Postfach: Enthumanisierung der Flüchtlingspolitik

Willkommen zum Postfach
vom 3. Mai 2017

Wieder sind Leserbriefe liegen geblieben, für die ich im Print-Leserforum keinen Platz gefunden habe. Also ab mit ihnen ins „Postfach“ hier im FR-Blog. (Mehr über die Hintergründe –> HIER.) Zuerst wie immer ein kleiner Überblick.

  • Manfred Kirsch aus Neuwied kritisiert Länder, „die sich angesichts der Enthumanisierung der Flüchtlingspolitik noch klammheimlich die Hände reiben“.
  • Otfried Schrot aus Ronnenberg nennt es „eine moralische Geschmacklosigkeit, den Begriff der das Leben spendenden Mutter mit ‚Schlacht‘ und ‚Bombe‘ in Verbindung zu bringen.“
  • Jürgen Malyssek aus Wiesbaden meint, es sei „immer schon im Interesse der Reichen und Herrschenden, Armutsphänomene möglichst öffentlich nicht sichtbar zu machen.“
  • María del Carmen González aus Frankfurt setzt sich mit dem Unterschied zwischen RAF und IS auseinander und kommt zu dem Schluss: „unpassende Gleichstellung“.
  • Das Thema doppelte Staatsbürgerschaft ist dafür verantwortlich, dass Rolf Lamprecht aus Frankfurt schreibt: „Ein Schreck fuhr mir in die Hose.“
  • Robert Maxeiner aus Frankfurt plädiert dafür, im Fall Yücel „nicht nur mit dem Finger auf die Türkei zu zeigen“.
  • Außerdem analysiert Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt die „andauernden inhaltlichen Defizite der Sozialdemokratie“.
  • Ach ja, einer geht noch: Sigurd Schmidt aus Bad Homburg argumentiert gegen Politikerschelte als „pauschale Aburteilung“.

Und was meinen Sie? Reden Sie mit!

Ihr Bronski

fr-balkenEnthumanisierung der Flüchtlingspolitik

Zum Kommentar „Rassisten an der Macht“, FR vom 12.4.2017

„Der Umgang mit Flüchtlingen in Ungarn spottet jeder Beschreibung und verstößt gegen alle Prinzipien von Menschenwürde und Humanität. Der ungarische Regierungschef Viktor Orban brüstet sich noch mit diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und erntet in der Europäischen Union, deren Werte er geradezu provokativ mit Füßen tritt, nicht den Widerspruch, der unbedingt erforderlich wäre, um Orban eine rote Linie aufzuzeigen. Doch in der „Festung Europa“ mag es wohl einige Länder geben, die sich angesichts der Enthumanisierung der Flüchtlingspolitik noch klammheimlich die Hände reiben. Der offen zutage tretende und praktizierte Rassismus hat in allen Staaten der Europäischen Union seine feixenden und schenkelklopfenden Kumpanen. Was in der Bundesrepublik AfD und Pegida erfreut, könnte leider in absehbarer Zeit in Frankreich offizielle Politik werden. Dann wäre Europa in der Tat verloren und diejenigen, denen die Menschenrechte so wichtig wie die Luft zum Atmen sind, müssten sich neue Möglichkeiten suchen, um sich politisch zu artikulieren und Einfluss auf die Entscheidungsträger zu nehmen. Wir brauchen ein nicht zu überhörendes europäisches Gewissen, dass die staatlich verordnete Unmenschlichkeit in bestimmten Ländern anprangert und die Methoden des Rassismus all jenen vor Augen führt, die aus opportunistischen Gründen schweigen und sich damit ebenfalls schuldig machen.“

