir nahe, mein letztes ehrenamtliches Engagement, das mir noch verblieben war, als Referent für gewerkschaftliche Bildungsveranstaltungen zu beenden. Angeblich mangelte es mir an „betrieblicher Verankerung“, wie es damals äußerst zweischneidig hieß. Es gingen dann auch noch Jahre ins Land, bis geklärt war, welchen Vorwurf man mir tatsächlich macht. Schließlich trat zutage, dass mir aus meiner Befähigung, eigenständig die Wirklichkeit erkunden zu können, die mir sogar universitär bescheinigt ist, ebenfalls gleichsam ein Strick gedreht werden sollte. Daraufhin kündigte ich meine Mitgliedschaft nach weit über 25 Jahren der Zugehörigkeit zur organisierten Arbeiterbewegung.

  16. @ hans, 21. Juli 2018 um 7:49

    Natürlich war ich schon vor Eintritt ins Referendariat 1976 Mitglied der GEW Berlin und bin es noch heute. Obwohl das damals (je nach Seminarleiter) im Referendariat eher eine Negativempfehlung war.
    Nun ist freilich die GEW als Organisation auch für Beamte von der Mitgliederstruktur nicht typisch für die Gewerkschaften überhaupt. Nicht nur wegen des fehlenden Streikrechts, auch was Arbeit und Aktionsformen angeht. Als Vorsitzender der Fachgruppe Gymnasien habe ich mich beispielsweise vorwiegend mit Rahmenplänen und Kritik an Senatsvorgaben beschäftigt (wobei Meinungen der GEW durchaus von Senatsseite eingeholt wurden).

    Dennoch meine ich nicht, dass eine bloße Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung (so wünschenswert das ist) die Lösung des Problems wäre.
    Eine Gewerkschaft vertritt die Interessen ihrer Mitglieder (vorwiegend Lohninteressen), wobei hier schon die vielen Nichtmitglieder (auch wenn sie teilweise davon profitieren) außen vor bleiben.
    Bei dem nationalistischen Angriff auf Menschenrechte (vor allem beim Flüchtlingsproblem) und teilweise auf rechtsstaatliche Grundwerte (etwa Asylrecht), welche bisher als gesichert galten, handelt es sich aber um gesellschaftliche Probleme, die weit über gewerkschaftliche Belange hinausgehen. Die auch den Einbezug völlig anderer Kreise erfordern.

    Als Beispiel sei das Södersche „Kreuz“-Spektakel genannt, das – Gott sei Dank – auch kirchliche Kreise, insbesondere Kardinal Marx, auf den Plan rief. Dann natürlich handelt es sich, wenn ein bayrischer Möchtegern eine Religion für seine völkisch-nationalistische Politikauffassung instrumentalisieren möchte, auch um religiöse und moralische Fragen.

    Meiner Auffassung nach geht es gegenwärtig vor allem um die Organisation von Widerstandsformen gegen Tendenzen des Rückbaus des demokratischen Rechtsstaats. Diese hätten in vielfältigsten Formen zu erfolgen und müssten breiteste Schichten, auch unterschiedlicher ideologischer Voraussetzungen und parteipolitischer Präferenz, erfassen. Deren kleinster gemeinsamer Nenner wäre die Verteidigung des Rechtsstaats und deren politisch-moralischer Impetus gemeinsamer Verfassungspatriotismus.

  17. zu @ Ralf Rath
    Mir fällt da gerade eine Geschichte ein. Vor 6-7 Jahren sagte ein frisch gewählter Betriebsrat zu mir: Wenn ich nicht in die Freistellung komme lege ich mein Mandat sofort nieder. Er hätte auch sagen können: Ich habe nur kandidiert weil ich keine Lust habe zu arbeiten. Das wäre das Gleiche gewesen. Was ich damit sagen will ist das der Kampf um die hauptamtlichen Stellen eins der großen Probleme der Arbeitnehmervertreter ist. Das habe ich auch unter Nachteile gemeint. Das ändert aber an der Notwendigkeit von starken Betriebsräten und Gewerkschaften nichts.

