Unglaublich große Geschenke

60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre vereintes Deutschland. Mely Kiyak macht in ihrem großen Leitartikel „Ein gutes Land“ Verbesserungsvorschläge: „Mich hat vieles aufgeregt. Die Identitätsfrage stand dabei immer an erster Stelle. Die Bundesrepublik, in die ich geboren wurde, war schon damals längst kein Staat mehr von Deutschen, die alle in Deutschland zur Welt gekommen waren. Schon als das Grundgesetz verabschiedet, die Republik gegründet wurde, lebten nicht ausschließlich Deutsche in Deutschland. Doch eine der deutschen Macken war und ist der Wunsch nach Gleichheit durch Negierung des anderen, sei es in Fragen der Herkunft, Religion, Weltanschauung. Alle sollen alles abschütteln und gleich sein. (…)

Wenn wir Deutschen aufhören, Dankbarkeit zu erwarten, und stattdessen Dankbarkeit zeigen für das, was Millionen Menschen aus vielen verschiedenen Ländern bei uns geleistet haben, dann wäre einer der größten Knoten geplatzt. Die Bundesrepublik Deutschland ist deshalb so gut, weil ihre Bewohner nicht homogen sozialisiert sind. Wir sollten uns ganz bald an diesen Gedanken gewöhnen. Denn wenn es stimmt, dass wir schon bald eine neue Identität als Europäer bekommen werden, wird es uns leichter fallen, das Neue anzunehmen, wenn wir das Alte sorgfältig eingeordnet haben. Unsere Wurzeln unter der Oberfläche werden nämlich bleiben, was sie sind, ein kompliziertes, aber schönes Geflecht.“

Dazu Daniel Lucas aus Wanne-Eickel:

„Sehr geehrte Frau Kiyak, welch Freude, sie schon am Freitag lesen zu dürfen. Erneut empfand ich deutliches Wohlgefallen an Ihren Ausführungen, erneut auch Amüsement und erneut etwas Verwirrung – ein wenig mehr als sonst.
Ich glaube Ihnen gerne, dass Sie sich in ihrer Arbeit nicht bedrängt fühlen. Sie arbeiten in einem sehr kosmopolitischen Flair, ich denke, dies kann man über Berlin durchaus behaupten, doch stellt sich mir bzgl. Ihres letzten Satzes doch die Frage, ob Sie das so meinten, so glatt. Ist es ein Wurzelgeflecht, welches da einen gesunden Baum entstehen lässt, ein Geflecht, welches dem Betrachter unsichtbar bleibt, aber eine schöne Blüte hervortreibt? Fehlinterpretiere ich Sie, oder war das die Intention Ihrer Aussage?
Ich stelle mir nämlich die Frage, wie man in einem Land, dessen Exekutive gezielt gegen Systemkritiker vorgeht, einem Land, welches eine steigende Anzahl von rassistisch orientierten Verbrechen verzeichnet, welches das Bildungsniveau im Allgemein- und Hochschulbetrieb wie auch im Umgang mit seinen Bürgern permanent senkt, einem Land, welches eine weite Kluft zwischen verschiedenen Schichten zu verzeichnen hat, wie man in einem solchen Land von einer haltenden Verwurzelung sprechen kann, werdende europäische Identifikation hin und her.“

Dr. Benno Kotterba aus Karlsruhe:

„Das Haus hat sich durch Anstreichen und Umbaumaßnahmen, Anbauten und Modernisierung verändert – und es ist gut so. Ich bedanke mich für diese Geburtstagsworte! Ich habe Ihren Leitartikel Satz für Satz in meinem inneren Ohr aufgehen lassen.
Wir sind verschieden, ganz gleich ob aus einer oder vielen Kulturen. Auch ich, als Rheinländer geboren, in Berlin an das städtische Leben heran- und während der siebziger Jahre – noch zur Zeit des Vietnamkriegs und der Umbrüche in diesem Land – in die Gesellschaft eingeführt. Wie habe ich damals die Gedankenfreiheit, Demonstrationsfreiheit, Bewegungsfreiheit und all das, was mit einem sicheren Leben zu tun hat, aufgesogen. Errungenschaften, für die ich nach wie vor ausgesprochen dankbar bin. Und ich freue mich für jeden, der dies alles bei uns für sein eigenes Leben bekommt. Unglaublich große Geschenke!
Unsere Freiheit, unser Freisein und gerade unser Verschiedensein sind unser Reichtum. Wie sehr wird das gerade in diesen Zeiten vergessen, wo alle von Krise und Staatsbürgschaften sprechen. Es ist ein guter Zeitpunkt, sich des unübersehbaren Reichtums zu erinnern. Die gesamte Spannweite von Tradition bis Moderne, vom Überkommenen bis zur Avantgarde, von der Blasmusik einer Feuerwehrkapelle bis zur zeitgenössischen Musik von Donaueschingen, vom rheinischen Karneval bis zur kalvinistischen Strenge. Es ist alles möglich – und wir spielen auf vielfältige Weise mit diesen Freiheiten, um immer wieder die Grenzen des Gewohnten zu hinterfragen. Ob sie im Jetzt noch ihre Gültigkeit haben oder wir sie neu denken müssen.
Und alle, die mit uns dieses Land bevölkern, bringen ihre Ideen und Wünsche ein, reiben sich am Erbe und setzen ein neues Pflänzchen in den gesellschaftlichen Nährboden. Wir lieben unsere gepflegten Gärten und genießen doch auch das wilde Durcheinander eines Bannwaldes, wo alles im freien Wachstum nebeneinander seinen Raum findet und sich mit seiner Eigenart einbringt.
Ich freue mich, dass sich in den 60 Jahren Bundesrepublik ein gesellschaftlicher Wald entwickelt hat, der nicht aus einer Schonung zur Monokultur, sondern zur Vielfalt der Arten, Blüten und Früchte gewachsen ist und durch Streiten und Lachen, Trauern und Lieben, Arbeiten und Feiern zu einem lebendigen Haus geworden ist.“