Manfred Kirsch, Neuwied

fr-balkenMoralische Geschmacklosigkeit

Zu: „Trump schießt mit Bomben auf Höhlen“ , FR.de vom 14. April

„Die USA haben, bevor sie Saddam Hussein ausgelöscht haben, dessen Vokabular übernommen und aus der von Saddam Hussein geprägten Bezeichnung „Die Mutter aller Schlachten“ nunmehr den Begriff „die Mutter aller Bomben“ übernommen und die mit diesem Namen ausgestattete größte nicht – nukleare Bombe über Afghanistan abgeworfen. Es ist schon eine moralische Geschmacklosigkeit, den Begriff der das Leben spendenden „Mutter“ mit den Begriffen „Schlacht“ und „Bombe“ in Verbindung zu bringen. Die Begriffswahl lässt darauf schließen, dass kein großer Unterschied besteht zwischen der politischen Moral des gehängten Saddam Hussein und derjenigen der Führung der USA. Den Leserbriefschreiber beschäftigt die Frage, welche völlig überflüssigen Zerstörungen mit dieser Bombe, die eine ungeheure Flächenwirkung haben soll, angerichtet worden sind, wie viele unschuldige Familien bei der Einnahme ihrer Mahlzeit ausgelöscht wurden und wie viele Überlebende, die ihre Angehörigen verloren haben, durch das Erlebnis und den erlittenen Verlust in das Lager der Taliban oder des Islamischen Staates hinübergewechselt sind und damit zu Feinden der USA geworden sind. Der Leserbriefscheiber sieht sich durch den Abwurf dieser Superbombe in seiner Überzeugung bestätigt, dass die USA sich eine Welt ohne Krieg nicht vorstellen können – zur grenzenlosen Befriedigung der Rüstungsindustrie! Der Glaube an die Gewalt als Mittel zur Erreichung politischer Ziele zieht sich wie ein roter Faden durch die 225 – Jährige Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, angefangen mit der Ausrottung der Indianer. Der Leserbriefschreiber fragt sich, ob jemals ein amerikanischer Vier-Sterne-General vor den 260 000 Soldatengräbern auf dem Friedhof von Arlington gestanden hat und sich gefragt hat, ob in der Geschichte der Vereinigten Staaten alles richtig gemacht worden ist. Der Leserbriefschreiber ist nicht frei von der Besorgnis, dass, wenn die USA weiterhin den von zahllosen Kriegen umgepflügten Orient mit der „Mutter aller Bomben“ beglücken, eines Tages „die Mutter des Hasses“ einen weiteren 11. September auf amerikanischem Boden erzeugen wird. Der amerikanische Präsident, der das Fingerspitzengefühl hat, im Namen der USA mit dem Orient Frieden zu schließen, ist noch nicht geboren. Er müsste eine Eigenschaft haben, die den meisten Männern und Frauen in der amerikanischen Führung fremd zu sein scheint: Erbarmen!
In Anbetracht der gegenwärtigen Zerstrittenheit der USA und Russlands ist es wahrscheinlich, dass uns der Islamische Staat noch lange erhalten bleiben wird, weil Russland und die USA jetzt nicht mehr so schnell zum gemeinsamen Kampf gegen den IS zusammenfinden werden, zumal die USA den Russen die Koordinierung der Einsätze ihrer eigenen Luftstreitkräfte mit denen der Russen über Syrien aufgekündigt haben. Damit entfällt eine ganz wesentliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den IS. Das macht vielmehr einen Luftzwischenfall zwischen russischen und amerikanischen Flugzeugen mit der Folge eines großen Krieges wahrscheinlicher. Für den islamischen Staat läuft – zumindest im Luftraum – alles bestens. Der Kalif und Anführer des Islamischen Staates, Abu Bakr al Baghdadi, ist der Sieger in diesem Konflikt. Diese Erkenntnis lässt die Vermutung zu, dass es eher eine dem IS nahestehende Untergrundorganisation gewesen ist, die den Giftgaseinsatz durchgeführt hat und nicht Assad, der keine Veranlassung hat, es sich mit Putin zu verderben. Der hereingelegte Narr ist der Präsident der USA, der dem Islamischen Staat einen Gefallen getan hat und die einfältigen Claqueure innerhalb der NATO, die ihren eigenen kritischen Verstand längst an der Garderobe der Geschichte abgegeben haben und zu einer objektiven Bewertung der Weltpolitik der USA gar nicht mehr fähig sind.
Vielleicht geschieht aber auch ein Wunder, das Donald Trump aus der Klemme befreit, in welcher er steckt, denn die USA haben ein Kopfgeld von 25 Millionen US Dollar für die Dingfestmachung des Terrorchefs ausgelobt. (laut Spiegel Online 16.12.16)“

Otfried Schrot, Ronnenberg

fr-balkenArmut öffentlich nicht sichtbar machen

New York, Stadt der Obdachlosen: „Ohne Heim im Häusermeer“, FR-Politik v. 21.4.