  18. @ hans, Werner Engelmann, Brigitte Ernst

    Gegen eine starke Gewerkschaft ist überhaupt nichts einzuwenden, zumal es unmittelbar um die Bedingungen der Arbeitsbevölkerung geht.

    Aber die Denkansätze müssen weiter gefasst werden, sonst bleibt es beim Spartendenken, Rühren in der Suppe.

    „Dennoch meine ich nicht, dass eine bloße Wiederbelebung der Gewerkschaftsbewegung … die Lösung des Problems wäre. Eine Gewerkschaft vertritt die Interessen ihrer Mitglieder …, wobei schon die vielen Nichtmitglieder außen vor bleiben.“

    Die Frage, wie ein „solidarisches Verhalten unter „Entrechteten“ (wieder) entstehen kann, greift viel viel weiter.

    Es hat auch etwas mit der radikalen Infragestellung unseres herrschenden Systems, des Kapitalismus zu tun, der uns in der Wucht und der Zerstörungskraft ernsthaft kaputtmachen wird, weil er auch unserer aller Köpfe zermürbt hat und bald der extremen Rechten mehr nutzt als jeder anderen politischen Strömung.
    Denn auch von einer liberalen geschweige denn den abhängigen Menschen dienenden Wirtschaftsordnung kann schon lange nicht mehr die Rede sein. Ich deute nur mal die Macht und die Herrschaft der Internetkonzerne an. Das hat doch keiner mehr von uns Normalsterblichen mehr in Griff und unter Eigenkontrolle. Aber das ist nur EIN Stichwort.

    Insofern reichen natürlich die Ideen der 68er alleine wirklich nicht mehr aus, auch wenn wir nicht umsonst die 50 Jahre danach mit gutem Recht versuchen nachzuarbeiten.

    Ein dauerhafter Widerstand gegen diesen verkommenen rattenfängerischen Turbokapitalismus mit seiner fatalen Fortschrittsgläubigkeit, der immer mehr zerstört, als menschenwürdige Lebensbedingungen entwickelt, einen solchen Widerstand kann ich jetzt auch nicht aus dem Boden stampfen.
    Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es einer radikalen Bewußtseinsveränderung (keine Gehirnwäsche!!!) bedarf, dieses Gesellschaftssystem durch und durch infrage zu stellen.
    Meine Gedanken haben auch etwas mit der „Graswurzelbewegung“ zu tun, die zwar friedlich aufgestellt ist, aber an gedanklicher und moralischer Konsequenz ganz beachtlich ist.

    Mit Freiheit und Gerechtigkeit hat jedenfalls unser ökonomisches System rein gar nichts mehr zu tun, außer dass es an Suggerierung dieser Zustände keine Verführungsmöglichkeiten auslässt.

    „Der Widerstand ist an sich eine Askese, die alle Bequemlichkeit ablehnt. Der Aufständige stimmt mit dem andern Menschen nur so lange überein, als ihr Egoismus mit dem seinen zusammenfällt.“ (Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Rowohlt 1953).

    „Im Grunde wird ein Ausdruck wie ’soziale Ungerechtigkeit‘ dem Elend dieser Welt gar nicht gerecht. Und auch der Begriff Kapitalismus ähnelt einer komprimierten ZIP-Datei (Anm.: komprimierte Datei [EDV]), wenn man sie entpackt, zeigt der globale Kapitalismus seine hässliche Fratze ganz unverblümt angesichts von Hunger, Kriegen, Rassismus, Patriarchat, Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung …“
    (Patrick Spät: DIE FREIHEIT NEHM ICH DIR – 11 Kehrseiten des Kapitalismus, Rotpunktverlag 2016)

  19. Wie soll denn eine Änderung in Gang kommen? Es braucht dafür nicht in erster Linie grundsätzliche Überlegungen sondern eine Basis mit möglichst vielen Köpfen. Schröder hat die Basis der SPD zerschlagen das ist das Problem der Partei. Die singen auf einem NRW Parteitag wahrscheinlich immer noch das Steigerlied und merken nicht das es fast keine Steiger mehr gibt weil in ihrem Saal seit Jahrzehnten keine mehr gewesen sind. Aus Arbeitern sind Arbeitnehmer geworden. Zuerst muss eine Basis kommen und da fallen mir nur die Gewerkschaften ein. Dann muss eine politische Bewegung entstehen mit einem Programm die dann in der Lage ist die Machtfrage zu stellen. Anders rum wird das nichts werden.

