Pflegenotstand: Englische Verhältnisse sind auch bei uns möglich

Eine der großen Zukunftsherausforderungen für die deutsche Gesellschaft ist das Pflegesystem. Schon jetzt kann man von Pflegenotstand sprechen, werden Betroffene häufig mehr schlecht als recht betreut und gepflegt. Es fehlt an Personal, die Jobs sind schlecht bezahlt, aufwendige Dokumentation der Arbeit frisst Zeit und nervt, und beim Krankenhauspersonal kommen weitere Faktoren erschwerend hinzu. Davon berichtet nun Diana Tetzner aus Hattersheim, die eine Kinderkliniknotfallaufnahme leitet. Sie nimmt Stellung zu mehreren FR-Texten. Die Links finden sich unten. Frau Tetzners Zuschrift war viel zu lang, um vollständig im Print-Leserforum veröffentlicht zu werden, doch hier im FR-Blog ist das möglich und geschieht nun auch – im Gastbeitrag

Englische Verhältnisse sind auch bei uns möglich

Von Diana Tetzner

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In den letzten 14 Tagen habe ich mich über ein paar sehr informative Beiträge der FR zu Zuständen in einer Notaufnahme, Pflegemangel und anderen Pflegethemen gefreut. Angefangen mit der Kolumne „Das Rettende wächst – langsam“ von Harry Nutt. Darin beobachtet er den alltäglichen Wahnsinn einer Krankenhausaufnahme sehr realistisch und aus der Perspektive eines besorgten Sohnes.

Ich leite eine Kinderkliniknotfallaufnahme und eine Kinderstation mit angegliederter Tagesklinik. Die Vorhaltung von ausreichendem Personal, bei schwindenden Ressourcen und den bestehenden ökonomischen Zwängen, bestimmen täglich meinen Arbeitsalltag bis in meine freie Zeit hinein. Bezüglichn Herr Nutts frustriertem „Warten ist die erste Patientenpflicht“ will ich erklärend hinzufügen, dass durchaus ein System der Einschätzung existiert, das Auswirkungen auf die Wartezeit der Patienten besitzt, leider häufig auch auf der der eingewiesenen Patienten. Die Ersteinschätzung beruht auf den Symptomen, dem Allgemeinzustand, den gemessenen Vitalparametern, dem Bewusstseinszustand und der Krankenvorgeschichte. Diese Ersteinschätzung und alle weiteren folgenden Einschätzungen sind unabhängig von der Versicherungsart und der subjektiv empfundenen Dringlichkeit und wird i.d. R. von einer erfahrenen Pflegekraft der Aufnahme erhoben und dokumentiert. Diese informiert den diensthabenden Arzt über Dringlichkeit und Arbeitsanfall, auch telefonisch wenn sich dieser außerhalb der Notfallaufnahme bei der Versorgung eines Patienten befindet. Ökonomie und Personalmangel (Pflege und Ärzte) bestimmen auch hier die Rahmenbedingungen.

Bezüglich der empfundenen „schmutzigen Wirklichkeit“ will ich anmerken, dass ich es sehr positiv finde, dass hier eine vermutlich desorientierte oder demente Person nicht in ihrem Bewegungsdrang gestoppt wird. Freiheitsentzug nur um Dritten den gewöhnungsbedürftigen Anblick zu ersparen lehne auch ich ab. Gewöhnen wir uns daran, denn unsere Gesellschaft wird zunehmend multimorbide und hochaltrig.

Das Bild in den Notaufnahmen wird bestimmt von „echten“ und „normalen“ Notfällen, den Krankhauseinweisungen, den ambulanten Fällen, und nicht unerwähnt soll die Masse an Hilfesuchenden bleiben, die or allem an den Wochenenden, an den Feier- und Brückentagen die Aufnahmen stürmen, die eigentlich zum notärztlichen Dienst gehören. Mit zunehmendem Mangel an Hausärzten tendenziell steigend! Hier ist in der letzten Zeit schon an einer Optimierung der bestehenden Zustände gearbeitet worden, siehe die Ausweitung des kinderärztlichen Notdienstes, stundenweise zu bestimmten Tagen untergebracht in einigen Notfallaufnahmen im Rhein-Main-Gebiet; Einrichtung von Medizinischen Versorgungszentren in der Nähe von Kliniken; die Einführung, in einigen Kliniken, des Manchester-Triage-System, das die Notfälle von den Fällen für den ärztlichen Notdienst schneller differenziert etc.

Der Beitrag von Herr Szent-Ivanyi „Überfällige Hilfe“ ist mir positiv aufgefallen, weil er gut recheriert ist. Er handelt von Personalmangel, von einigen Gründen dafür und den dringlich erwarteten Reaktionen in der Politik darauf. Gelobt wird die Empfehlung zu Personaluntergrenzen, die wirklich dringlich benötigt werden, trotz des leeren Bewerbermarktes, denn es ist keine Option, so weiterzumachen wie bisher!

