Wir diskutieren das Thema „Die SPD versucht, aus ihren Fehlern zu lernen“ zwar schon an anderer Stelle hier im FR-Blog. Trotzdem mache ich es hier noch einmal auf, angestoßen durch den folgenden langen Leserbrief von Manfred Alberti aus Wuppertal, für den ich im Print-Leserforum nicht genug Platz hatte, so dass nur eine arg gekürzte Version gebracht werden konnte – doch wie immer in solchen Fällen mit dem Hinweis auf das FR-Blog, wo Platz für den gesamten Leserbrief ist.

Das Drittel am unteren Rand

Von Manfred Alberti

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Als erster Schritt zur Analyse der Situation der SPD ist die vorgelegte, sehr differenzierte Analyse „Aus Fehlern lernen“ ganz hervorragend. Leider führt sie durch ihre Methode der 101 subjektiven Interviews und durch die dadurch bedingten Einfärbungen aus eigenen Interessenlagen der Interviewten teilweise zu falschen Schlussfolgerungen: „Die SPD rannte im Wahlkampf ihrem Markenkern soziale Gerechtigkeit hinterher, ohne diesen inhaltlich mit einem modernen und sozialpolitisch lebensweltlich relevanten Programm zu untermauern.“ (S. 45)

Die SPD ist ihrem Markenkern nicht hinterhergerannt, sondern hat ihn torpediert: Martin Schulz hat am ersten Tag seiner Kanzlerkandidatur die „Soziale Gerechtigkeit“ in den Mittelpunkt gestellt und hat vor allem durch diese Themennennung einen unvorstellbaren Hype ausgelöst. Sehr emotional hat er von dem Arbeiter Mitte 50 aus Neumünster erzählt, der nach 35 Jahren Arbeit Angst um seinen Arbeitsplatz und Angst um seine Zukunft mit Arbeitslosigkeit, Arbeitslosengeld und Hartz IV hat: Diese soziale Ungerechtigkeit angesichts der Lebensleistung dieser Menschen dürfe nicht sein. Frau Nahles würde daran arbeiten und in einer Woche eine Lösung präsentieren.

Was kam acht Tage später: Einige Monate zusätzliches Arbeitslosengeld Q zur Qualifizierung! Angesichts des emotionalen Engagements von Schulz und der desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt für Qualifizierte über 50 kam diese Lösung gefühlt einer eiskalten Verhöhnung des Anliegens des Kandidaten gleich. Sie bedeutete nur mehr Geld für die Nahles unterstehende Arbeitslosenverwaltung. Schulz wurde mit seinem Anliegen sozialer Gerechtigkeit regelrecht ausgebremst. Die SPD hat ihren eigenen Markenkern torpediert.

Wie gerufen erschienen in der Presse bald immer mehr Notizen von Thinktanks, Professoren etc., dass „soziale Gerechtigkeit“ kein Gewinnerthema sein könne: altmodisch, überholt etc.. Wieviele leicht realisierbare attraktive Vorschläge hätte die SPD angesichts der prekären Lage eines Viertels der Bevölkerung werbewirksam präsentieren können? Man wollte nicht. Das Thema sollte vielleicht aus Angst vor einer Debatte über die Agenda 2010 vermieden werden. Die SPD verzichtete bewusst auf ihren Markenkern „Soziale Gerechtigkeit“.

Was Schulz als Zentralthema seines Wahlkampfes in den Mittelpunkt stellen wollte und was ihn für einige Wochen zu einem umjubelten politischen Megastar emporgehoben hatte, hat die Partei so gründlich beiseite gedrängt, dass in den 22 Seiten des Leitantrages für den Parteitag im Dezember 2017 das Wort „Soziale Gerechtigkeit“ nicht ein einziges Mal (!) erwähnt wurde.
Wenn aber die Sozialdemokratische Partei signalisiert, dass soziales Engagement nicht ihr Thema sei, wofür wird diese Partei vom Wähler noch gebraucht? Hier ist im politischen Sozialbereich eine gefährliche Leerstelle entstanden, denn konsequenterweise wählen viele in prekären Verhältnissen Lebende nun die Alternative AfD.

Aus den bösen Erfahrungen der Wahl 2017 hat die SPD nicht gelernt: Ein zentraler Pluspunkt für das Sich-Einlassen auf eine große Koalition war für viele Parteimitglieder das Vier-Milliarden-Paket für Langzeitarbeitslose. Doch wer profitiert von diesem Geld? Die Wirtschaft bekommt Langzeitarbeitslose vom Staat als kostenlose Kräfte zur Verfügung gestellt. Diese benötigen Hartz IV nur noch zur Aufstockung, damit sie das gleiche Existenzminimum haben wie vorher.