  20. @hans
    Die „Notwendigkeit von starken Betriebsräten und Gewerkschaften“, wie Sie schreiben, bestreite ich nicht. Allerdings musste ich die höchst leidvolle Erfahrung machen, dass allen voran die IG Metall als Europas mächtigste Organisation über keinerlei Maßstäbe verfügt, was die dazu erforderliche Kampfkraft befördert und welches dysfunktionale Gebaren demgegenüber schleunigst zu bannen ist. Gemeinsam mit dem Betriebsrat eines in Süddeutschland ansässigen Nutzfahrzeugherstellers, der lange Zeit unangefochen Marktführer war, bot sich zwar die Möglichkeit, eine dementsprechende Scheidung zu erarbeiten. Die Spitze des dafür zuständigen Ortsvorstands der IG Metall unterband jedoch das Vorhaben ausdrücklich mit der Folge, dass die Beliebigkeit dort noch heute vorherrscht. Solange solch ein eklatanter Mangel aber nicht behoben ist, bleibt es wohlfeil, davon zu sprechen, dass die Vorteile einer Mitgliedschaft die Nachteile überwiegen.

  21. @Juergen Malyssek
    Ihren letzten Beitrag unterschreibe ich. Graswurzelbewegung sagt mir nichts, aber da wird mir das Internet sicher weiterhelfen.

    Für Manche wird ein Umdenken vielleicht radikal sein, wenn es aber um die „Wurzel“ den Grundgedanken was das Leben ausmacht geht, dürfte auch in den Kapitalismusgläubigen etwas klingeln.

    Die Wertigkeit jedes Einzelnen nicht in Bezug auf seine Kaufkraft und Leistungsfähigkeit zu betrachten ist für mich der erste Schritt. Den Menschen nicht als manipulierbare Ware zu sehen, sondern die Einzigartigkeit jedes Einzelnen zu schätzen, im Vertrauen, dass dieser seine Talente zu einem „besserem“ Ganzen in die Gesellschaft einbringt ist ein gangbarer Weg. Wo nicht zählt was ich habe, sondern wer ich bin.

    Auch in der sog. Spassgesellschaft macht sich mit den Jahren die Schalheit eines derart gelebten Lebens bemerkbar. Das vermeintliche Glück der aneinandergereihten Spassmomente nutzt sich ab und zurück bleibt die Leere.

    Herr Engelmann, Frau Ernst, mit welchen Inhalten könnte ein Schulfach gefüllt werden, das jenseits des Glaubens die Wertigkeit des Lebens vermittelt? Bzw. in dem mit Schülern dies erarbeitet wird? Was sind die tiefen Bedürfnisse eines jeden Menschen und wie kann diese Welt gestaltet werden für ein Leben, in dem sich jeder einzelne aufgehoben und geschätzt fühlt?

  22. @ Jürgen Malyssek, 22. Juli 2018 um 0:40

    (1) „Es hat auch etwas mit der radikalen Infragestellung unseres herrschenden Systems, des Kapitalismus zu tun.“
    (2) „Insofern reichen natürlich die Ideen der 68er alleine wirklich nicht mehr aus.“

    Ja natürlich, aber:
    (1) findet sich gerade bei den 68ern, und zwar ziemlich exzessiv. Und das war wohl auch einer der Hauptfehler. Analysen sind zwar Voraussetzung für politisches Handeln, sie verändern aber noch nicht die Wirklichkeit. Sie müssen erst in praktische Handlungsoptionen umgesetzt werden und dann einem handelnden „revolutionären“ (kollektiven) Subjekt vermittelt werden. Und dabei sind die 68er kläglich gescheitert.

