SPD: Diskurs statt Geschlossenheitsrethorik

Was wird Andrea Nahles wohl gedacht haben, als sie am vergangenen Sonntag mit gut 66 Prozent zur SPD-Vorsitzenden gewählt wurde? Wird sie gedacht haben: „Zum Glück keine 100 Prozent!“? Oder: „Ein Denkzettel gleich zu Anfang – ich hab keinen Bock mehr!“? Oder: „War ja klar, die SPD ist eine schwierige Partei.“? Oder: „Okay, geschafft. Dann wollen wir mal!“?

Die älteste deutsche Partei hat jetzt also eine Vorsitzende. Der Job ist Andrea Nahles gewissermaßen zugeflogen. Als er vakant wurde, war keine andere da, die sich geeignet hätte. Olaf Scholz, der die Partei kommissarisch für den Übergang bis zum Parteitag geleitet hat, wollte den Posten offensichtlich jedenfalls nicht. Vielleicht weiß er, dass er nicht gerade für Erneuerung steht und dass er nicht der Richtige dafür ist, den Erneuerungsprozess in die Wege zu leiten, welcher der „alten Tante“ SPD jetzt ins Haus steht. Vielleicht weiß er auch, dass dieser Erneuerungsprozess zu Diskussionen über marktliberale und sogar marktradikale Positionen bei den Sozis wird führen müssen, über die Agenda-SPD, die er vertreten hat. Der Skandal bei der Sozialhilfereform von damals und insbesondere bei Hartz IV ist ja, dass die Bedürfnisse von Menschen den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes nachgeordnet behandelt werden und dass die vermittelnden Behörden diverse Mittel zur Sanktionierung von abweichendem Verhalten an die Hand bekamen. Das Ziel war, Druck auf die Arbeitnehmer aufzubauen, um ihre Bereitschaft zu erhöhen, auch schlechter qualifizierte Arbeit anzunehmen. Hartz IV trug dazu bei, in Deutschland einen großen Niedriglohnsektor entstehen zu lassen. Sozial ist, was Arbeit schafft, hieß es immer wieder. Die Frage: Was für Arbeit? spielte eine nachrangige Rolle.

Diese Politik war unter anderem deswegen unsozial, weil sie vom Markt her gedacht war, nicht vom Menschen her, und genau das ist das Problem, mit dem sich die SPD bis heute schwertut und dessen Aufarbeitung nun ansteht. Es ist gut möglich, dass Andrea Nahles die Richtige für diesen Posten und diese Aufgabe ist, denn sie hat schon in der Regierung – sie gehörte der vorigen großen Koalition als Arbeitsministerin an – gezeigt, dass sie sich durchsetzen kann, und hat ein arbeitsmarktpolitisches Instrument etabliert, dass zur Regulierung des Arbeitsmarktes beiträgt und ihm nach unten eine Grenze einzieht: den Mindestlohn. Linke schmähen ihn: zu niedrig, zu viele Ausnahmen. Dennoch: Diese Marktregulierung gegen den Widerstand der Wirtschaftsliberalen in der CDU durchgesetzt zu haben, aber auch gegen den Widerstand der mächtigen Arbeitgeberverbände, das war ein Markstein. Dank Nahles haben wir jetzt den Mindestlohn, und er wird uns auch erhalten bleiben.

Nahles könnte die Richtige sein, um zwischen den Flügeln der SPD zu vermitteln und den Diskussionsprozess zu führen, der jetzt ansteht. Sie ist kämpferisch, energisch und klug. Ich wünsche ihr viel Kraft für ihren Job, die richtigen Ideen im richtigen Moment – und vor allem konstruktive Ideen, um die deutsche Sozialdemokratie in die Zukunft zu entwickeln. Denn die SPD wird noch gebraucht.

Achtung, vorsorglicher Hinweis: Dieser Thread wird am 9. Mai beendet, weil das FR-Blog dann wegen Bronskis Urlaub ruht. Nach dessen Ende kann es im Juni weitergehen.

