Postfach: Wenig Spielraum für die EU-Reform

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vom 9. November 2017

Wieder sind Leserbriefe liegen geblieben, für die ich im Print-Leserforum keinen Platz gefunden habe. Also ab mit ihnen ins „Postfach“ hier im FR-Blog. (Mehr über die Hintergründe –> HIER.) Zuerst wie immer ein kleiner Überblick.

  • Auf die EU kommen Probleme zu. Das meint Sigurd Schmidt aus Bad Homburg mit Bezug auf die mögliche Jamaika-Koalition in Berlin und die Reformvorhaben, die der französische Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen hat. Es sei nicht zu erkennen, warum gerade jetzt „eine überbordende Europa-Euphorie herrschen“ solle.
  • „Also, ihr Diplomaten, fertigt die Scheidungsurkunden für das atlantische Bündnis aus!“, fordert Otfried Schrot aus Ronnenberg angesichts der Meldung, dass Russland sich am Bau einer gemeinsamen Raumstation mit den USA im Mondorbit beteiligen wolle. Brauchen wir die Nato noch?
  • Was wir jedenfalls nicht brauchen, ist der Dieselskandal. Robert Maxeiner aus Frankfurt behauptet, es gebe gar keinen. Wäre das nicht wunderbar? Tatsächlich hätten wir „einen Justizskandal, indem die Kanzlerin meint, die Branche ‚habe große Fehler gemacht‘. Beim nächsten Strafzettel werde ich auch sagen, ich habe einen Fehler gemacht.“
  • Elmar Pfannerstill aus Erfurt findet die Forderung des Umweltbundesamtes nach Abschaffung des Dieselprivilegs überfällig: Es sei „mitverantwortlich für die Lkw-Lawine auf unseren Straßen, deren zerstörerische Auswirkungen (Infrastruktur, Umwelt, Unfälle, Staus) tagtäglich zu beobachten sind.“
  • Einen „Verzicht auf starke Sprüche“ hinsichtlich der Reparationsforderungen unserer europäischen Nachbarn hatte Herbert Büchsel aus Heidelberg in einem Leserbrief gefordert, der im Print veröffentlicht wurde. Da es darauf eine interessante Erwiderung gab, die es leider nicht ins Leserforum geschafft hat, wird er hier noch einmal veröffentlicht, zusammen mit der Replik von Hans Golombek aus Radevormfeld, der Herr Büchsel vorwirft, er mache „es sich mit der historischen Wahrheit sehr billig“.
  • Alle reden von Digitalisierung. Auch Michi Herl und FR-Leser Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt, dessen Zuschrift mal wieder zu lang fürs Leserforum war. Sein Fazit: „Die Digitalisierung setzt die perfekte Beherrschung der traditionellen Kommunikationsformen einschließlich der notwendigen Kulturtechniken (Denken, verstehendes Lesen, folgerichtiges Schreiben) voraus. Kenntnisse, die man sich bislang nicht aneignen wollte oder konnte, lassen sich durch digitale Medien allein nicht verbessern.“

Und was meinen Sie?

