Die Bildungspolitik muss sich neu orientieren

In Deutschland fehlen 150 000 Lehrkräfte. Das kommt nicht unerwartet, aber trotzdem hat die Politik nicht gegengesteuert. Für Quereinsteiger ist ein Start im Bildungssystem, insbesondere als Lehrkraft an Schulen, vielfach einfacher als für Lehramtsstudent:innen nach abgeschlossenem Studium. Deutschland bildet unter Bedarf aus. Dasselbe Phänomen findet sich in der Medizin, in der Pflege, lange auch bei der Polizei. Als Grund werden vielfach die Kosten genannt.

Doch es liegt vor allem an den Strukturen. Sie sind undurchlässig. Anders als noch in der 1970er und 80er Jahren haben es Unterprivilegierte heute schwerer, sich durchzuboxen. Hinzu kommen wachsende Probleme mit bildungsfernen Schichten, die sich abkapseln. Wir brauchen ganz offensichtlich eine völlig andere Herangehensweise, mehr Gerechtigkeit in der Schule: ein „System für Annas, nicht für Hülyas„, wie es die Journalistin Melisa Erkurt fordert.

Bildung ist Deutschlands einzige nennenswerte Ressource. Es ist unausweichlich, dass aus dem Ausland gebildete Menschen nach Deutschland kommen müssen, um für unseren gemeinsamen Wohlstand zu arbeiten. Schwer erträglich ist allerdings, dass dies passieren muss, obwohl wir Potenziale im Land haben, die nur erkannt und entsprechend gefördert werden müssten. Denn der alte Spruch hat nichts an Realität verloren: Bildung ist der Schlüssel zur Zukunft.

fr-debatte

Tolle neue Konzepte ohne Konsequenzen

Zu: „Deutschland fehlen 150 000 Lehrkräfte“, FR-Politik vom 26. Januar

Bildung sollte doch so sein: alle Kinder haben ein Recht auf von Fachleuten erteilten Unterricht nach Stundentafel und gleich gut ausgestattete Schulen. Hinzu kommt das Recht, mit all ihren Problemen und Schwierigkeiten ernst genommen zu werden und ggf. notwendige Hilfen in der Schule zu erhalten.
Dies funktioniert mit den gegenwärtigen Strukturen schon in Normalzeiten nicht.  Es gibt keine durchgehend schul- & realitätsbezogene Lehrerausbildung, schon gar nicht in Kulturfächern (hat in NRW eigentlich Verfassungsrang!); Schulfinanzierung und -organisation funktioniert nach dem St. Florians Prinzip: Nimm’s möglichst aus deinem (leeren) Kommunaltopf, möglichst nicht aus dem Landes- /Bundestopf. Es fehlen Arbeitsplätze mit IT-Ausstattung für Lehrer in Schulen. Sind Lehrerinnen krank, kommt kein Ersatz, es gibt nicht mal das Bemühen eine Ersatzlehrersystem aufzubauen, wie es in anderen Ländern üblich ist. Die Austattung aller Schulen mit Schulpsychologen, Sozialarbeitern, Verwaltungspersonal., IT-Support, Krankenschwestern etc., was in anderen Ländern auch üblich ist, hier Fehlanzeige.
Es ließe sich endlos weiter auflisten. Fazit: Solange Parteien Schulpolitik zur Profilierung nutzen und Bildung lediglich als Kostenfaktor und nicht als Zukunftsinvestition ansehen werden die jeweiligen Bildminister tolle neue Konzepte erfinden, mit denen sie am Ende ihr Nichthandeln bemänteln.
Die Konzepte müssen dann auch noch von den Schulen mit Papieren gefüllt werden. Nur hilft das leider den Schülern und Schülerinnen nicht weiter. Hier ist eine grundlegende Umorientierung erfoderlich, aber leider nicht erkennbar. Nicht mal in ferner Zukunft.

Matthias Steng, Paderborn

Harter Selektionsprozess im Mathestudium

In meinem nächsten Umfeld gibt es zwei junge Leute, die nach Mathe-Leistungskurs und Einser-Abitur Mathematiklehrer:in werden wollten und mit Begeisterung das Lehramtsstudium aufgenommen haben. Beide haben es mittlerweile abbrechen müssen, weil sie eine einzige Klausur nicht bestanden haben. Beide bei Professoren, die dafür bekannt sind, regelmäßig im ersten Versuch 80 % ihrer Studierenden durchfallen zu lassen und die auch im zweiten Versuch die Hälfte „aussortieren“. Die betreffenden Professoren würden nun wahrscheinlich behaupten, dass diese Studierenden nicht geeignet seien, Mathematik zu lehren. Man könnte es aber auch so sehen, dass Professoren, die 80 % ihrer Studierenden das von ihnen geforderte Wissen nicht vermitteln können, nicht geeignet sind, Mathematik zu lehren!
Vermutlich gibt es solche „harte Knochen“ an fast allen Unis. Vielleicht sollte man auch mal die didaktischen Fähigkeiten der Lehrenden evaluieren, um die Studienabbrecherquote zu verringern. Denn diese beiden jungen Leute und viele andere, die das Pech hatten, an solche Professoren zu geraten, fehlen nun an den Schulen und müssen durch Seiteneinsteiger:innen ersetzt werden, die gar kein Lehramtsstudium absolviert haben.