Kritisch sehe ich persönlich, dass hier eine Gruppe von Experten, unter denen sich kaum Experten der Pflege befinden, aber überwiegend Politiker, den Begriff „Pflegesensitive Bereiche“ nicht ausreichend klar definieren und die Geburtshilfe sowie die Kinderkrankenpflege scheinbar ausschließen. Hier erkenne ich schon die vermeintlich schwammig formulierten Schlupflöcher, um die Richtlinie zu umgehen. Zudem kann zur realistischen Abbildung des Pflegeaufwandes kein überholtes Instrument der PPR (Pflege-Personalregelung Bestandteil des Gesundheitsstrukturgesetz von 1993) dienen. Kontraproduktiv ist auch, dass Pflegekräfte mit einem Versorgungsschlüssel von 1:10 bis (nachts) über 30 wirklich kaum Zeit haben, den Pflegeaufwand realistisch in der Dokumentation abzubilden. Keine ausreichende Zeit für die Dokumentation wird aber keine realistische Bemessung des Personalbedarfes bedeuten.

Hier nur einige Beispiele für die tägliche Dokumentation: Aufnahme – Anamnese – Pflegeplanung – Pflegebericht – Assessments – Pflegemaßnahmen – und ggf. Pflegekomplexmaßnahmen-Score (PKMS) sowie pflegerelvante Nebendiagnosen, trotz zunehmender Digitalisierung wird eine hohe Zeit für Dokumentation aufgewendet, Zeit die wieder am Bett des Patienten fehlt.

Korrigieren möchte ich auch die etwas verwirrende Aussage, dass Krankenhäuser und Pflegeheime um das gleiche Personal konkurrieren, dass ist nicht ganz richtig. In den Pflegeheimen existieren schon länger kontrollierte Fachpersonalquoten bei den Altenpflegekräfen. Das fehlt in den Krankenhäusern bisher bei den Pflegekräften gänzlich, mit Ausnahme der Fachpflegekräfte z.B. auf den Intensiv- und Wachstationen.

Richtig ist, dass die Chance nach Tarif entlohnt zu werden, in Krankenhäusern am höchsten sind. Eine Sogwirkung der Krankenhäuser aufgrund der tariflichen Entlohnung kann ich mir aber erst nach 2020 mit In-Kraft-Treten der generalisierten Ausbildung vorstellen, aber nicht vorher. In der Akutversorgung der Krankenhäuser werden, mit wenigen Ausnahmen, kaum Altenpflegekräfte beschäftigt. Langfristig sehe ich zudem die Gefahr, eines nach 2020 eintretenden geschaffenen Defitzits an spezialisierter altengerechter und kindgerechter Pflege.

Zustimmen möchte ich dem letzten Absatz: Jammern hilft nicht! Pflege benötigt in jedem Bundesland eine Pflegekammer und eine eigene starke Gewerkschaft, die nur die Interessen der Pflegeberufe vertritt. Sonst haben wir gegebenenfalls auch ähnliche Zustände, wie im Beitrag vom 19.1.18 zum drohenden Kollaps des britischen Gesundheitssystems geschildert wird. Schon vor dem Brexit wandern scheinbar viele (britische Presse im Okt.2017 und Artikel meiner Fachzeitung) Pflegekräfte mit Migrationshintergrund ab. Allerdings macht sich auch hierzulande eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit breit, von der hysterisch geführten Diskussion um Flüchlinge will ich erst gar nicht reden.

Deutschland ist schon lange auf den konstanten Zustrom von Pflegepersonal und Altenpfleger angewiesen um die freien Stellen besetzen zu können. Wir helfen schon seit einigen Jahren, ausländischen Pflegekräften die Anerkennung ihrer Berufsbezeichnung in Deutschland zu erlangen, trotzdem können wir nicht alle freien Stellen besetzen. Die Spannung zwischen den ökonomischen Rahmenbedingungen, dem Recht der Patienten/ Bewohner auf gute Betreuung und Pflegeleistungen und das Recht auf humane Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte/Altenpfleger ist mitlerweile extrem hoch! Englische Zustände sind für mich, in ein paar Jahren und ohne Gegensteuerung der Politik, auch bei uns denkbar. Soziale Gerechtigkeit, der Zugang für alle zu Gesundheit, Bildung und einem würdevollen Auskommen, gehört in Deutschland nicht abgeschafft, sondern ist für mich untrennbar mit unserer Demokratie verbunden. In den sozialen Spannungen und der derzeitigen Spaltung der Gesellschaft sehe ich eine große Gefahr.