Balken 4Wenig Spielraum für die EU-Reform

Präsident Macron: „Europapolitik macht keine Pause “, FR.de vom 26. September

„Das Ergebnis der Bundestagswahl 2017 kann den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in keiner Weise erfreuen, denn die mutmaßliche Jamaika-Koalition – wenn es denn eine solche überhaupt geben sollte – ist eine politische Konstellation, die der Regierung in Berlin wenig Manöverspielraum in Sachen Scheckbuch-Diplomatie innerhalb der EU belässt. Dies wird die FDP schon zu verhindern wissen. Die Fragen: Fiskalpakt, ein Eurozonen-Finanzminister und vertiefte Integration innerhalb der (nach dem Brexit) verbleibenden 27 EU-Mitglieder sind nicht über den Kopf der einzelnen EU-Mitgliedsländer hinweg zu verwirklichen.
Die von Frankreich angestrebte Neugründung der EU lässt sich nur auf einem europäischen Konvent bewirken, der sich über mehrere Monate – wie vor Hunderten von Jahren das berühmte Konzil von Trient – hinziehen müsste. Im Kern wären die Begriffe Subsidiarität und Supranationalität unter besonderer Berücksichtigung einer gemeinsamen Verteidigung Europas – neben dem Nato-Schutzschirm – zu erörtern.
Nachdem seinerzeit eine europäische Verfassung an den Volksreferenden in Frankreich und Holland scheiterte, ist nicht zu sehen, wieso gerade jetzt, nicht nur in diesen beiden Ländern, eine überbordende Europa-Euphorie herrschen sollte? So erfreulich Bürgerinitiativen wie „Pulse of Europe“ auch sind, sollte deren Wirkungsmächtigkeit doch bitte nicht überschätzt werden.
Die Forderung, dass die Bundesrepublik Deutschland jetzt die Führung in Europa zu übernehmen hätte, ist völlig absurd. Die übrigen EU-Mitglieder wollen dies gar nicht. Die immer wieder erhobene Einforderung von mehr erklärtem Führungswillen von Seiten der Bundesrepublik ist nur ein Ablenkungsmanöver davon, dass andere EU-Mitglieder noch nicht bereit sind, ihre eigenen, vor allem finanzpolitischen Hausaufgaben zu machen. Wenn dann auch noch Reparationsforderungen an das heutige Deutschland gestellt werden (Griechenland, Polen) erhält die AfD nur mehr Zunder für ihre Forderung, dass Deutschland aus der EU oder zumindest dem Euro- Währungssraum austreten möge.
Vor allem muss das dumme Gerede aufhören, die Bundesrepublik zwinge anderen EU-Mitgliedern eine Austerität auf. „In the long run“ kann doch keine Volkswirtschaft mehr Geld ausgeben, als sie einnimmt. Wieso sind eigentlich Sparsamkeit und Enthaltsamkeit im Anhäufen neuer Schulden ablehnungswürdige Tugenden?“

Sigurd Schmidt, Bad Homburg

Balken 4Die neue Entbehrlichkeit der Nato

Zu: „Russland will mit USA Bau einer Raumstation im Mondorbit vorantreiben „, FR.de vom 27. September

„Russland und die USA wollen eine gemeinsame Mondstation bauen. Getauft wurde das Projekt auf den Namen ‚Deep Space Gateway‘. Im Vordergrund der Kooperation stehen technische Fragen. Die Internationale Raumstation ISS würde als Sprungbrett dienen. Der „Deep Space Gateway“ ist ein Projekt der US-Raumfahrtbehörde NASA. Die Station soll auf einer Umlaufbahn um den Mond kreisen und ähnlich wie derzeit die Raumstation ISS bemannt sein.
Na also, wunderbar, traumhaft! Wenn Russland und die USA im Weltraum so fugendicht und nahtlos miteinander zusammenarbeiten, werden sie doch nicht auf der Erde gegeneinander Krieg führen – ohnehin nur zum Wohle der Rüstungsindustrie! Dann können wir uns doch die Nato sparen, deren Funktion ohnehin immer deutlicher zu Tage tritt, nämlich die USA bei der Erreichung ihrer weltpolitischen Ziele als Handlanger zu unterstützen wie in Afghanistan.
Wusste Donald Trump nicht, wie hervorragend amerikanische und russische Wissenschaftler zusammenarbeiten, als er die Unverschämtheit besaß, die sogenannten Verbündeten zur Erhöhung ihrer Rüstungsausgaben aufzufordern? Die neue Bundesregierung sollte den Anstoß zur Auflösung der Nato geben und zum endgültigen Abzug amerikanischer Atomsprengköpfe von deutschem Boden. Der Leserbriefschreiber traut weder Donald Trump noch Wladimir Putin zu, dass sie so verrückt sein werden, auf dem Erdboden gegeneinander einen Atomkrieg zu führen, während sie gleichzeitig Hand in Hand Weltraumspaziergänge machen!
Also, ihr Diplomaten, fertigt die Scheidungsurkunden für das atlantische Bündnis aus! Dann wird der über Europa liegende Schatten Donald Trumps verschwinden und die nunmehr bündnisfrei werdenden europäischen Staaten werden in der zukünftigen Europaarmee unter Führung Emmanuel Macrons aufgehen. Vive l’Europe libre!“