Verwandte Themen

9 Kommentare zu “Unglaublich große Geschenke

  1. Boah, Herr Bronski, sagens mal, in welchem Freudental befindet sich dann die FR-Redakteurin, nebst Leser?

    Dankbarkeit zeigen, bis zum Nimmerleinstag? Klar doch, sie sind ja auch alle gekommen und teilweise auch gegangen – mit leeren Händen. auch deswegen oder gerade deswegen, weil wir Deutsche ja so nett sind. Deswegen haben sie alles für lau gemacht. Ich kenne noch die kleinen VW-Busse, vollgepackt mit Kühlschränken, Waschmaschinen, Stereoanlagen, die unterwegs Richtung Süden waren, nur dort wo die Heimat jener war, gab es selten eine Stromversorgung. Es ist ja nicht anders gewesen wie heute. Zu hause Sand vor der Türe, keine Möglichkeit zur Schulbildung, also hinaus in die fernen Länder Europas. Sie haben bekommen, wenn sie wollten, niemand mußte Haus und Hof verlassen. Dankbarkeit als erstens den Trümmerfrauen, die heute gerne ganz weit weggeschubst werden.

    Und die Geschichte der Identität als Europäer… Ich erlebe das nicht mehr. Das wird auch nie der Fall sein, nicht in 100 Jahren.Eine europäische Identität werden die Franzosen, die Engländer sich schon mal gar nicht aneignen. Ich selbst bin in erster Linie Frankfurter, dann Hesse, dann lange nix mehr. Selbst die Eurozonenmitbürger im Gallus sind der Meinung, wenn uns einer fragt woher wie sind, dann wir sind aus dem Gallus. Das ist Welt³, kommt nicht mal Europa mit.

    Ich kenne Kinder, die haben Gitter vor den Fenstern gehabt. Da war ich 15 als ich das sah, und das war normal, gängige Praxis in deutschen Landen. Ich mag diese Lobgesänge nicht, wenn die Hälfte, vor allem die tiefen Wunden der Leidtragenden, die Opfer der Gesellschaft, ausgeklammert werden.

    Für mich gibt es keinen Grund zu feiern. Dafür habe ich zuviel Scheiße – tschuldigung der Derbheit Worte – erlebt, erleben dürfen.


    Guten morgen zusammen 🙂

  2. jaja, das hatte ich gestern in meinen Blog verpflanzt, als Frederick und Piggeldy incl. Verschleierungslink zu Bombenterror verpackt. (Links gibt’s nicht, wg. Verdacht der Werbung für den Blog, obwohl ich nichts davon habe, ob nun 10 Leute dort hinrennen oder 1000 😉 )

    Ich kann mich ja über den Absatz (nicht Schuhabsatz) der guten Frau nicht beruhigen. Sowas verblendetes… ohne Worte. Sie sollte beim hr einsteigen, dort im ersten Programm mitmischen, kann sie säuseln: Gib mir das Gefühl zurück.

    Mein Freund, seine Familie nebst Frau aus Griechenland, die haben sich Häuser hingestellt da unten, frag aber nicht nach Sonnenschein, und wenn seine Mutter krank ist, steigt er ins Flugzeug holt sie hierher. Das sagt alles aus. Was die FR-Redakteurin da abfeiert ist eine einseitige Auslegung, mit Scheuklappen die so groß sind wie ein Scheunentor. Dabei ist das eine Symbiose, eine ganz normale Geschichte, die es in der Natur zu hauf gibt.