    Zu (2):
    Das reicht auch deshalb nicht mehr aus, weil die Situation heute eine völlig andere ist.
    Die 68er befanden sich in einer Situation ökonomischer Expansion, in der Gewerkschaften mit einigen Erfolgsaussichten Forderungen stellen konnten. So etwa beim Generalstreik in Frankreich.
    Der bevorstehende Handelskrieg heute aber belegt, dass wir uns heute in einer Phase des erbitterten Kampfes um Absatzmärkte befinden.
    Dazu kommt die faktische und ideologische Schwäche der Gewerkschaften. Letztere ist in Frankreich besonders sichtbar, so in der Spaltung der (kommunistischen) CGT in Anhänger des Front National und der ultralinken „France insoumise“ von Jean-Luc Mélenchon.

    Wir befinden uns heute auch nicht in einer Situation, in der Hoffnungen auf „mehr Demokratie wagen“ oder gar auf Übergang in „Sozialismus“ erlaubt wären, sondern – fast überall – in einem Verteidigungskampf gegen Angriffe der extremen Rechten auf die Demokratie.
    Die Denkmodelle werden wir wohl eher bei der verzweifelten Suche der Abwehr des Faschismus suchen und aus den damaligen Fehlern (so der gegenseitigen Zerfleischung von Kommunisten und Sozialdemokraten) lernen müssen.

  23. @ hans

    „Es braucht dafür [eine Änderung]nicht in erster Linie grundsätzliche Überlegungen sondern eine Basis mit möglichst vielen Köpfen.“

    Ohne ‚grundsätzliche Überlegungen‘ gibt es auch keine Basis [mit vielen Köpfen] für Veränderung.

    Ich sehe Wege der Veränderungen über das Parteiensystem hinaus. Die SPD hat mit ihrer Agenda und ihren politischen Geisteskräften zwar das soziale Klima auf lange Sicht mit kaputt gemacht. Aber inzwischen sind ganz andere Geisteskräfte gefordert als es an den Parteien festzumachen. Obgleich wir uns tagtäglich über deren v.a. moralischen Niedergang empören müssen.

    Ich mindere auch die Leistungen der Gewerkschaften nicht, wenn ich übergreifend von einer notwendigen Bewußtseinsveränderung der Menschen spreche. Man mag es Utopie nennen oder Vision. Das ist mir im Moment egal. Es ist so vieles in den gesellschaftlichen Sektoren und den Entwicklungen da (Stadtentwicklung, Umweltzerstörung, Konsumismus, Herrschaft der Konzerne, Armut, Rassismus und so vieles andere mehr) zu kritisieren, dass mir die Dummheit, die Gleichgültigkeit, die Einfältigkeit, die Selbstgefälligkeit, der Egoismus, die Eigenverantwortlichkeit, die Statuszelebrierung, die Anpassungsfähigkeit, die Verführbarkeit, die Brandstiftermentalität, die Verrohung, die Kaufwut, die Kreuzfahrtmentalität der Massen, die …, die mir inzwischen auch den Rest geben.

    Ohne eine Grundausstattung an glaubwürdigen und mutigen Intellektuellen ist eine politische Bewegung (keine neue Partei bitte!)nicht zu schaffen.

    Das ist mir alles zu eng gesehen, jetzt bei den Gewerkschaften hängen zu bleiben, die weitestgehend ihr Möglichstes tun.
    Wir brauchen auch nicht die ’starke Hand‘, aber starke Stimmen, die etwas riskieren, so wie es einst ein Heinrich Böll tat und auch ein Rudi Dutschke.