Otfried Schrot, Ronnenberg

Balken 4Der Schaden ist angerichtet

Dieselskandal: „Zu Lasten der Steuerzahler „, FR.de vom 25. September

„Es gibt keinen Dieselskandal. Inzwischen halte ich es für einen Skandal, dass der Betrugsskandal deutscher Autokonzerne nach dem Treibstoff benannt wird, als würden wir einer animistischen Religion angehören, welche die Machenschaften von Menschen auf Materie projeziert. Dass Dieselfahrzeuge gesundheitsschädigend für Menschen sind, ist seit Jahren bekannt. Neben dem Betrugsskandal oder in Zusammenhang mit diesem haben wir auch noch eine Amigo- oder Kumpanei-Affäre mit Stillhalteabkommen. (Herr Dobrinth wirbt ja schon fleißig für seine Kumpels von der Autoindustrie.)
Schließlich haben wir noch einen Justizskandal, indem die Kanzlerin meint, die Branche „habe große Fehler gemacht.“ Beim nächsten Strafzettel werde ich auch sagen, ich habe einen Fehler gemacht, aber damit werde ich wohl kaum durchkommen, denn Konzerne werden gehätschelt, Bürger bestraft. Diese Skandale haben wir schon jetzt, ob Audi-Manager auspacken oder nicht, und wozu dies führt, eröffnet möglicherweise einen anderen Skandal. Den Schaden an Gesundheit, Rechtsstaatlichkeit und Glaubwürdigkeit haben Winterkorn und Co, welche die Verantwortung dafür tragen, jetzt schon abgerichtet, ob er oder andere dafür irgendwann verurteilt werden oder nicht. Jetzt dürfen sie sich erst mal über ihr Mehrfachgeschäft durch Betrug freuen: Durch die verbotene Technik wurden Kaufanreize geschaffen und zusätzliche Gewinne erzielt, nun wird, wie beschrieben, ein Dieselskandal konstruiert, um wieder ein dickes Geschäft mit dem Verkauf von Neuwagen zu machen. Und womöglich gibt’s noch Steuervorteile obendrauf. Das ist die schöne, neue, zukunftsfähige Konzernokratie.“

Robert Maxeiner, Frankfurt

Balken 4Überfällige Forderung

Zu: „Bundesumweltamt: Dieselprivileg bei Mineralölsteuer abschaffen „, FR.de vom 12. August

„Die Forderung des UBA, das Dieselprivileg abzuschaffen, ist nur folgerichtig und längst überfällig. Es sei daran erinnert, dass die Dieselvergünstigung nur auf Druck der Straßengüterverkehrslobby zustande gekommen und mitverantwortlich für die LKW-Lawine auf unseren Straßen ist, deren zerstörerische Auswirkungen (Infrastruktur, Umwelt, Unfälle, Staus, …) tagtäglich zu beobachten sind. Das Ausmaß des Dieselskandals ist eine unmittelbare Folge, da der vergünstigte Treibstoff viele PKW-Fahrer zum Kauf eines Diesels animiert hatte. Da noch jede Bundesregierung unter größtmöglicher Berücksichtigung aller Lobby-Interessen agiert hat, würde sich eine Abschaffung des Dieselprivilegs sicher über Jahre hinziehen und wahrscheinlich stufenweise erfolgen. Also keine Panik, liebe Dieselfahrer, es bleibt genügend Zeit, sich umzuorientieren und es besteht auch kein Grund, sich vor den Karren der Straßengüterverkehrslobby spannen zu lassen!“