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12 Kommentare zu “Pflegenotstand: Englische Verhältnisse sind auch bei uns möglich

  1. Ob das Versprechen auf Heilung eingelöst werden kann, liegt nicht allein in den Händen des medizinischen Personals, sondern bemisst sich ausschließlich daran, inwieweit es vorausgehend gelingt, notwendig auf den Begriff zu bringen, was die Welt dem einzelnen Menschen angetan hat, worauf Herbert Marcuse bereits im Jahr 1964 aufmerksam gemacht hat. Davon geleitet, verzichtete mein leiblicher Vater vor rund einem Jahr auf die ihm damals vonseiten einer Universitätsklinik angebotene Hilfe. Würden die wenigen ernst zu nehmenden Ansätze, die an sich unerlässliche Arbeit am Begriff zu leisten, nicht zunehmend unmöglich, weil zahllose Relativierungen höher im Kurs stehen, wäre er nicht auf geradezu brachiale Weise gezwungen gewesen, binnen weniger Wochen zu versterben. Insofern lenkt Frau Diana Tetzner mit ihrer überaus detaillierten Schilderung der Situation in der Kranken- und Altenpflege den Blick auf schiere Nebensächlichkeiten. Vor allem von einer Gewerkschaft zu erwarten, dass sie auf solch einem gesellschaftlich zentralen Gebiet unnachgiebiger Begriffsbildung nennenswerte Erkenntnisse gewinnt, könnte naiver nicht sein. Ohne wenigstens einer einzigen Wissenschaftseinrichtung, die zum Eingedenken der Natur im Subjekt imstande ist (Horkheimer/Adorno, 2016: 47, 22. Aufl.), wird sich selbst noch die politisch mächtigste Organisation der Arbeiterbewegung völlig in der Irre verlieren.

  2. @Ralf Rath
    Das Personal in den Krankenhäusern und Pflegeheimen leistet eine nicht nur körperlich, sondern vor allem psychisch belastende Arbeit für ein beschämend geringes Gehatlt.
    Herr Rath,
    der Ausdruck „schiere Nebensächlichkeit“ ist hierfür vollkommen fehl am Platze.

  3. @Henning Flessner
    Nachdem ich lediglich darauf verwiesen habe, dass jedweder Naturerkenntnis stets eine Konstitutionstheorie der Lebenswelt vorausgehen muss (siehe die von Habermas im Jahr 1971 an der Princeton University gehaltenen Christian Gauss Lectures), damit nicht zuletzt Ärzte, aber auch Kranken- oder Altenpfleger handlungsfähig bleiben, verwahre ich mich dagegen, dass Sie mir das Wort im Mund umdrehen und so tun, als ob ich deren Leistungen geringschätze. Im Gegenteil. Orientiert sich das medizinische Personal notwendig an längst unabweisbar auf dem Tisch liegenden Erkenntnissen in der Frage dessen, was gesellschaftlich an Gegebenheiten bereits existiert, noch bevor gehandelt werden kann, überschreitet deren Tun nicht die Grenzen des Umkreises, die ihm in einem arbeitsteiligen und insofern modernen Gemeinwesen abgezirkelt sind. Darauf bezieht sich meine Rede und meine Kritik von den Nebensächlichkeiten, die Frau Diana Tetzner zwar ausführlich schildert, die aber nicht das Zentrum der sozialen Auseinandersetzung bilden. Selbst Sigmund Freud hoffte laut der Vorbemerkung zu „Die Traumdeutung“ inständig, sich mit seiner Arbeit nicht außerhalb des Beritts eines Arztes zu bewegen. Die Gründe für Ihre Empörung angesichts meines Leserkommentars erschließen sich demnach nur Eingeweihten.

  4. @ Ralf Rath

    Sie haben recht. Die meisten Ihrer Kommentare erschließen sich nur Eingeweihten.

  5. @Brigitte Ernst
    Sollten Sie Zweifel an meiner Befähigung hegen, steht es Ihnen jederzeit frei, Einspruch zu erheben. Mir wäre nichts lieber als ein Verfahren auf Aberkennung meines Hochschulgrads. Allerdings verlangt der Souverän von Ihnen dafür Gründe. Genügen Sie nicht den Anforderungen, tritt mir der soziale Tod ein, dem mein körperlicher auf dem Fuß folgt.