  24. @ Anna Hartl

    Sie haben das, was ich mit dem radikalen Umdenken meine, aufgenommen. Gehen wir den Dingen nicht auf den Grund (natürlich so weit wie es in unseren Kräften steht), bleibt es wie es ist.
    Die Graswurzelbewegung (www.graswurzel.net) arbeitet und kämpft für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, ist wenig bekannt, aber (auch international) von einer beeindruckenden, fast stillen Kontinuität.

    Was Sie über die Wertigkeit des Menschen in dieser Kauf- und Spassgesellschaft sagen, unterstütze ich. Diese Schalheit, diese Leere, diese Kurzatmigkeit …

  25. @ Werner Engelmann

    Mal abgesehen davon, dass man DIE 68er nicht so bloß als eine konforme Generation ausmachen kann, sind sie – mit heutigem Draufblick – als gesellschaftliche Idee bestimmt gescheitert, aber nicht kläglich!

    Eigentlich setzte das gesellschaftliche Scheitern so Mitte der Achtziger ein. Spätestens nach der Wende und nach dem Zusammenbruch des Ostblocks (hans), wo der Kapitalismus mehr oder weniger als Gegner nur noch sich selber gegenüberstand. Damit auch das allmähliche soziale Rollback, das in der Schröder-Ära einen neoliberalen Politik-Höhepunkt einläutete.

    Zurück zu 1968: Wenn es so war und ist, dass den Analysen, als Voraussetzung für politisches Handeln, die „Umsetzung in praktische Handlungsoptionen folgen und dann einem handelnden ‚revolutionären‘ (kollektiven Subjekt vermittelt werden müssen“, dann muss ich unwillkürlich an das tragische und schließlich tödliche Ende Rudi Dutschkes denken. Mit dem Attentat auf Rudi Dutschke fehlte dann auch eine Figur, die für die Konsequenz des praktischen Handelns hätte stehen können.

    „Wir befinden uns heute auch nicht in einer Situation, in der Hoffnungen auf ‚mehr Demokratie wagen‘ oder gar auf Übergang in ‚Sozialismus‘ erlaubt wären, sondern …“

    Das und was Sie in der Folge noch sagen, kann man als ein wenig hoffnungsvolles Bild für das Gegenwärtige so beschreiben.

    Und gerade, weil es so wenig hoffnungsvoll und so vertrackt ist, kommen wir mit einspurigen oder alten Lösungsansätzen nicht weiter. Aber „die verzweifelte Suche der Abwehr des Faschismus“ ist ganz bestimmt eine dringliche Denk- und Handlungsaufgabe! Wahrscheinlich die dringlichste!!!

  26. Die Wirtschaftswoche besprach jüngst eine Monographie zweier Politikwissenschaftler aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die eine insbesondere in den am höchsten entwickelten Industriegesellschaften zunehmend weiter sich greifende Praktik kritisierten, welche sich darin erschöpft, die „Schiedsrichter auszuschalten“. Bedenkt man, dass in Zeiten der „Fake Science“ (worüber die ARD heute Abend berichtet), allen voran „von Historikern und von Soziologen … in bestimmten Momenten verlangt (wird), als Richter und Garant strikter Wahrheit zwischen Journalismus, Medien und juristischer Welt zu intervenieren“ (Bourdieu, P., hrsg. v. Ohnacker/Schultheis, 2004: 128), besitzt man bereits eine ungefähre Ahnung davon, wie sehr „glaubwürdige und mutige Intellektuelle“, auf die Herr Malyssek hier im FR-Blog nicht verzichten will, um ihr nacktes Überleben kämpfen und dasselbe inzwischen als ihren persönlich wichtigsten Erfolg verbuchen. Zwar gäbe es die Möglichkeit, dass einzigartige geistige Werke keinen schizophrenen Prozess durchlaufen müssen. Von der Option, dass sie es können, jedoch nicht müssen, wird allerdings kaum noch Gebrauch gemacht. Erzwungenermaßen gelten deshalb äußerst versierte Forscher immer öfter als krank, wenn nicht gar als verblödet, die vermeintlich an einer dementia praecox (vorzeitige Demenz) leiden.