Elmar Pfannerstill, Erfurt

Balken 4Verzicht auf starke Sprüche

Zu: „Warschau pocht auf Reparationen „, FR.de vom 12. September

„Dass die polnische PiS-Regierung gerade jetzt Ansprüche auf deutsche Reparationen für Schäden im Zweiten Weltkrieg einfordert, ist ganz sicher als populistisches Ablenkungsmanöver von der Kritik aus EU und Deutschland an ihren demokratiegefährdenden „Reformen“ zu werten. Aber so billig wie Herr Steffes kann man es sich mit der historischen Wahrheit nicht machen („Wir sind quitt!“). Tatsächlich sieht die ganze Situation etwas komplizierter aus:
Polen war das erste Opfer der deutschen Aggression 1939 und das mit einem hohen Preis: So wurden circa drei Millionen jüdische und drei Millionen nichtjüdische polnische Bürger/-innen während der fünfjährigen Besatzungszeit ermordet, und allein die Hauptstadt Warschau wurde zu über 80 Prozent zerstört. Wertsachen wurden geraubt; Kulturgüter, die nicht zu rauben waren, wurden verbrannt und gesprengt. Größere Teile Polens wurden dem „Großdeutschen Reich“ bis 1944 einverleibt, die Einwohner vertrieben.
Polen verzichtete im Londoner Schuldenabkommen auf weitere Reparationsansprüche. Dass Deutschland damals nach dem zerstörerischen Krieg – auch hinsichtlich anderer Opferländer – so glimpflich davonkam, war vor allem der Einsicht zu verdanken, dass der Versailler Vertrag von 1919 mit seinen überzogenen Forderungen Hitler als Wahlkampfmunition gedient hatte.
Die Aneignung der deutschen Ostgebiete durch Polen war keine Wiedergutmachung, sondern Folge der „Westverschiebung“ Polens, die Stalin mit Churchill vereinbart hatte, das heißt eine Kompensation der bisherigen Gebiete Polens in (heute) Weißrussland und der Ukraine, die an die Sowjetunion gingen.
Im Rahmen des deutsch-polnischen Vertrages von 1970 und nach 1990 wurden Opfer deutscher Repression in Höhe von etwa zwei Milliarden Euro entschädigt. Die Bundesrepublik verwies bei weiteren Forderungen ehemaliger Opferländer des Zweiten Weltkriegs immer auf die Zeit nach einem Friedensvertrag. Dieser wurde tatsächlich 1990 geschlossen, durfte aber genau deshalb nicht so heißen, sondern „Zwei-plus-Vier-Vertrag“.
Schlussfolgerung: Wir Deutschen sollten angesichts der historischen Schuld des Deutschen Reiches am überfallenen Polen überhaupt auf starke Sprüche gegenüber polnischen Forderungen verzichten, denn wenn Polen die Rechnung wirklich aufmacht, werden wir uns nicht nur auf formaljuristische Ausreden berufen können.“

Hans-Hermann Büchsel, Heidelberg

Balken 4

Bezug: Der vorangegangene Leserbrief

„Herr Büchsel macht genau dasselbe, was er einem anderen Leserforums-Teilnehmer vorwirft: Er macht es sich mit der historischen Wahrheit sehr billig. Er behauptet, dass Deutschland nach dem Krieg „glimpflich davonkam“ und spricht von der „Westverschiebung“ Polens wie von einem selbstverständlichen Naturereignis. Die Westverschiebung Polens bedeutete für Deutschland jedoch den Verlust eines ganzen Viertels seines Territoriums von 1937, den Verlust zahlreicher wertvoller Bergwerke, vieler Städte und Dörfer, umfangreichen Ackerlands, das zu den Kornkammern Deutschlands zählte (Niederschlesien), zwang das restliche Deutschland dazu, Millionen Vertriebener aufzunehmen und zu entschädigen. Und das soll „glimpflich“ sein?
Nein, diese Gebietsübertragungen sind die eigentlichen Reparationen, nicht die angesichts der in Polen angerichteten Schäden in der Tat relativ bescheidenen Geldsummen, die nach Polen geflossen sind. Die Westmächte haben doch nicht „aus Jux und Dollerei“ der „Westverschiebung“ zugestimmt und damit den Landraub Ostpolens (das im Übrigen mehrheitlich nicht von Polen, sondern von Ukrainern und Weißrussen bewohnt war) durch Stalin zugestimmt, sondern weil sie diese in gewissem Sinn als moralisch gerechtfertigt angesehen haben angesichts der Tatsache, dass Nazideutschland Polen überfallen und dort gigantische Verbrechen begangen hat. Deswegen hat ja auch die deutsche Öffentlichkeit allmählich mehrheitlich diesen riesigen Landverlust akzeptiert.
Wenn die jetzige polnische Regierung weiterhin in unglaublich unverantwortlicher Weise von angeblich ausstehenden Reparationen spricht, wird man sich in Deutschland wieder des Verlusts wertvoller deutscher Gebiete bewusst werden und es werden alte Wunden aufbrechen mit allen negativen Folgen für die deutsch-polnischen Beziehungen. Das bedauere ich sehr als jemand, der über viele Jahre hinweg für die deutsch-polnische Hochschulzusammenarbeit tätig war und bei seiner Arbeit in Polen viele Freunde gefunden hat.“