Balken 4Leserbriefe

Hans Möller aus Frankfurt meint:

„Wenn Tobias Peter die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles als „lebenslustige , humorvolle Person“ beschreibt, kann ich nur voll und ganz zustimmen.
Es zeugt von deren sehr speziellem Humor, wenn sie die SPD „als den starken Arm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ sieht, kurz nachdem Olaf Scholz mit Jörg Kukies einen Topmanager aus der Schmiede für finanzielle Massenvernichtungswaffen GoldmanSachs zum Staatsekretär im Finanzministerium ernannt hat.
Von den Ergebnissen „hochqualifizierter Regierungsberatung“ durch die Finanzjongleure von GoldmanSachs können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner in Griechenland ein Lied singen.
Die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und Rentner dürfen gespannt darauf sein, mit welchem finanztechnischen Hokuspokus ihnen demnächst das „Weiter so“ bei der Umverteilung von unten nach oben durch den SPD-Finanzminster Olaf Scholz und die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles als soziale Gerechtigkeit verkauft werden soll.“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:

„Bisher ist es den politischen Kommentatoren in der Bundesrepublik noch nicht gelungen, für die Malaise der SPD ( siehe Peer Steinbrück“s neuestes Buch: „Das Elend der SPD“) eine griffige Gesamterklärung vorzulegen. Die Erosion des Arbeitermilieus allein reicht dafür nicht aus. Die blumige Formel, die SPD verstehe es nicht, ein gültiges Narrativ für die parzellierte Gesellschaft von heute zu entwerfen, hilft auch nicht wirklich weiter. Politische Märchen wollen die Leute jetzt auch nicht hören! Zu viel ideologisierende Visionitis wird der SPD nach dem großen Pragmatismus-Schwung 1959 (mit dem Bad Godesberger Programm) auch nicht mehr abgenommen.
Der konservative Historiker Andreas Rödder versucht es mit dem sprachanalytischen Grundwiderspruch der Moderne: Pluralisierung versus Vereinheitlichung. Die Parteien sollten ihren (doch letztlich immer fruchtbaren) inneren Streit besser nach außen als nun einmal notwendigen Diskurs kommunizieren. Auch solle man endlich das Geleier der ständigen Geschlossenheitsrethorik aufgeben. Und die Medien sollten nicht immer sogleich jede innerparteilichen Auseinandersetzung zur großen Krise des Niedergangs einer Volkspartei ausrufen. Auch die Erklärung, große Schichten der Bevölkerung wären von einer diffusen Zukunftsangst befallen (Stichworte: Digitalisierung und Stimmungs-Soziologie), kann nicht voll befriedigen. ^Bleibt dann doch auch noch, wie immer in politischen Dingen, die personalpolitische Komponente. Ist Andrea Nahles wirklich der geeignete „spiritus rector“ oder die passende geistige Inspiratorin?
Die vielleicht dann doch wichtigste Formel, mit der die SPD wieder Stimmenzuwächse – nachhaltig – erzielen kann ist wohl die, daß die Wirtschaft der Gesellschaft und nicht umgekehrt zu dienen habe. Denn der Vorwurf an die heutige SPD, sie sei zu sehr mit dem neoliberalen Virus infiziert oder kontaminiert, bezeichnet genau die Stelle, an der die Wählerschaft eine klarere Positionierung der SPD gegenüber den Struktur-Konservativen vermisst.“

Thomas Ewald-Wehner aus Nidderau zu einem Interview, dass Andrea Nahles der FR vor dem Parteitag gegeben hat:

„Andrea Nahles bleibt bei vagen Ankündigungen wie: „Die Erneuerung kommt“. – Einerseits „Zuchtmeisterin“ der SPD – Bundestagsfraktion, die sich botmäßig zur „Großen Koalition“ verhalten soll; andererseits Ideengeberin einer sich erneuernden SPD – wie soll das gehen?
Dass die Köchin die Leitung im Staate übernehmen solle – eine Überlegung Bertolt Brechts – ist keine in der SPD weit verbreitete Vorstellung. Auch Frau Nahles wäre die (Re-)Lektüre des Klassikers des legendären SPD-Vorsitzenden August Bebel „Die Frau und der Sozialismus“ zu empfehlen. Das war ein Bestseller zur „Frauenfrage“, der August Bebel zu einem reichen Manne machte. Da finden sich nach wie vor nützliche Überlegungen, wie Frauen verstärkt in der Politik vertreten sein könnten. Und Bebel hebt sich damit positiv vom „Gedöns-und-Hartz-Vier-Agenda“-Mann Schröder ab.
Warum bezieht sich Andrea Nahles aktuell nicht auf Willy Brandts Ost-, Entspannungs- und Abrüstungspolitik mit wichtigen Impulsen in und für den „Süden“ – auch wenn sie Brandt nicht als ihren „Übervater“ sieht? – Brandt war – wie August Bebel auch ein Mann – der Friedenssicherung und Kriegsgegner. – Wie kann mit Blick auf Russland eine neue Entspannungs- und Friedenspolitik kreiert werden, die klassisch sozialdemokratisch geprägt ist? – Dazu keine gehaltvollen Angaben, wo doch die Welt voller Kriegsgeschrei ist. Keine Positionierung gegen die von der NATO gesetzten Marke der „2%-vom-Bruttoinlandsprodukt-Hochrüstung“.
Aber ohne Frieden, Entspannung und Abrüstung ist keine vernünftige Sozialpolitik möglich und das „Harz-Vier-Gift“, das weit in den sozialen Organismus der Bundesrepublik gedrungen ist, zu bekämpfen.“

Alfred Kastner aus Weiden:

„Die lediglich 66 % Zustimmung für Andrea Nahles bei der Wahl zur SPD-Vorsitzenden können angesichts des dramatischen Absturzes von Martin Schulz, der vor etwas mehr als einem Jahr 100 % erreicht hatte, durchaus als gutes Omen gewertet werden.
In ihrer Bewerbungsrede für den Parteivorsitz hat Nahles ein Versprechen abgegeben: Sie werde den Beweis dafür antreten, dass man die Partei in der Regierung erneuern könne. Wenn dies jemand in der SPD zuzutrauen ist, dann Andrea Nahles.
In einem vor einiger Zeit veröffentlichten Buch über Martin Schulz findet sich ein bemerkenswerter Satz, der viel darüber sagt, wie brutal und rücksichtslos in der Politik um die Macht gerungen wird. Anfang vergangenen Jahres, als sich die Schulz-Euphorie gerade Bahn gebrochen hatte, sagte Andrea Nahles demnach zu Martin Schulz über Sigmar Gabriel Folgendes: „Entweder du killst ihn, oder er killt dich.“ Nahles ist eine leidenschaftliche Vollblutpolitikerin mit erheblichem Durchsetzungsvermögen. Sie hat Machtwillen, einen ausgeprägten Killerinstinkt und Humor, auch wenn er zuweilen etwas grobschlächtig des Weges kommt. Nahles galt bereits in der letzten Bundesregierung als eine der stärksten Ministerinnen im Kabinett. Den Mindestlohn hat sie gegen viele Widerstände durchgesetzt.
Mit Angela Merkel verbindet sie, dass sie auf ihrem Weg an die Spitze der Partei so manchen innerparteilichen Konkurrenten „aus dem Weg“ räumen musste. Aber genau wie bei Merkel ist es ihr nicht zum Vorwurf zu machen, wenn sich die meist männlichen Konkurrenten nahezu kampflos frühzeitig „vom Acker“ machten.
Viele Sozialdemokraten hängen noch immer einer vergangenen Epoche nach, in der der lebenslange, tariflich abgesicherte Vollzeit-Arbeitsplatz der Normalfall war. Als es den Wettbewerbsdruck der Globalisierung noch nicht annähernd in dem Maße gab wie heute und neue soziale Wohltaten noch vertretbar schienen. Von der digitalen Revolution war damals ebenfalls noch nicht die Rede. Nahles muss diesen Genossen einen Weg aufzeigen, wie die SPD Fortschritt und Gerechtigkeit in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung glaubwürdig voran bringen kann. Sie muss deutlich machen, dass dies nicht geht, indem man die Uhr zurückdreht.
Es gibt viel zu verteidigen: etwa die soziale Sicherheit, die durch Tarifverträge, Gewerkschaften und Unternehmen geschaffen wurde, aber auch Neues zu erkämpfen, zum Beispiel bessere Bildungschancen. Die SPD muss sich, statt wie aktuell ihre Energie in der Kritik an einzelnen Mitgliedern des Koalitionspartners zu vergeuden, wieder auf ihre Stärken besinnen und ihre Leistungen besser als bisher kommunizieren. Sie war im Grunde bereits in der letzten Legislaturperiode die stärkere Regierungspartei. Kanzlerin Merkel hatte es jedoch geschickt verstanden, die SPD für sich arbeiten zu lassen und die Erfolge anschließend selbst einzuheimsen.
Der jahrelange phlegmatische, plan- und ideenlose Regierungsstil von Kanzlerin Merkel dürfte sich jedoch allmählich seinem Ende neigen. Merkels Autoritätsverlust in der CDU ist mittlerweile mit Händen greifbar.
In Europa hat Frankreichs Präsident Macron das Zepter übernommen.
Bei den aktuellen weltpolitischen Krisen spielt Merkel so gut wie keine Rolle. Eine erneute Kanzlerkandidatur Merkels dürfte für die CDU den selben Niedergang einleiten wie für die SPD nach 2005. Auf diese Stunde wartet Andrea Nahles seit vielen Jahren.“

