Durchschnittlichkeit ist nicht genug

Die Zeiten der freien Schulwahl sind vorbei. Kann man es den Eltern nachsehen, dass sie sauer sind, wenn sie sich viel Mühe damit gemacht haben, um die ihrer Meinung nach beste weiterführende Schule für ihre Sprösslinge zu finden, wenn sie dann aber erleben müssen, dass die Frage, auf welches Gymnasium das Kind kommt, nach dem Losverfahren entschieden wird? Man kann. Jeder wird das verstehen. Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder. Die Sache mit dem Losverfahren betrifft in diesem Jahr 500 Frankfurter Kinder, und entsprechend viele Eltern sind sauer. Die meisten wollen ihre Kinder auf die Gymmis im Norden der Stadt schicken, doch dort ist nicht genug Platz für alle.

Verständlich, dass die Eltern nach einer wohnortnahen Lösung suchen. Verständlich auch, dass sie nach Verantwortlichen für die Misere suchen. Die Frankfurter Bildungsdezernentin Sarah Sorge (Grüne) ist wohl nicht die richtige, aber sie ist diejenige, die den ganzen Ärger jetzt abkriegt. Verständlich auch, dass die Eltern bei der Ausbildung ihrer Kinder keine Kompromisse machen wollen. Die Heftigkeit, mit der die Auseinandersetzung geführt wird, überrascht dann aber doch. Wenn Eltern aus dem Nordend beispielsweise Plätze an den Gymnasien im Frankfurter Westen, etwa im Stadtteil Nied, mit der Begründung ablehnen, der Schulweg seit zu lang, dann frage ich mich, ob hier nicht noch andere Momente im Spiel sind. Von der U-Bahn-Station Miquel-/Adickesallee, in deren Nähe ich einige Jahre lang gelebt habe, fährt man mit U- und S-Bahn schlappe 20 Minuten nach Nied. Das sollte als Schulweg zumutbar sein, auch wenn vielleicht noch einmal die gleiche Zeitspanne für die Fußwege zur U-Bahn und zur Schule und zurück hinzukommen.

Wir haben hier einen Leserbrief eines Vaters, der namentlich nicht genannt werden möchte, da er scharf ins Gericht geht mit der herrschenden Situation. (Seine Identität ist mir natürlich bekannt, sonst würde ich den Leserbrief nicht veröffentlichen.) Der zweite Leserbrief nimmt die Frankfurter Bildungsdezernentin Sarah Sorge (Grüne) in Schutz. Vielleicht ergibt sich daraus eine Debatte über das Schulsystem der Gegenwart. Bildung ist die einzige nennenswerte Ressource, die Deutschland hat.

Ein Vater, der — wie er es ausdrückt — im Interesse seines Kindes ungenannt bleiben möchte, schreibt mir zum Thema