Hans Golombek, Radevormwald

Balken 4Voraussetzung: Denken, Verstehen, Schreiben

Kolumne: „Von den unterdigitalisierten Deutschen „, FR.de vom 19. September

„Michael Herls Satire entlarvt sehr überzeugend das Schlagwort von der Digitalisierung. Tatsächlich genießt es bei denen einen besonders hohen Rang, die mit dieser Technologie allem Anschein nach überfordert sind oder sich Unerfüllbares von ihr versprechen, Politiker eingeschlossen. Ihnen erscheint sie als Allheilmittel zur Überwindung sämtlicher Defizite. Menschen, die während ihrer Schulzeit zu hoffnungslosen Legasthenikern erzogen wurden, schwören auf das Smartphone, das ihnen den Duden, den Großen Brockhaus und Meyers Konversations-Lexikon per Klick in die bislang ungenutzten grauen Gehirnzellen implantieren könnte – selbstverständlich auf die Wikipedia-Standards reduziert. Doch wer vermag ohne umfassende Allgemeinbildung zu entscheiden, was wichtig und was überholt ist?
Kenntnisse, die man sich bislang nicht aneignen wollte oder konnte, lassen sich durch digitale Medien allein nicht verbessern. Im Gegenteil: Man vergrößert durch ihren Gebrauch sogar den Kreis jener, der einen für nicht bildungsfähig hält. Die quasi aus der Hand geschüttelten und inflationär versandten E-Mails und SMS-Nachrichten machen den Grad der jeweiligen Nichtbildung gnadenlos öffentlich. Ebenso die Handy-Gespräche, die man in öffentlichen Verkehrsmitteln gegen den eigenen Willen mit anhören muss.
Zu einer Zeit, als man Mitteilungen handschriftlich, mit der Schreibmaschine oder mit einem professionellen PC-Programm verfasste, fühlte man sich zum Korrekturlesen veranlasst, schließlich wollte man sich nicht blamieren. Heute hingegen scheint die Blamage gesellschaftlich akzeptiert zu sein, weil sie bzw. ihre Ursachen vielfach gar nicht mehr erkannt werden. Es hat sogar den Anschein, dass der dümmste Nutzer der typische Anwender der einfachen digitalen Hilfsmittel ist. Letzteres wäre zu akzeptieren, würde es zu einem Qualifizierungssprung führen. Aber auf einen solchen wartet man vergeblich.
Ähnlich wie Michael Herr fällt auch mir regelmäßig ein bestimmter Mutti-Typ auf, der einen Kinderwagen bei Rot über die Ampel schiebt und in sein Smartphone vertieft ist. Vergleichbares ist von Radfahrern zu berichten, die auf Fußgängerwegen unterwegs sind und rote Ampeln grundsätzlich missachten. Und Autofahrer, die anscheinend mit dem Handy am Ohr geboren wurden, zeigen jenen seltsamen Gesichtsausdruck, der einst als Symptom für gefährliche Krankheiten galt.
Die Irrwege der Digitalisierung manifestieren sich unübersehbar beim Millionenheer jener Elenden, die zu sozialen Bindungen nicht mehr fähig sind und sich auf einer Internet-Peep-Show namens Facebook präsentieren müssen. Diese Gesellschaft der falschen Freunde vereinigt alles, was dringend repariert bzw. vollständig überwunden werden müsste. Digitalisierung allein wird dabei nicht helfen.
Ohnehin führt an den folgenden Binsenweisheiten kein Weg vorbei: Einem Bilanzbuchhalter, der Geschäftsvorfälle nicht in adäquate Buchungssätze umdenken kann, hilft auch die Digitalisierung nicht weiter; denn sie setzt exakt diese Kenntnisse voraus. Einem Anwalt nutzt eine digitale juristische Datenbank überhaupt nichts, wenn er seine Suchanfrage nicht anhand rechtswissenschaftlicher Kategorien formuliert, die er während des Studiums hoffentlich gelernt hat. Ein Programmierer, der einer Maschine Abläufe vorgeben soll, benötigt dazu eine detaillierte Beschreibung des zu automatisierenden Arbeitsprozesses. Fehlt es dieser Darstellung an sprachlicher Exaktheit und logischer Sprachfolge oder mangelt es dem Programmierer an Verständnis für die Elemente dieser Vorgänge, muss die digitale Umsetzung zwangsläufig fehlerhaft sein.
Fazit: Die Digitalisierung setzt die perfekte Beherrschung der traditionellen Kommunikationsformen einschließlich der notwendigen Kulturtechniken (Denken, verstehendes Lesen, folgerichtiges Schreiben) voraus. Auf einem anderen Blatt steht die Errichtung einer technischen Infrastruktur (Kabel, Funk etc.), die zumindest zum Teil auch in die Verantwortung des Staats fällt.“