„Im Bericht von Sebastian Moll gibt es für mich zwei Kernaussagen: 1. ‚Die Obdachlosen heute sind unterbezahlte Arbeiter und Angestellte‘. 2. ‚Niemand in der Stadt hat wirklich Interesse daran, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen‘.
Die Obdachlosen sind heute die durch den Marktradikalismus überflüssig gewordenen Menschen, die keine Arbeit mehr in einer Gesellschaft der Hochtechnologie und einem nicht enden wollenden Rationalisierungsprozess finden oder ein Einkommen haben, dass nicht mehr zum Leben reicht. Es ist das spätkapitalistische Subproletariat, die Klasse der Ausgeschlossenen, der Verlierer.
In dieser von Gier und Profit bestimmten Wirklichkeit besteht kein allgemeines Interesse mehr Armut, Ausgrenzung und Verelendung zu bremsen oder Schritte zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu gehen.
Es war aber immer schon im Interesse der Reichen und Herrschenden die bestehenden Armutsphänomene möglichst öffentlich nicht sichtbar zu machen. Die Straßen und öffentlichen Anlagen von den „Elenden“ (Victor Hugo) und Abgehängten sauber zu halten. Gemeint sind die Obdachlosen, die Hobos, die Bettler, die Stadtstreicher – „the working poor“. Des Nachts warten dann die Asyle.
Im Jahre 2009 in N.Y.-Manhattan unterwegs, war es auffallend, wie viele Obdachlose die Straßenbilder mitbestimmten, obgleich es die Regierungszeit des neoliberalen Bürgermeisters Michael Bloomberg war – überaus bekannt für seine harte Linie -, tagsüber das Stadtbild und vor allem die Geschäftsbezirke frei vom Anblick kampierender, stromernder und bettelnder Obdachloser zu halten. Demnach waren diese Probleme allein mit harten Maßnahmen nicht zu bewältigen.
New York ist ein klassisches Beispiel für die fatale Entwicklung der Metropolen zwischen Glanz und Reichtum und der Verelendung durch eine immer mehr von Armut betroffenen Klasse der Arbeitslosen, Gescheiterten und Ausgegrenzten. Sie können weder die hohen Mieten für Wohnungen und Unterkünfte bezahlen, noch erwartet sie die Aussicht auf die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen: als Alleinstehende oder als Familien.
Heute beherrschen Investoren, Immobilienspekulanten und das Klientel der (Super-)Reichen die Spielregeln und Maßstäbe der Stadtentwicklung in den großen Städten der Welt. Sie haben die Preise für Wohnungen in eine Höhe getrieben, die kein Platz mehr lässt für die Durchschnitts-, geschweige denn Armutsbevölkerung. Der Immobilien- und Konsumwahn, die Welt der Shopping-Areas und der überbordenden Lifestyle-Konzepte scheinen noch nicht genug auf die Spitze getrieben zu sein: München, London, New York, Peking und …
Wie die Obdachlosen, Wohnungslosen, Elenden in New York, so haben diese auch in unseren anderen großen Städten eine Seismographen-Funktion für eine immer weiter aus dem Ruder laufende kapitalistische Stadtgesellschaft, die auch nicht mehr bereit oder in der Lage ist, diesen Wahnsinn zu stoppen.
Verdienstvoll ist es, dass Sebastian Moll, diese Seite der Metropole N.Y. immer wieder aufzeigt.“

Jürgen Malyssek, Wiesbaden

fr-balkenUnpassende Gegenüberstellung

Zu: „Der Herbst begann im April“, FR.de vom 6. April 17

„Obwohl es schwierig und gar gefährlich ist, erst recht in der aktuellen Demokratie, eine Äußerung zum Thema RAF zu formulieren, ohne nicht gleich und schnell in eine bestimmte Richtung gedrängt oder abgestempelt zu werden, dennoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass es nicht angebracht ist, in einem Atemzug RFA und IS in einem Satz gleich/wertig zu stellen, nur weil beide Gruppen als Terror (IS) und Terror (RAF) bezeichnet werden. Das Beherrschen der Sprachhermeneutik entschuldigt nicht die politische Unwissenheit.
Jeder Mord ist sicher ein Mord zu viel.
Doch IS und RAF haben -außer dem Überbegriff TERROR- fast nichts gemeinsam. Bereits die eine Differenz-Tatsache, dass die eine Terrorgruppe mit Sprengstoff&Selbstmord und/oder einem LKW in eine unbekannte wahllose Menschenmenge hinein fährt, während die andere Terrorgruppe immer wieder Bezüge zur Zeit vor und nach 1945 der deutschen Geschichte hergestellt hat, bevor sie aktiv wurde, zeigt, wie unpassend die o.g. Gleichstellung ist, ohne erst an das damalige Leiden des deutschen Nobel-Preisträgers Heinrich Böll durch den Überwachungsstaat BRD erinnern zu wollen.“

María del Carmen González, Frankfurt

fr-balkenPauschale Aburteilung

Zu: „Ich traue den Grünen das Regieren zu“, FR v. 11.3.2017, und „Es geht um die Existenzfrage“, FR vom 11. März, S. 2.