  27. @ Anna Hartl, 22. Juli 2018 um 12:21

    „Herr Engelmann, Frau Ernst, mit welchen Inhalten könnte ein Schulfach gefüllt werden, das jenseits des Glaubens die Wertigkeit des Lebens vermittelt? Bzw. in dem mit Schülern dies erarbeitet wird?“

    Hier mal der Versuch einer Antwort, unter vier Vorbehalten:
    (a) Dieses Problem stellt im Rahmen dieser Debatte nur einen Teilaspekt dar.
    (b) So wichtig Schule ist, können doch nicht alle gesellschaftlichen Probleme auf Schule projiziert und von ihr Lösungen erwartet werden. Selbst unter weit idealeren als den gegenwärtigen Bedingungen wären Lehrkräfte da hoffnungslos überfordert.
    (c) Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens entziehen sich weitgehend oder vollständig dem schulischen Einfluss. Als Beispiele seien familiäre Bedingungen, so auch mitgebrachte religiöse Einstellungen, und – sicher in zunehmendem Maß – „soziale“ Medien.
    (d) Ich formuliere hier hauptsächlich persönliche Einschätzungen, in einigem sicher identisch mit Stellungnahmen der GEW, die ich z.T. als Vorsitzender der Fachgruppe Gymnasium selbst abgegeben habe. Ich formuliere aus dem Gedächtnis und verzichte darauf, alte Materialien zurückzugreifen.

    (1) Bildungsziel:
    Dies lässt sich zusammenfassend für die Gesamtheit der Fächer als Herausbildung mündiger, verantwortungsbewusster Bürgerinnen und Bürger definieren.
    Dazu gehört wohl auch, dass die Lehrkraft selbst für dieses übergreifende Bildungsziel steht, das auch über Unterricht hinausgeht: z. B. Zusammenleben/Regeln bei Klassenfahrten, Besuche von Gedenkstätten u.a. Ich selbst habe 4 Besuche der Gedenkstätte Sachenhausen durchgeführt (eine davon selbständig).
    Mitverantwortung habe ich dadurch zu fördern gesucht, dass ich alle meine ca. 20 Klassenreisen als Klassenlehrer durchgeführt habe, mit Bezug zum Unterricht sowie entsprechender Vor- und Nachbereitung und verpflichtenden Aufgaben bei der Planung bzw. Durchführung für alle Schüler/innen.

    (2) Bildungsinhalte:
    Diese sind vorwiegend nicht als Kanon (etwa für Deutsch: Pflichtlektüre) zu verstehen, sondern als Einstellungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, die bei den Schülern/Schülerinnen (bezogen auf jeweilige Fächer) anzustreben sind. Die Berliner Rahmenpläne verzichteten (zumindest zu meiner Zeit) vollständig auf einen verbindlichen Kanon zugunsten von Literaturvorschlägen.
    Gleiche Bildungsziele lassen sich mit verschiedenen Texten erreichen. Entscheidend erscheint mir, dass (a) ein Bezug zu Kultur (nicht nur im nationalen Sinn) hergestellt und (b) die Lebenswirklichkeit der Schüler/innen einbezogen wird.
    Beispiel zu a:
    Meine ca. 10 Theateraufführungen reichten von Aristophanes („Die Vögel“) über Molière („Der eingebildete Kranke“) bis zu Büchner („Leonce und Lena“), Cocteau („Orphée“), Saint-Exupéry („Le Petit Prince“) und Dürrenmatt („Ein Engel kam nach Babylon“). Die (fast durchgehend zweisprachigen) Texte habe ich anhand der klassischen Vorlagen selbst erarbeitet. In einzelnen Fällen war auch eine gemeinsame Redaktion mit Schüler/innen möglich. So etwa bei Leonie Ossowski („Stern ohne Himmel“), Jakob Wassermann („Das Gold vom Caxamalca“) oder Eulenspiegelgeschichten.
    Lehrer/Lehrerinnen stehen nach meiner Auffassung für Bereicherung, Öffnung für Unbekanntes, Aufbrechen von Vorurteilen. Reproduktion von „Vorbildern“ aus der Glotze lehne ich ab.
    Beispiele für Erfolge: Gripstheater für bildungsferne Kreuzberger Schüler („Das ist Theater? Toll! Wusste ich gar nicht.“) Eine Akteurin, die zum ersten Mal die verwendete Musik von Gluck aus „Orpheus und Eurydike“, 17. Jh., hört: „Tolle Musik. Kann ich die CD haben?!)
    Beispiel zu b:
    In Klasse 8 behandelte ich immer Schillers „Kabale und Liebe“. Zwei türkische Mädchen, die sehr gut mitgearbeitet hatten, einmal nach dem Unterricht: „Das ist genau unser Problem!“ – Die haben den Text verstanden.