„Viele Eltern sind derzeit wütend, darüber, dass ihre Kinder statt in einer der zahlreichen Schulen im Stadtteil oder der näheren Umgebung zu Lernen, weite Wege auf sich nehmen müssen. Diese Wut ist natürlich unverständlich, die weiterführende Schule heißt ja nicht umsonst so. Vielen Kindern weite Schulwege zuzumuten, ist eine pädagogisch angemessene Entscheidung, weil sie ein Lernanlass ist – und das birgt für die Kinder enorme Erfolgsaussichten im späteren Leben gegenüber denen, die nur in ihrem Stadtteil rumtrullern.
Es wird nämlich auch wirklich Zeit, dass die Kinder im Alter von 10 Jahren mal die Stadtteile kennen lernen, in denen sie noch nie waren. Sie lernen auch, wie wenig kindgerecht Frankfurt im Berufsverkehr ist, wenn sie morgens so gegen 7 Uhr am Hauptbahnhof bei der Begegnung mit Obdachlosen gleich noch suggeriert bekommen: Mach lieber fleißig deine Hausaufgaben, dann musst du auch nicht den Traum vom Haus aufgeben.
Der Stadt und dem Staatlichen Schulamt darf man da keine Vorwürfe machen. Schülerzahlen lassen sich wirklich überhaupt nur schwer erfassen, weil ja immer mal wieder welche schwänzen. Da kann die ein oder andere Prognose mal in die Hose gehen. Und klar, dass Frau Sorge auch gleich mal bei der Elternversammlung in die Runde fragt, ob nicht jemand der Stadt ein geeignetes Grundstück für eine Schule anzubieten habe: Frage nicht, wie die Stadt die kindgerechte Bildung deiner Kinder organisieren kann, frage, ob du nicht vielleicht auch noch beim Bauen der Schulen mithelfen kannst. Und dass mir nicht jemand behaupte, bei Frau Sorge stände nicht das Kindeswohl im Mittelpunkt des Interesses. Als ihr der Unmut der zimperlichen Eltern entgegenschlug, erkannte sie ganz richtig: „Ich bitte Sie, machen Sie sich einmal Gedanken, … gehen Sie in sich und denken Sie einmal zu Hause am Küchentisch darüber nach, was sie mit so einem Verhalten ihrem Kind antun!“
Das Kind wird sicher froh sein, pro Tag diese dämlichen Eltern knapp zwei Stunden weniger zu sehen, weil es sich in der Zeit auf dem Schulweg nach Höchst befindet.
Apropos Gedanken machen: die haben sich die Eltern schon länger gemacht. Nämlich seit Herbst letzten Jahres darüber, welche drei Schulen zu dem Kind und seiner Entwicklung gut passen. Das ist Gehirnjogging. Leider wurde aber ausgelost, dass das Kind dort nicht hingehen soll. So ist es eben mit dem Glücksspiel, bzw. der Schulentscheidung und der Frage von Alltagsorganisation in Familien. Aber auch das ist Prävention gegen Spielsucht.
Und noch was lernen Kinder und Eltern auf diese Weise: die Stärken des Kindes zu identifizieren und in blumigen Wort zu umschreiben. Denn jetzt verfassen Eltern für ihre 10jährigen Kinder Bewerbungsschreiben, damit sie einen der übrigen Plätze erhalten. „Klar, der Sohn passt super in das musikalische Profil Ihres Schwerpunktes, er hat bloß leider in den letzten Jahren keine Zeit gehabt, ein Instrument zu lernen, weil er soviel Fußballtraining hatte“. Aber das sollte den Eltern leicht von der Hand gehen, ihr Kind muss ja schon seit dem ersten Lebensjahr für Krippe, Kita und Hort in der Lage sein, für jeden Einrichtungsschwerpunkt das passende Potenzial zu haben. Doch was macht man bloß, wenn das eigene Kind keine besonderen Schwerpunkt-Interessen hat, vielleicht sogar – ich mag’s kaum schreiben – Fehler?
Letztlich bringt dieser Prozess den Kindern früh bei, dass Durchschnittlichkeit schon lange nicht mehr genug ist und Schwächen unverzeihlich sind. Das gilt aber übrigens nur für Menschen, und nicht für die Schulpolitik und -verwaltung.
Einige Eltern haben das auch vortrefflich verinnerlicht, wenn sie mit der gescheiterten Schulwahl nun um die Juristenkarriere ihres 10jährigen Kindes bangen. Oder wenn sei denken, dass eine Realschulempfehlung eine ansteckende Krankheit ist, vor der ihr kleiner Überflieger geschützt werden muss. All dies passt doch gut zu unserem selektiven Schulsystem, in dem es der sozialen Herkunft zu verdanken ist, was aus einem wird.
Die Eltern sind doch aber auch irgendwie selbst Schuld: Wenn sie sich für eine richtige Karriere entschieden hätten, dann hätten sie das Einkommen, um die nichtvorhandenen Kinder bei einer Privatschule anmelden zu können. Oder werden arbeitslos – wenigstens ein Elternteil, vielleicht die Frauen, die ja eh nach der Elternzeit nicht wieder richtig in den Job gekommen sind? – dann haben sie genug Zeit, ihre Kinder auf dem langen Schulweg zu begleiten.“

Klaus Glaeser aus Frankfurt meint hingegen:

„Die Verteilung der knappen Gymnasialplätze ist kein Skandal, sondern ein gesellschaftliches Problem.
Schon immer war die Verteilung problematisch, denn das Kultusministerium machte keine Vorschriften, sondern formulierte nur Kriterien für die Schulen, nach denen verfahren werden sollte. Dies war vor allem dem Gedanken der Schulprofile und dem Bestandsschutz geschuldet. Letztendlich konnten die Eltern jedoch nie wissen, ob die Auswahlkriterien nicht doch anderen unausgesprochenen Merkmalen folgen und hatten daher wenig Chancen die Entscheidungen anzufechten. Umgekehrt haben die SchulleiterInnen eine ebenso schwierige Auswahl zu treffen, denn welche Kriterien sind vor- oder nachrangig und wie können Ablehnungen plausibel vermittelt werden?
Es ist allerdings aberwitzig, dass das Stadtschulamt in Gestalt von Frau Sorge in die Pflicht genommen wird, welches mit der Verteilung überhaupt nichts zu tun hat. Auch der Gedanke, dass nicht genügend Plätze vorhanden seien und daher die Stadt in Sachen Einrichtung von Gymnasialplätzen versagt habe, ist absurd, denn die Nachfrage richtet sich an bestimmte Schulen a) wegen der Erreichbarkeit, b) wegen des Profils und c) wegen persönlicher Belange (Geschwister), Mittagstisch, Betreuung etc. Also das Bashing geht einfach in die falsche Richtung!!
Außerdem steigt die Nachfrage nicht nur wegen der steigenden Jahrgangsstärke sondern auch, weil Eltern vor allem in den Städten Gymnasialbildung als bessere Chance sehen, ihre Kinder zu fördern. Die Schulen widerum haben Mühe die Lehrpläne einzuhalten, da wegen der heterogenen Zusammensetzung der Klassen Fördermaßnahmen nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Dies provoziert daher unnötiges Sitzenbleiben und damit eine Verlängerung des Bildungsgangs.
Es hat sich leider noch immer nicht herumgesprochen, dass Gesamtschulen die Bildungsansprüche recht gut erfüllen können, was sich durch die Übergänge nach der Mittelstufe zu einer der Oberstufen erweist. Der vorgelegte Schulentwicklungsplan hat nun die Versäumnisse vergangener Jahrzehnte in Bewegung gebracht, indem neue Gymnasien und Gesamtschulen aufgebaut werden, die besser auf das Stadtgebiet verteilt sind und somit geeignet sind, Schulwege zu verkürzen und allen Kindern gleichere Chancen bietet, an den verschiedenen Bildungsgängen teilzuhaben.“

Der Rektor im Ruhestand Helmut Deckert aus Sinntal  schreibt:

„Davon abgesehen, dass der Schulentwicklungsplan der Stadt Frankfurt längst überfällig ist und dies mit zum Chaos bei der Vergabe der Schulplätze im gymnasialen Bildungsgang geführt hat, gibt es aber auch noch ein paar andere Anmerkungen, die um der Redlichkeit willen nicht unterschlagen werden sollten.
Wenn 56 Prozent der Eltern den gymnasialen Bildungsgang wählen (mit die höchste Quote in Hessen), dann heißt das ja noch lange nicht, dass auch 56 Prozent eines Jahrganges Abitur machen. Vielmehr bleiben im Vergleich zu den Abiturientenzahlen etwa ein Drittel „auf der Strecke“, mit allen negativen Folgen für Psyche und Selbstbewusstsein. Das liegt daran, dass zu viele Eltern dem Rat der Grundschulen nicht folgen und ihre Kinder entgegen der Empfehlung aufgrund der in Hessen freien Elternwahl doch auf ein Gymnasium schicken.
Die Reihen dort lichten sich in aller Regel nach dem sechsten Schuljahr und noch einmal beim Übergang in die Gymnasiale Oberstufe. Das ist für die betroffenen Schülerinnen und Schüler schlecht – aber auch eine Verschwendung von Steuergeldern. Hier gestatte man mir einen Vergleich: Bei angehenden Lehrern will man zunehmend die „Eignung“ für ihren künftigen Beruf schon vorher feststellen, aber bei der Wahl des Bildungsganges unterbleibt das. Natürlich geht das nicht schon nach dem vierten Schuljahr, weil dieser Zeitpunkt nach allen Erfahrungen viel zu früh für eine zukunftssichere Prognose ist; vielmehr erfolgt die Selektion während der Schullaufbahn, und das ist die schlechteste aller denkbaren Varianten.
Womit wir beim längeren gemeinsamen Lernen wären. Hier wären die Kinder in den Gesamtschulen  besser aufgehoben, weil in diesen Schulen ein Wechsel des Bildungsganges nicht mit einem Schulwechsel verbunden werden muss. Solange aber die hessische Schulpoltik „gymnasiallastig“ ist, wird dies viele Eltern darin bestärken, dass nur das Gymnasium den Menschen zum Menschen macht. Übersehen wird, dass inzwischen nahezu ein Drittel aller Studienberechtigungen nicht mehr auf dem klasssichen Weg über Gymnasium und Abitur erreicht werden, sondern auf vielen anderen möglichen Wegen.
Für einen politischen Konsens wäre z.B. eine sechsjährige Grundschule geeignet, die mit einer leistungsdifferenzierenden Stufe Eltern bei der Anwahl des Bildungsganges hilft. Hierzu müssten sich aber die Verfechter der reinen Lehren – Gymnasium hier und eine Schule für alle dort – einigen. Angesichts des hessischen Schul-Grabenkrieges in der Vergangenheit besteht da aber trotz Bildungsggipfel wohl wenig Hoffnung.“