Manfred Kirsch aus Neuwied:

„Mit der Wahl einer Frau zur SPD-Parteivorsitzenden in der über 150-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie hat die SPD ebenso ein Zeichen gesetzt wie mit der Kandidatur zweier Genossinnen für das höchste Amt, das die Partei zu vergeben hat. Die Tatsache, dass mit Simone Lange eine Gegnerin der großen Koalition auf etwa dieselbe Unterstützung rechnen konnte wie die Gegner dieses Regierungsbündnisses bei dem Mitgliedervotum, zeigt deutlich, dass die Partei bei einem nicht irrelevanten Drittel der Mitglieder eine Fundamentalopposition gegen die GroKo verzeichnen kann. Die Gegenkandidatur mit ihrer Personaldiskussion hat für die SPD durchaus etwas Erfrischendes. Sie zeigt, dass in der SPD, und das sollte man positiv hervorheben, inzwischen die Zeit des Abnickens, in der Schröder-Ära Praxis, vorüber ist. Die schwierige Aufgabe, vor der Andrea Nahles jetzt steht, wird es sein, an der Erneuerung der SPD zu arbeiten und dennoch Regierungspartei zu sein. In der Praxis muss das heißen, dass die Bundesregierung immer dann auch öffentlich von der SPD kritisiert werden muss, wenn CDU/CSU versuchen, den Koalitionsvertrag einseitig zu Gunsten der Konservativen auszulegen. Viele SPD-Mitglieder, die wie ich vor langer Zeit ausgetreten waren und jetzt wieder eingetreten sind, werden mit Freude vernehmen, dass die neue Parteivorsitzende für eine Praxis stehen könnte, in der das offene Wort entsprechend der Tradition der Sozialdemokratie wieder häufiger ausgesprochen wird. Martin Schulz, der einstige Parteivorsitzende, der zu Recht von den Delegierten mit Standing Ovations gefeiert wurde, brachte es zum Schluss des Parteitages auf den Punkt, es gehe in diesen Zeiten um nicht mehr und nicht weniger als den Schutz und den Erhalt der Demokratie in Europa. Zu bedrohlich ist die Entwicklung, die von Rechtspopulisten in Europa ausgeht. Um das zu verhindern, braucht man eine starke Sozialdemokratie. Deshalb muss die allererste Aufgabe von Andrea Nahles und ihren Mitstreitern die Verhinderung eines rechten Rollbacks sein. Mögen sich die Sozialdemokraten nicht im kleinkarierten Streit der Tagespolitik vom Ziel des Zurückdrängens der braunen Gefahr abbringen lassen. Denn es geht um den Erhalt des liberalen und demokratischen Antlitzes dieser Republik. Der Sonderparteitag zeigte, dass die SPD Demokratie lebt, wobei es auch bleiben soll.“