    3. Methodik:
    Die lässt sich nicht verordnen, ist daher auch immer der jeweiligen Lehrkraft (nach entsprechenden Empfehlungen) überlassen. Nach meinem Verständnis ist diese sowohl in Bezug auf übergreifende Bildungsziele (Erziehung zu Selbständigkeit) als auch in Bezug auf die Kenntnis der jeweiligen Voraussetzungen der Lerngruppe festzulegen.
    Schon in den 70er Jahren waren dabei auch Konflikte, z.B. mit Eltern türkischer Schüler auszufechten, z.B. in Bezug auf Wandertage (mussten ausdrücklich als obligatorisch erklärt werden) oder auch vereinzelt auf Inhalte (Koedukation, Sexualkunde, Sport). Bisweilen mussten wir feststellen, dass in parallelen „Koranschulen“ explizit antidemokratische Verhaltensweisen gedrillt wurden.

    Fazit bez. des Themas:
    Die Möglichkeiten von Schule heute in Bezug auf geistige Verrohung schätze ich, mit zunehmendem Einfluss von Internet, kulturellem (bzw. kulturlosem) Umfeld als eher gering ein. Sicher gibt es einige Möglichkeiten, z.B. (auch von mir praktiziertes) Anti-Gewalt-Training im Rollenspiel. Doch schon in den 80er Jahren stellte ich fest, dass – mit zunehmender Erfahrung! – die Situation immer schwieriger wurde. Das ist sicher nicht allein (nicht einmal vorwiegend) ein Problem der Lehrerausbildung.
    Ich beneide meine Kolleginnen und Kollegen von heute sicher nicht!

  28. @Werner Engelmann
    Hallo Herr Engelmann,
    es ist mir klar, dass Schule „nicht alle Probleme“ dieser Gesellschaft lösen kann. Mein Gedanke war einfach, dass Schule eine prägende Zeit ist und durch steter Tropfen höhlt den Stein, die Chance, dass für das Leben was hängen bleibt, groß ist und als Teilbaustein für eine andere Ausrichtung der Gesellschaft einen Beitrag leisten kann.
    Ich sehe auch, dass der Einfluss begrenzt ist, denn soziale Medien, die Eltern, die Freunde, überhaupt das soziale Umfeld wirken stark. Aber ich betrachte es als einen Ansatz für die jetzige und die zukünftigen Generationen.