Elke Fußbahn, Friedberg

fr-debatteBildung hat keinen hohen Stellenwert

Vielen Dank für den Artikel und den Warnhinweis im Kommentar. Peter Hanack führt an, dass es nicht am Geld läge sondern am hohen NC etc. Er bemerkt, dass man „den Bedarf jahrelang schlichtweg falsch eingeschätzt“ habe. Nun. Ich bin Jahrgang 1958, ein geburtenstarker Jahrgang, diesbzgl. gibt es eine Geburtsurkunde und eine entsprechenden Eintrag in das Geburtsregister. Gleichwohl zeigte sich das Land/ Staat überrascht, dass ich mit sechs Jahren in die Schule wollte (ich war der „Pillenknick“). Entsprechend war er völlig überrumpelt, dass ich mit 20 Jahren studieren wollte und er weiß nicht, dass ich vermutlich mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen werde. Man hat etwas falsch eingeschätzt? Wozu werden diese Daten erhoben? Man kann mit ein wenig mathematischen Geschick ausrechnen, dass der Jahrgang 1958 überwiegend 2023 in den Ruhestand gehen wird. Also sollte/ könnte man rechtzeitig gegensteuern. Viele Rentner sind in dem und dem Jahr zu erwarten, wie viele Kinder sind geboren worden, wie sollte die Klassenstärke sein, wie viele Studierende etc. gibt es? Das kann nicht ausgerechnet werden? Es läge nicht am Geld? Doch, denn die Länder sparen, gern auch an der Bildung und somit an der falschen Stelle, was sich aber noch nicht rumgesprochen hat. Hinzu kommt, dass Bildung, sieht man sich mal das Handeln an und hört nicht auf die Sonntagsreden, ohnehin keinen hohen Stellenwert in Deutschland hat.

Rüdiger Erdmann, Pattensen

fr-debatteMehr Selbstständigkeit für die Schulen

Im deutschen „Unterbietungsregime“ müssen insbesondere die Beschäftigten der öffentlichen Hand schlechtgeredet werden. Das betrifft auch die Lehrkräfte. Gerhard Schröders „faule Säcke“ sind immer noch nicht aus den Köpfen verschwunden. Umso fragwürdiger die Lehrkräfte dastehen, wie auch die Verhältnisse unter denen sie arbeiten, desto weniger Kosten verursachen sie. Die Abwärtsspirale gestaltet sich so: Ein in der Öffentlichkeit als wenig attraktiv angesehener Beruf führt zu weniger Nachwuchs, ein Umstand der die politisch Verantwortlichen anscheinend dazu zwingt die vorhandenen Stellen mit weniger Qualifizierten zu besetzen, was dann folgerichtig zu einer Absenkung der Qualität der Bildungsarbeit führt und so die Attraktivität des Tätigkeitsfeldes weiter schmälert. Das fällt selbstredend auf den Beruf zurück. Etwas gewinnen die Kultusminister dabei immer. Wenn schon nicht genug Nachwuchs präsentiert werden kann, hat man doch zumindest zur „schwarzen Null“ einiges beigetragen.
Gehaltsvergleiche mit anderen Ländern führen solange nicht weiter, wie es Länder gibt, die trotz niedrigerer Entlohnungen eine ausreichende Zahl an Lehrkräften mit solidem Selbstbewusstsein und dauerhaftem Interesse am Beruf vorzuweisen haben.
Die Lehrerverbände sind phantasielos in ihren Forderungen: mehr Geld, weniger Pflichtstunden und Reduzierung der Verwaltungsarbeit. Angemessen wären die Forderungen nach einem anderen Arbeitszeitmodell für die Lehrerschaft (z.B. 20 Unterrichtsstunden, 12 Präsenzstunden und 12 Stunden Vertrauensarbeitszeit bei unveränderter Ferienregelung), einem deutlich verbesserten sächlichen Umfeld für SuS und Lehrkräfte sowie mehr Selbstständigkeit für die Schulen. Einer Selbstständigkeit, die keinen starken Schulleiter / keine starke Schulleiterin zur Voraussetzung hat, sondern die kooperative Arbeit der Lehrkräfte in einer demokratisch verfassten Schule. Einer Selbstständigkeit, die nicht mit einer Verlagerung von Verantwortung im Sinne eines „Who is to blame“ einhergeht, sondern vielmehr mit einer ausreichenden Ressourcenzuweisung. Einer Selbstständigkeit, die eine Veränderung und ggf. Ausweitung von Arbeitsinhalten nur in den Blick nimmt, wenn diese der jeweiligen Schule dient und nicht der Bildungsverwaltung.
Darauf ließe sich auch eine andere Arbeitsorganisation und Zusammenarbeit aufbauen, mit der die Lehrerschaft und weitergehendes Schulpersonal den Anforderungen einer zeitgemäßen Bildungsarbeit genügen könnten. Solange der Einzelkämpfer / die Einzelkämpferin, ausgestattet mit zwei Lehrfächern, noch als zentrales Mittel zur Bewältigung dieser Anforderungen angesehen wird, steht es schlecht um die Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems.