    Dann muß man mal schauen, wer da Haus und Hof verlassen hat – auch heute noch. Es ist nicht die türkische Oberschicht die sich massenweise hier niedergelassen hat. Wo sie selbst sind/waren, das ist nix – 0-Chance, bestenfalls als Eselstreiber. Dankbarkeit… also bitte. Irgendwo hört’s ja auf.

    Es ist ja nicht anders wie in Ostdeutschland. Wollen die Menschen eine Zukunft haben, müssen sie ihre Ecke, das lieb gewonnene Fleckchen Heimat verlassen. Ganze Landstriche veröden, vereinsamen. Heben wie Gläser darauf…

    Weiß nicht, was Bronski da geritten, sowas da in einem Tenor reinzusetzen. *kopfschüttelt* It’s Bronskis Beatclub. Heute mal ganz andere Klänge. 😉

  3. Und falls nun das alte schlagkräftige Argument kommt, die Ausländer haben ja die Jobs gemacht, die die Deutschen nicht machen wollten, beliebt ist ja da die Müllabfuhr…

    1. Sie hatten weder eine Schulbildung noch konnten sie eine Ausbildung vorweisen.

    2. Die großen Frankfurter Betriebe, Adlerwerke, Hoechst AG, Messer Griesheim, Stadtwerke etc. habe sie eingestellt und angelernt. Die Frankfurter Betriebe haben davon profitiert, der ausländische Arbeitnehmer auch.

    3. Die Kinder der Ausländer konnten, können heute noch, eine Schule besuchen. Das bedeutet, die Eltern ermöglichen durch den Weggang von zuhause, ihren Kindern eine Zukunft zu geben, die sie zuhause nie und nimmer damals hatten.

    4. Und das geht in Richtung FR-Redakteurin. Ich weiß nicht woher sie kommt, aber sie soll mal als Frau abklopfen, wem sie dankbar sein müßte – gerade als Frau. Es ist zwar hierzulande noch immer nicht alles Gold was glänzt, aber ich bin mir sicher, da wo ihre Wurzeln sind, wäre sie jemandem anderen untertan, würde nicht bei der FR sitzen und so einen Blödsinn in Schriftform für alle Welt auf immer und ewig hinterlassen.

    Man kann das alles feiern, aber wie schon erwähnt, ich sehe zuviel sich hinter dem Buffet auftürmen.

    Bin jetzt weg, sonst rege ich mich noch mehr auf.

    PS: Lieber Karl, dir auch einen lieben Gruß vom Grenzgänger an der Stadtgrentze, hatte ich vor lauter… *grummelt* vergessen.

  4. Wenn Einwanderer aufhören, Dankbarkeit zu erwarten, und stattdessen Dankbarkeit zeigen für das, was Deutschland zu bieten hat, dann wäre einer der größten Knoten geplatzt.

  5. Hall rü,

    macht nix, bei der Schreibe dieser werten Dame krieg ich auch Herzrhytmusstörungen…

    gruß und schönes WE

    Karl

  6. So, die Welt besteht ja nicht nur aus dem Gallus, lieber rü.Ich finde es für mein leben schön, dass wir 60 jahre keinen krieg hatten, vor dem ich mich immer als kind gefürchtet habe. immerhin, das haben wir geschafft. und das grundgesetz, das jetzt seinen geburtstag feiert, das feire ich glücklich mit. das heißt nicht, sich jetzt kritiklos treiben zu lassen. wachsam müssen wir schon sein.

  7. Guten morgen 🙂

    ei I. Werner, wer feiern will soll feiern, wer irgendwo im idyllischen Eckchen gesessen, glücklich die Abendpost & Nachtausgabe gelesen hat, hat eben viele Gründe zu feiern. Krieg hatte ich zumindest mit anderen auf eine andere Art, nicht umsonst spendierte ich (und andere) dem hessischen Löwen einen Polizeiknüppel und lief damit durch Hessen.

    Wachsam… die deutsche Community im Web ist seit drei Jahren wachsam, seit mindestens drei Jahren lugt Schäuble hinter vielen Webecken hervor, und?

    Man darf nur die Zahl nehmen, nicht mal hier bei Bronski anfangen zu blättern, was wir hier schon an Diskussionen hatten. 90% der Asylbewber werden nicht angenommen, das hatten die Gründungsväter mal ganz anders geschrieben.

    Naja, ein schönes Pfingstwochenende euch.

  8. *nochmal reinlunzt* So richtig können wir nicht mal das kleine Jubileum – 20 Jahre vereinigtes Deutschland – feiern, oder?

    Aber feiern, zumindest ein wenig, tue ich die Woche. Kriege ich nämlich Internetbesuch aus Schwerin (im RL noch nie gesehen), gehen wir zusammen in den Kanonesteppel, einen 7er Bembl pütscheln. Das Beste für die Gäste. 🙂

Kommentarfunktion geschlossen