  29. Um noch einmal auf die 68er Zeit und ihre bleibenden Wirkungen auf die Gesellschaft und das Heute zurückzukommen. Es ist schwer, das die Auswirkungen des Geschehen dieser Zeit zusammenzufassen, aber es hatte aus meiner Sicht insbesondere eine tiefgreifende Änderung der Perspektive, der politischen Kultur, des Demokratieverständnisses zur Folge. Die Wirkungen sind meines Erachtens also mehr in den „Soft-Skills“ zu suchen und zu finden, als in den „harten“ Fakten von gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen.
    Will man die damalige Zeit und ihre Themen verstehen, geht das nicht ohne Verständnis der Skandale des Jahrzehnts der 1960er Jahre. Was hat das Jahrzehnt geprägt?
    – Die Unterdrückung der gesellschaftlichen und sexuellen Selbstbestimmung der Frauen;
    – die Verdrängung der Verantwortung für den Holocaust;
    – Verharmlosung der Aktivitäten der alten und neuen Nazis in Deutschland;
    – die Ausplünderung der Dritten Welt;
    – die Unterstützung diktatorischer Regime: z. B. in Brasilien (Branco, 1964), Indonesien (Suharto, 1965), Griechenland (Militärdiktatur, 1967);
    – die Hochrüstung und Militarisierung im Schatten des kalten Krieges;
    – die Unfähigkeit der Gesellschaft und Politik, sich Neuem zu öffnen, es aufzunehmen und zu verarbeiten.
    Das war der Ausgangspunkt. Was nun sind die wesentlichen Grundelemente, die Eingang in die Gesellschaft gefunden haben? Hier sind meiner Meinung nach in erster Linie zu nennen:
    – Das, was ist, zu reflektieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht einfach als Gegebenes hinzunehmen;
    – Kritik zu üben;
    – Autoritäten in Frage zu stellen und nach der Legitimität einer Entscheidung zu fragen;
    – Und schließlich, Probleme auszudiskutieren und eine Diskurskultur zu etablieren und damit Demokratie zu wagen.
    Ein gesellschaftlicher Bereich, der hier in diesem Forum auch schon mehrmals angesprochen worden ist, in dem die 68er Bewegung jedoch nahezu völlig wirkungslos blieb, waren die Ökonomie, der Kapitalismus und die kapitalistischen Herrschaftsstrukturen, eines der wichtigsten Theoriefelder der 68er wie auch der Frankfurter Schule.
    Ich möchte hier nicht spekulieren über die Wirkungslosigkeit der 68er bzw. der Kritischen Theorie, sondern festhalten, dass schon ab Ende der 70er Jahre und dann verstärkt in den 80er und 90er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die neoliberale Wirtschaftstheorie und damit auch der ungezügelte Kapitalismus in der westlichen Staatenwelt einen Boom erlebte, der bis 2008, dem Jahr der Weltwirtschafts- und Finanzkrise, ungebremst anhielt. Das Aufbrechen der fortschreitenden Ökonomisierung der Welt und der Widerstand gegen die Erosionskrise (Negt) der Gesellschaft ist und bleibt deshalb weiter zentrale Forderung an die heutige politische Praxis.
    Damals wie heute ist allerdings nicht nur das WOHIN wichtig, sondern ebenso die Kritik am Bestehenden und die Sichtbarmachung des Spannungsverhältnisses zwischen dem Bestehenden und dem Möglichen.

  30. @ Henning Schramm

    Die Skandale des Jahrzehnts der 1960er sind gar nicht so unähnlich der Skandale unseres Jahrzehnts.
    Im gewissen Gegensatz zu der damaligen „Unfähigkeit der Gesellschaft und der Politik, sich neuem zu öffnen, es aufzunehmen und zu verarbeiten“, sehe ich heute eine Unfähigkeit, sich dem (selbst-)zerstörerischen „ungezügelten“ Kapitalismus entgegen zu stellen. In kurzen Phasen vielleicht schon.

    Was 1968 ff. für eine bestimmte Zeit diese Aufbruchstimmung ausmachte, nämlich „Macht kaputt was euch kaputt macht!“ bzw. der Mut zum Neuen, das scheint heute eher einem gesellschaftlichen Lähmungszustand und einem hohen Grad an Anpassungsbereitschaft gewichen zu sein. Da hat sich auch der Konsumismus noch viel weiter entwickelt, vor allem ist er zu einer inneren Struktur der äußeren geworden.

    Ansonsten teile ich weitestgehend Ihre Schlussteil-Überlegungen: „Kritik am Bestehenden und der Widerstand gegen die Erosionskrise der Gesellschaft“ (verbunden mit dem Verlusten von Solidarität, Mitmenschlichkeit und sozialem Gewissen).

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