Klaus Philipp Mertens, Frankfurt

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2 Kommentare zu “Postfach: Wenig Spielraum für die EU-Reform

  1. Zu Klaus Philip Mertens ‚Digitalisierung: Denken,Verstehen, Schreiben‘:

    Ich kann bei diesem Thema meinen Kulturpessimismus nicht verbergen und sehe aus meinen Alltagsbeobachtungen wenig Anlass, dass sich am Fortschreiten des „Millionenheeres jener Elenden, die zu sozialen Bindungen nicht mehr fähig sind“ und „dieser Gesellschaft der falschen Freunde“ sich etwas ändern sollte zu einer Rückbesinnung und Hinwendung der angesprochenen Kulturtechniken.
    Die Marktbeherrscher der digitalen Weiterbeschleunigung und Komplexitäten setzen Jahr für Jahr noch eins drauf. Und das Heer der Follower wächst: Bei alt und jung.

    Hinzu kommt, dass in der Öffentlichkeit fast alle Grenzen zum Privaten gefallen sind, was den Gebrauch der Handy-Smartphone-Geräte angeht.
    Das Ansehen und die inzwischen totale Vermarktung des sog. technischen Fortschritts ist so weit fortgeschritten, dass Denken, Verstehen, Schreiben wie hoffnungslose Nostalgie daherkommt.

    Ich hoffe, ich irre mich – zumindest in Teilen.

  2. @ leserbrief Hans-Hermann Büchsel,
    Warschau pocht auf Reparationen

    Polen ist bereits entschädigt worden, nach dem zweiten Weltkrieg.

    Polen hat Landzuwächse mit einem großen Teil des ehemaligen deutschen Reiches erhalten.
    Bekanntlich wurde die Ostgrenze Polens nach Westen verschoben.
    Desgleichen die westliche Grenze Polens , nach Deutschland dem Westen hin verschoben.
    Die Entschädigung ist bereits nach dem zweiten Weltkrieg geschehen für die Polen.
    Indem Polen Land und Gelände erhalten hat,
    vom ehemaligen Kriegsgegner
    Deutschland.
    Das war die erfolgte Reparation für die Polen.
    Deswegen sind diese Forderungen Polens völlig haltlos.

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