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4 Kommentare zu “SPD: Diskurs statt Geschlossenheitsrethorik

  1. Herbert Oberbeck kritisiert im Nachruf auf Martin Baethge „das bis heute nicht gelöste Verharren gesellschaftlicher Institutionen in den Ordnungsprinzipien und Regulationsweisen der Industriegesellschaft“ (https://soziopolis.de/erinnern/nachrufe/artikel/martin-baethge/). Politisch entscheidend ist demnach nicht, ob sich die SPD erneuert. Vielmehr kommt es allein darauf an, gezielt soziale Innovationen zu fördern, um den seit längerem auf breiter Front anhaltenden Stillstand zu überwinden, wie es die Bundesregierung jüngst ausdrücklich versprochen hat (siehe die Rede von Frau Karliczek anlässlich des Zukunftsgipfels 2018). Wer nur die SPD dabei in den Blick nimmt, agiert insofern mit Scheuklappen und verliert die Gesellschaft als Ganzes aus den Augen. Die Aufgabe von Frau Nahles als Vorsitzende der SPD wird es somit sein, solch eine extreme Engführung des Diskurses tunlichst zu vermeiden.

  2. Die SPD errang bei der Bundestagswahl von 2002 38,5 Prozent der Stimmen. 2017 waren es noch 20,5 Prozent. Die Differenz entspricht einem Verlust von 46,5 Prozent. Damit hatte sich der überproportionale Abwärtstrend, der bereits seit den Wahlen 2009 und 2013 deutlich wurde, weiter fortgesetzt. Nämlich um einen Verlust von 5,2 Prozent gegenüber der Wahl von 2013 (25,7 Prozent).

    Der zum 1.1.2015 eingeführte Mindestlohn vermochte daran nichts zu ändern. Das kann nur so interpretiert werden, dass ein nennenswerter Teil der Wähler die SPD anhand anderer Kriterien, nämlich solcher, die der Lebenswirklichkeit näher zu sein scheinen, bewertet.

    Und ich mutmaße, dass der verheerende Vertrauensverlust überwiegend auf das Spitzenpersonal zurückzuführen ist. Schließlich ist der gesamte Parteivorstand dafür bekannt, dass er entweder die Agenda 2010 aktiv unterstützte oder diese Deregulierung der Sozialsysteme sowie die Privatisierung der Daseinsvorsorge auch nachträglich für geboten hält. Die Führung der Sozialdemokratie hat auf keine der Fragen, welche die Menschen verunsichern, auch nur die Ansätze einer seriösen Antwort:

    Wohin soll es führen, wenn Produktionen in Billiglohnländer verschoben werden, doch die Menschen dort nichts davon haben und folglich ein Gleichgewicht der Märkte durch das global vagabundierende Kapital konsequent unterbunden wird? Wenn diese Elenden unter den Armen sogar aus ihrer jeweiligen Heimat flüchten müssen, um der vielfältigen Not und den Stellvertreterkriegen der Großmächte zu entgehen und dort landen, wo alles seinen Ausgang nahm, bei uns, und dadurch die längst überwunden geglaubten Tyrannen von einst wieder hochgespült werden? Wenn die Digitalisierung mechanischer Arbeitsprozesse offensichtlich nicht dazu führen wird, die Verteilungsfrage grundsätzlich neu zu stellen und dadurch immer mehr Menschen mangels Arbeit der Verelendung ausgesetzt werden?

    Die Wahl von Andrea Nahles zur SPD-Vorsitzenden ist die Antwort einer Partei, deren Mehrheit sich inhaltlich längst aufgegeben hat und die sich lediglich noch damit beschäftigt, die Inschriften für ihre künftigen Denkmäler auszusuchen. Dabei hat Gerhard Schröder ihr den Platz in der Geschichte längst zugewiesen: Nämlich die Kapitulationsurkunde gegenüber dem Kapitalismus unterzeichnet zu haben.