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4 Kommentare zu “Durchschnittlichkeit ist nicht genug

  1. Für was gibt es eigentlich schon seit Jahrzehnten Schulentwicklungspläne, wenn die offensichtlich überhaupt nichts bringen?

  2. Zum Zitat von Bronski aus der Einleitung:
    „Jeder wird das verstehen. Eltern wollen immer das Beste für ihre Kinder.“
    Und darum wäre es doch schön, wenn auch die krisengeschüttelte Odenwaldschule wieder in ein ruhigeres Fahrwasser geriete und auch in Zukunft erhalten werden könnte mit überzeugender Selbstkritik, d.h. Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit einschließlich des jüngsten Mißbrauchs-Skandals, neuer Konzeption und auch einigen Geldgebern, denn der „Volksmund“ weiß: „Ohne Moos nix los ….“
    Siehe auch das Darmstädter Echo online vom 08. Mai 2015:
    „Eltern haben offenbar 1,6 Millionen Euro zusammen“
    http://www.echo-online.de/region/bergstrasse/heppenheim/Eltern-haben-offenbar-1-6-Millionen-Euro-zusammen;art1245,6206124

    Allerdings sind auch da die Chancen nicht gerade rosig, die Hoffnung aber bleibt. Die privaten oder institutionellen Geldgeber werden vielleicht auch nicht nur rein altruistische Motive dabei haben, das Problem vieler Privatschulen bzw. auch ihrer Internate. Auch da sagt der „Volksmund„: „Wer zahlt, schafft an ….“
    Für verloren gegangenes Vertrauen gibt es leider noch kein Fundamt, das einem Verlierer wieder das einmal verlorene Gut zurückgeben kann. Die Zeit kann viele Wunden heilen, aber nicht alle und nicht bei jedem.

    Der „Volksmund“ hat nur empirisches Wissen, Ausnahmen bestätigen aber bekanntlich die Regel ……. 😉

    Durchschnittlichkeit ist nicht genug, das ist zwar richtig, aber Indianer machen immer noch die profane Arbeit, für die vielen vermeintlichen Häuptlinge mit Abitur und Studium gibt es irgendwann zu wenige Indianer, die ihnen den Firmenwagen zusammenbauen, chauffieren und auch noch die Kinder hüten usw. ……….

  3. „jedem“ schreibt man das jetzt gerade groß?
    Was sagt denn der Konrad (Duden)?
    Substantivischer Gebrauch oder wie oder was?
    Wer ist Germanist und erklärt es mal ganz genau?

    Das letzte Hemd hat doch keine Taschen.

  4. Mir tut es aufrichtig leid, dass sich 500 Schüler und deren Eltern dem Losverfahren unterwerfen müssen. Für die Elternteile wie auch für die Kinder muss es furchtbar sein, nicht zu wissen, auf welches Gymnasium sie gehen werden.

    Andererseits sehe ich es auch positiv, wenn einige der Kinder möglicherweise einen ca. 20-minütigen Schulweg auf sich nehmen müssen, dabei aber auch einmal andere Stadtteile kennenlernen. Wie heißt es so schön: „Reisen bildet!“ und das fängt ja bereits mit Stadtteilbesuchen an.

    Ich bin mir aber trotzdem ziemlich sicher, dass ca 5 bis 7 Prozent der Eltern, die es sich finanziell leisten können, jetzt auf eine Privatschule umschwenken werden. Natürlich vorausgesetzt, es gibt eine Privatschule, die weniger weit entfernt ist.

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