„In der deutschen Öffentlichkeit heißt es immer wieder: Zu wenig Politiker in den großen Volksparteien hätten echtes Format. Diese pauschale Aburteilung wird den Gegebenheiten nicht gerecht. Richtig mag sein, dass sich für das „politische Geschäft“ nicht immer die allerdynamischsten, kreativen, Menschen zur Verfügung stellen. Das lässt sich aber nicht ändern, weil das GG freie Berufswahl vorsieht. Auch die Klage, dass Frauen zu wenig nach Führungspositionen in der Politik streben, ist zu pauschal. Was ist nicht Andrea Nahles schon mit ideologischem oder gar persönlichem Schmutz beworfen worden und wie wird sie jetzt sogar bei CDU & CSU als SPD-Politikerin geschätzt?
Ein Mann, der aus der SPD herausragt, aber eher bescheiden in der Öffentlichkeit auftritt, ist SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Er könnte wohl jedes Ministeramt stemmen und kann auch irgendwann als Kanzlerkandidat nicht ausgeschlossen werden. Was aus Oppermanns Mund kommt, ist in der Regel abgewogen. So ist es doch völlig einleuchtend, wenn er im Interview mit der FR sagt, die Wirtschaft dürfe sich nicht über angebliche Anreize für Frühverrentung aufregen. Die Wirtschaft war es doch selbst, die in großem Still Frühverrentung faktisch anstieß, weil die Unternehmen einen schnellen Personalabbau erzielen wollten.“

Sigurd Schmidt, Bad Homburg

fr-balkenAndauernde inhaltliche Defizite

Link wird nachgeliefert

„Sigurd Schmidt behauptet, dass ‚die Zeiten der SPD als Arbeiter-Klassenpartei […] längst vorbei‘ seien, ’spätestens seit dem Godesberger Programm aus dem Jahr 1959′. Sicherlich spricht einiges dafür, dass die SPD damals ihre ideengeschichtlichen Wurzeln pauschal über Bord geworfen hat. Andererseits bekennt sich „Godesberg“ eindeutig zu einem demokratischen Sozialismus, der eine neue und bessere Ordnung anstrebe. Als dessen Grundwerte werden Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität genannt. Hergeleitet werden diese Prinzipien aus der christlichen Ethik, dem Humanismus und der klassischen Philosophie. Hingegen wird der Marxismus, der Wesentliches aus der klassischen Philosophie – von Kant bis Hegel – übernommen hat, nicht mehr erwähnt. Letzteres scheint mir das eigentliche Problem zu sein, aus dem sich die andauernden inhaltlichen Defizite der Sozialdemokratie erklären.
Erkennbar hilflos hat man am Ende der 50er Jahre auf die Diffamierungen der CDU reagiert, nach deren Meinung alle Wege des Marxismus bzw. des Kommunismus in Moskau enden würden. Die SPD, die den Bildungs- und Bewusstseinsstand ihrer Mitglieder bereits in den 50er Jahren nicht nennenswert vorangetrieben hat, obwohl die seit der Nazizeit grassierende antisowjetische Stimmung und der vermeintlich sozialistische Staat DDR (der tatsächlich eine Spießbürgerrepublik war) das unbedingt erfordert hätten. Stattdessen begab man sich auf die ideologischen Pfade des nach dem Zweiten Weltkrieg neu erwachten „korporativen Kapitalismus“ (Herbert Marcuse). Und redete sich und anderen ein, dass die Arbeiterklasse durch neue Arbeitnehmerschichten, beispielsweise durch die Angestellten, abgelöst würde, in Teilen bereits gar nicht mehr existiere.
Jedoch ist der Begriff „Arbeiterklasse“ in der marxistischen Theorie lediglich ein ersetzbares Synonym für alle, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und keinen Anteil an den Produktionsmitteln besitzen, folglich die Ziele der Produktion und des Handels einschließlich des Einhaltens ökologischer Standards nicht bestimmen können. Auf diesen gesellschaftlichen Widerspruch, der stets neue undemokratische Herrschaftsformen und stets neue Formen der ökonomischen und politischen Abhängigkeit hervorbringt, geht das Godesberger Programm bezeichnenderweise nicht ein. Stattdessen wird der Widerspruch zwischen der „friedlichen Nutzung“ der Atomkraft und der atomaren Bewaffnung betont. Dass die Entscheidung über die gemeinwirtschaftliche Nutzung der Naturkräfte vom Grad der Mitbestimmung einer wie auch immer sich bezeichnenden Arbeitnehmerschaft abhängt, wird verschwiegen.
Die SPD hat sich seinerzeit nicht von einer Gesinnungs- zu einer Verantwortungspartei verändert, wie Sigurd Schmidt meint. Denn über Max Webers Kategorien (Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik) wurde ausweislich der Parteitagsprotokolle nie diskutiert. Die Partei hat sich einem Mainstream angepasst in der Hoffnung, dadurch für ihre Klientel ein großes Stück des Kuchens sichern zu können. Sowohl der Bäcker als auch das Backwerk selbst waren und blieben ihr gleichgültig. Während der Schröder-Ära hat sie sogar sämtliche Scham verloren und sich mit den Reichen und Mächtigen gemein gemacht. Dadurch hat sie ihren Stimmenanteil bei den Bundestagswahlen zielstrebig um 50 Prozent reduziert (gemessen an den 45,8 Prozent, die Willy Brandt 1972 erzielte). Vor diesem Hintergrund ist Martin Schulz die letzte Möglichkeit, um dem Purgatorium in letzter Minute zu entrinnen.“