  3. Wenn es Bronski erlaubt, möchte ich ein aktuelles Beispiel für eine soziale Innovation geben, bei der es sich lohnt, dass sich allen voran die SPD für sie einsetzt und die öffentliche Hand sie vielfältig fördert: Spätestens seit den frühen 1990er Jahren ist bekanntlich ein grundlegend neues Kapitel in der Rationalisierungsgeschichte menschlicher Arbeit aufgeschlagen. Kennzeichnet herkömmliche Formen der Rationalisierung, dass der Arbeitsprozess Gegenstand systematischer Untersuchungen mit dem Ziel ist, im Arbeitsvollzug die Mechanismen der Leistungsbegrenzung zu erkennen und auszuschalten, um vermeintlich die Profitabilität des Kapitals dadurch zu steigern, könnte es angesichts des besseren Wissens, das inzwischen vorliegt, kontraproduktiver nicht sein, daran festzuhalten und sich gleichsam die eigenen Finger zu verbrennen. Für ein im internationalen Verbund produzierendes Unternehmen wie die in Rüsselsheim ansässige Opel Automobile GmbH bedeutet das, dass es für die dortigen Belegschaften keine Zukunft gibt, falls keine Änderung in der Weise erfolgt, die darauf verzichtet, die ohnehin von Natur aus gegebenen Mechanismen der Leistungsbegrenzung auszuhebeln. Das Einsparpotenzial ist also enorm und bislang finanziell daran gebundene Mittel würden für die geplanten Investitionen in die Werke frei. Innenfinanziert ließen sich Maßnahmen ergreifen, die ansonsten außerhalb jeglicher Reichweite liegen. Flankiert werden müsste das Unterfangen allerdings zumindest vom Land Hessen, das gleich welche Kakistokratie (Herrschaft der Schlechtesten) ausschließt, indem es die Staatsanwaltschaften dazu aufruft, eigeninitiativ tätig zu werden, sobald Dritte das Recht auf Leben der Vertreter solch einer fortgeschrittensten Erkenntnis aus insofern zutiefst nichtigem Anlass in Zweifel ziehen.

  4. Ergänzung zu meinem am 25. April geposteten Leserkommentar: Die Frage der Notwendigkeit gesellschaftlicher Erneuerung und ihre nach wie vor andauernde Blockade ist inzwischen bald einhundert(!) Jahre alt. Helmuth Plessners so genannte „Grenzschrift“ erschien immerhin bereits im Jahr 1924. Will man sie am Beispiel der gegenwärtigen Situation bei der Opel Automobile GmbH deklinieren, fällt zuvörderst auf, dass sowohl das Management als auch der dortige Betriebsrat und die ihn beratende Industriegewerkschaft Metall heillos im allein fiktional bestehenden Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit verfangen sind. Sie laufen momentan schlicht ein totes Rennen und ein Ende der Eskalationsspirale, die allseitig lediglich die Kräfte bis zur völligen Erschöpfung raubt, ist nicht in Sicht. Zwar könnte jederzeit dafür optiert werden, in dem besagten Unfug, der nicht das Geringste mit der Realität zu tun hat, innezuhalten, weil ohnehin keiner als Sieger aus solch einer Auseinandersetzung hervorgehen wird. Das Blöße aber, fortgesetzt einer falschen Totalität den ihr nicht gebührenden Tribut gezollt zu haben, will sich niemand geben. Die Erklärung des Ministerpräsidenten Bouffier, dass Hessen an einer klaren und verlässlichen Zukunftsperspektive für das Unternehmen interessiert ist, muss infolge dessen ungehört verhallen. Das staatliche Gewaltmonopol erfährt auf diese Weise eine bis dahin nicht gekannte Relativierung. Wenn also selbst ein Bundesland gleichsam unter die Räder kommt, besitzt die SPD ihrerseits keinerlei Aussichten, sich jemals zu erneuern.

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