Gerhard Bruckmann, Darmstadt

fr-debatte

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2 Kommentare zu “Die Bildungspolitik muss sich neu orientieren

  1. Mit dem Bericht „Ein System für Annas, nicht für Hülyas“ und dem Beitrag über die zukünftig fehlenden Lehrerstellen hat die FR diese Woche gleich zwei wichtige Beiträge zur Bildungspolitik veröffentlicht. Beide Themen sind in der Fachwelt schon lange bekannt und lassen sich seit Jahren in den OECD Bildungsberichten nachlesen. Trotzdem wird unser Bildungssystem von Seiten der Politik als eines der besten dargestellt und die wirkliche Not im System klein geredet.
    Schon jetzt fehlen an den Grundschulen, die die Basis für späteren Bildungserfolg legen, studierte Pädagog*innen. In den Ballungsgebieten wird sich kaum noch eine Schule finden, in der wirklich alle Kinder von ausgebildeten Lehrer*innen unterrichtet und als Klassenleitung durch ihre ersten 4 Schuljahre begleitet werden. Das ist für alle betroffenen Kinder bedauerlich, für Kinder aus bildungsfernen Familien oder Familien, die ihre Kinder sprachlich nicht unterstützen können, ist das ein echtes Problem. Denn dann kann zu Hause niemand ausgleichen, was in der Schule eventuell nicht vermittelt wird.
    Aber auch mit gut ausgebildeten Lehrkräften bleibt die Herausforderung bestehen, in 4 Jahren den Vorsprung aufzuholen, den ein Kind aus einem Akademikerhaushalt hat. Wer das schafft, ist nicht nur gut sondern sehr gut. Melisa Erkurt stellt das sehr anschaulich dar.
    Ich hoffe, dass ihr Buch auch in Deutschland von vielen Menschen gelesen wird und sich ein breites Interesse entwickelt, das Thema Bildungsgerechtigkeit als ein wichtiges Thema für die Zukunft unseres Landes und unsere Kinder zu erkennen. Und dass die FR das Thema zum Dauerthema macht.

  2. Dankenswert, dass die FR Melisa Erkurt in dieser Reihe eine Doppelseite einräumt und damit einmal mehr eine unerträgliche Schieflage unseres Schulsystems anprangert. Aber wie weiter, wer geht nun die sattsam bekannten Ungerechtigkeiten und dauerhaften Versäumnisse endlich an? Ich glaube nicht, dass die Grundschulen, wie Erkurt erwartet, den Ausgleich der mitgebrachten Benachteiligungen überhaupt als Auftrag angenommen haben. Zuvorderst organisieren sie die schulische Eingewöhnung nach bürgerlichen Maßstäben und tragen damit – wie Erkurt richtig konstatiert – selbst zur Verschärfung der Ungleichheit der Chancen bei, statt diese abzubauen. Jetzt und gleich könnten und müssten all die von ihr benannten Maßnahmen ergriffen werden, um allen Kindern gleichermaßen eine ehrliche Chance zu geben, ihre Potenziale zu entfalten. Stattdessen übernimmt die Grundschule aber weiterhin die Aufgabe, durch Noten und vergleichende Bewertung die anschließende Zuordnung zu verschieden wertigen Schulformen zu legitimieren. Einer unausgesprochenen Allianz bürgerlicher Vorteils-Profiteure gelingt es dabei perfekt, stets von der täglichen und langfristigen Benachteiligung nicht gutbürgerlich sozialisierter Kinder abzulenken. Der Skandal geht immer weiter, selbst wenn der Bundespräsident Steinmeier 2019 in der Paulskirche zu Recht betont: „Wir dürfen nicht zulassen, dass schon in den Vor- und Grundschuljahren Klassenunterschiede entstehen oder sich verfestigen.“
    Es wird aber zugelassen und beeinflusst die Haltung und Entscheidungen der Eltern und vieler Lehrkräfte. Die Würde der Kinder wird missachtet, das Selbstwertgefühl zu vieler geschädigt. Die Grundschule legt so den Grundstein zur Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit und Spaltung, zum Schaden der Kinder und der Gesellschaft – und keine/r tut was dagegen.

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