Klaus Philipp Mertens, Frankfurt

fr-balkenEin Schreck fuhr mir in die Hose

Zur doppelten Staatsbürgerschaft

„Ein Schreck fuhr mir in die Hose. Lese ich doch heute in den Nachrichten, das ein hoher CDU-Politiker die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft fordert. Dies gibt mir Anlass genug, Dinge zu erwähnen die bereits seit Jahrzehnte überfällig sind. Ich frage mich schon seit langer Zeit wie es den Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft ergehen muss, die aus einem volkommen anderen Kulturkreis stammen (Staatsform u. Gesellschaft). Die Menschen die sich zu unserer freien Gesellschaft bekennen, brauchen keine zweite Staatsbürgerschaft, die wollen hier in Freiheit leben und sind bereits bestens integriert. Alle die, die dies nicht wollen, können natürlich hier bleiben, sind aber immer einer Paralellgesellschaft zuzuordnen. Deshalb haben sie auch bei demokratischen Wahlen nichts verloren.
Welche schwerwiegenden Folgen eine doppelte Staatsbürgerschaft hat, erleben wir gerade bei dem Journalisten Denis Yücel, dessen Befreiung ohne türkischen Pass bestimmt einfacher geworden wäre. Jetzt wird ein tragender Staatsakt daraus, mit weitreichenden diplomatischen Verwicklungen. Schon bezogen auf diesen einzelnen Fall ist die Entscheidung für nur eine Staatsbürgerschaft mehr als geboten. Alles andere wird die Integration der Menschen in unsere Gesellschaft erschweren oder sogar unmöglich machen.“

Rolf Lamprecht, Frankfurt

fr-balkenNicht nur mit dem Finger auf die Türkei zeigen

Zu: „Die Türkei am Scheideweg“ , FR v. 1. 3.

Ich demonstriere auch für die Freiheit Deniz Yücels. Aber ich frage mich, ob Menschen sich auch so engagieren würden, wenn er ,nur‘ türkischer Staatsbürger wäre? Oder wenn es einem afrikanischen Journalisten in irgendeinem afrikanischen Land so erginge: Würde ich es überhaupt wissen, oder die Information darüber zur Kenntnis nehmen, mich berühren lassen? Gut wäre auch, wenn das Engagement für Yücel auch so verstanden wird, wieder mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land zu wagen und nicht nur mit dem Finger auf die Türkei zu zeigen. Wie Stephan Hebel treffend ausführt, sind deutsche Politiker erst und nur dann überzeugend und glaubwürdig, wenn sie sich selbst an die Grundrechte halten und entsprechend politisch agieren. Die Affekte gegen Erdogan und die Entwicklung der Türkei zur Diktatur sind durchaus verständlich, aber sie sind auch Ausdruck einer Verschiebung des Zorns über innere Verhältnisse. Die Ereignisse um die Inhaftierung von Deniz Yücel in der Türkei führen deutlich vor Augen, dass wir in dieser Phase der Geschichte die Nationalstaatlichkeit weder überwinden können – ein vereintes Europa ist allenfalls theoretisch denkbar – noch in einen vordemokratischen Nationalismus zurück fallen dürfen. Die Entwicklung in der Türkei belegt, dass die Diktatur längst Einzug gehalten hat, die Abstimmung über ein sog. Präsidialsystem ist nur noch billige Show. Also sollten wir pfleglicher mit unserem Rechtsstaat und aufmerksamer mit den verbliebenen Resten unseres Sozialstaats umgehen. Aus mangelnder Sensibilität und Mitgefühl oder deren Unterdrückung entsteht der Affekt auf andere. Schauen wir also auf unsere Wölfe in Schafspelzen und Möchtegern-Erdogans. Sie gehören nicht automatisch zu den Guten, weil sie einen deutschen Pass haben.
Robert Maxeiner, Frankfurt

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