  6. Den vielleicht verhängnisvollsten Fehler begehen die Angehörigen des medizinischen Personals einer Klinik vor allem dann, sobald sie sich dazu anschicken, den Zentralbegriff der Soziologie über Bord zu werfen, was seinerzeit Adorno in seiner letzten Vorlesung vor seinem Tod schon ausdrücklich kritisierte. Herrscht infolge dessen weithin blanker Naturalismus vor, helfen auch keine Forderungen mehr, etwa die Mindestbesetzung einer Station im Wege einer Verordnung festzulegen, weil dadurch die dortigen Patienten ohnehin ihrer Preisgabe entgegenblicken. Ohne eine geradezu eiserne Konstitution überlebt kein Mensch solch ein Gebaren Dritter.

  7. @ Ralf Rath

    Lieber Herr Rath,
    nichts liegt mir ferner, als Ihnen Ihren akademischen Grad aberkennen zu wollen. Wie käme ich dazu in Anbetracht dessen, dass ich mir über Ihre akademischen Fähigkeiten und Leistungen gar kein Urteil erlauben kann? Mir fällt nur auf, dass ich des Öfteren Problem habe, den Zusammenhang Ihrer Beiträge zu verstehen. Das mag daran liegen, dass ich Ihrem intellektuellen Niveau nicht gewachsen bin, es könnte aber auch an Kommunikationsschwierigkeiten Ihrerseits liegen.
    Deswegen würde ich Sie bitten, sich in Zukuft etwas weniger verklausuliert auszudücken.

  8. @Bronski, Frau Ernst,
    Sich den Gegenständen zu nähern, die hier im FR-Blog zur Diskussion stehen, ist nicht voraussetzungslos. Das, was bereits an Erkenntnissen vorliegt, muss daher selbst nachvollzogen werden. Insofern menschliche Arbeit als Begriff am wenigsten durchmessen ist, wie der Holocaust-Überlebende Primo Levi reklamiert, bieten sich vielfältige Möglichkeiten, Neues zu entdecken. Es wäre jedoch überaus vermessen, von mir zu erwarten, jeweils die gesamte Rezeptionsgeschichte zu referieren, die insbesondere das Konstituens des Sozialen inzwischen durchlaufen hat, auf der erfolgreiche Verausgabungen von Arbeitskraft als einer natürlichen Gegebenheit (siehe MEW 19:15) fußen. Wir sind schließlich nicht in der Schule und ich bin kein Lehrer, geschweige denn verbeamtet. Zwar obliegen mir als Beliehenem aufgrund meiner Amtsträgereigenschaft manche Pflichten. Auf welche Weise ich ihnen entspreche, ist mir zum Glück aber staatlich nicht befohlen.

  9. @ Ralf Rath

    Ich will mich anders ausdrücken. Das FR-Blog ist ein Ort des Austausches. Sie haben Recht: Sich den Gegenständen unserer Diskussionen zu nähern, ist nicht voraussetzungslos. Eine Voraussetzung ist zum Beispiel, sich so auszudrücken, dass man verstanden wird. Denn wenn man nicht verstanden wird, gibt es keinen Austausch, und Sie führen letztlich nur Selbstgespräche. Dafür ist das FR-Blog nicht der geeignete Ort. Es wäre ganz einfach freundlich und zuvorkommend von Ihnen, wenn Sie sich so ausdrücken würden, dass der Austausch mit Ihnen möglich wird. Dazu möchte ich Sie gern einladen. Dazu müssen Sie keine „gesamte Rezeptionsgeschichte referieren“, im Gegenteil: Sie dürfen durchaus sogar viel weniger referieren. Es wäre zum Beispiel schon mal ein erster Schritt, wenn man zwischen all den Geistesgrößen, die Sie zu referieren verstehen, Ihre eigenen Gedanken und Ihre eigene Meinung leichter herauslesen könnte.

  10. @Bronski
    Weshalb Sie mir die von mir zitierten Formulierungen beispielsweise von Max Horkheimer oder von Theodor W. Adorno in die Schuhe schieben möchten, ist wiederum für mich unverständlich. Es trägt nichts aus, das von beiden bevorzugte „Eingedenken der Natur im Subjekt“ zu paraphrasieren. Wie Sie wissen, würde ich mich dem Verdacht aussetzen, fremdes Eigentum als mein eigenes auszugeben. Auf das Gebiet strafrechtlicher Relevanz mögen sich andere hier im FR-Blog begeben. Von meiner Seite aus steht jedenfalls eine Grenzverletzung humaner Normalität nachweislich nicht in Aussicht.

  11. Wenn ich Ihnen was in die Schuhe schiebe, sieht das anders aus.

    Noch einmal die eindringliche Bitte: Bemühen Sie sich mehr und erkennbar darum, von den anderen Mitdiskutierenden verstanden zu werden!

    Und nun zurück zum Thema, und das ist hier die Pflege – und zwar nicht die der Kommunikation, was manchmal, wie man hier sehen konnte, wirklich schwierig ist, sondern die Pflege von bedürftigen Menschen im deutschen Gesundheitssystem.

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