Wo liegt das Hauptproblem der SPD? Soziale Gerechtigkeit und soziales Engagement müssten ihr zentrales Thema sein. Doch alle Mandatsträger, alle Abgeordneten, alle Parteimitarbeiter sind davon nicht persönlich betroffen: Sie sind sozial abgesichert und leben auf dem „Sonnendeck“ (S.100): „Die AufsteigerInnen und ProfiteurInnen der sozialdemokratischen Reformpolitik von einst – und allen voran ihre Repräsentanten – sind kulturell längst Teil der gesellschaftlichen und politischen Oberschicht geworden.“ (S. 101)

Für die SPD müsste aus dem hervorragenden elften Kapitel der Fehleranalyse die vorrangige Aufgabe deutlich werden, sich zu engagieren für das Drittel, für die Hälfte am unteren Rande unserer Gesellschaft, für die heute prekär Abgehängten wie für die Menschen, die ihren sozialen Abstieg als Arbeitslose zu Hartz IV mit zunehmendem Alter immer mehr fürchten.
Eine sehr schwierige Aufgabe: Abgeordnete und Parteimitarbeiter müssten sich altruistisch, uneigennützig vor allem um die sozialen Schichten ihrer Wähler kümmern, denen sie selbst nicht (mehr) angehören. Setzen sie aber ihren politischen Egoismus zugunsten der ihnen persönlich nahestehenden höheren Gesellschaftsschichten fort und verzichten auf den Markenkern „Soziale Gerechtigkeit“, wird die SPD bald zugunsten der AFD aus der politischen Wirklichkeit verschwunden sein.

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9 Kommentare zu “Das Drittel am unteren Rand

  1. Die Fehleranalyse trifft es schon gut. Das ist aber ein Problem das alle Parteien haben und auch die Gewerkschaften. Das erinnert mich daran das man Steinkühler als IGM Vorsitzenden auf einer Demo seiner Gewerkschaft ausgepfiffen hat vor einigen Jahren. Die SPD sollte Betriebsräte in ihre Fraktionen einbinden um so in der Basis verankert zu sein. Das ist aber wenn ich mir die Mandatsträger die ich persönlich kenne anschaue kaum noch der Fall.

  2. @hans
    Nachdem in der Geschäftsstelle der IG Metall, in der ich weit über 25 Jahre gewerkschaftlich organisiert war, nicht mehr Wert darauf gelegt wurde, dass die hellsten Köpfe unter den Mitgliedern auf den Listen anlässlich der Betriebsratswahlen als Kandidaten nominiert werden, sah ich mich zum Austritt gezwungen. Spätestens als der damalige 1. Bevollmächtigte seine schützende Hand über Angehörige eines neu konstituierten Gremiums hielt, das einen zumindest wissenschaftlich wohlbegründeten Antrag zur Humanisierung von Arbeit mehrheitlich abwies, blieb mir politisch keine andere Wahl mehr. Insofern würde sich die SPD nicht gerade einen Gefallen tun, solche Betriebsräte in ihren Reihen aufzunehmen, die nicht das Zeug dazu haben und offenkundig auch nicht willens sind, notwendig die Menschlichkeit einer menschlichen Existenz zu wahren.

  3. zu @ Ralf Rath
    Ich bin immer noch Mitglied der IGM habe aber jahrelang eine fertig geschriebene Austrittserklärung im Schreibtisch gehabt bei der nur noch das Datum und die Unterschrift gefehlt hat. Letztlich hat sich bei mir die Meinung durchgesetzt das die Vorteile die Gewerkschaft zu unterstützen die Nachteile über die man sich mehr oder weniger ärgert überwiegen. Ein Stückweit ist das ähnlich wie mit der GroKo. Nach dem ich selbst Betriebsratsmitglied war habe ich die Austrittserklärung endgültig entsorgt. Damit sind wir beim Betriebsrat. Ich war BR bei einer kleinen Tochtergesellschaft eines großen Unternehmens. Deshalb weiß ich recht gut was der Unterschied ist. Ich bin nicht der Meinung die SPD sollte z.B. den BR Vorsitzenden von Daimler ins Parlament nach Berlin holen. Zumindest kenne ich den Mann dazu nicht gut genug. Ich meine Betriebsräte von kleinen Unternehmen zuerst in in Kommunalparlamente. Von dort aus können sie Meinungsbildung betreiben und sich auch in Landes oder Bundesparlamente hocharbeiten. Das wird zwar Jahre dauern aber da liegt die Basis die die SPD verloren hat.

    Es ist immer die Frage welche Art von Betriebsräten

  4. @hans
    Den gegenwärtig amtierenden Vorsitzenden des Daimler-Betriebsrates, Michael Brecht, kenne ich persönlich noch aus meiner Zeit im baden-württembergischen Bezirksjugendausschuss. Ob er sich an mich erinnert, weiß ich nicht. Ihm würde ich nicht zutrauen, den Zentralbegriff einer modernen Gesellschaft über Bord zu werfen. Der mittelständische und einst an der Börse notierte Industriebetrieb, von dem ich spreche, meldete hingegen im Jahr 2004 und im Jahr 2009 gleich zwei Mal hintereinander vor Gericht die Zahlungsunfähigkeit an, weil zunehmend mehr gewerkschaftlich organisierte Betriebsräte einem blanken Naturalismus frönten. Für manche Belegschaftsangehörige hatte das gesundheitlich extreme Folgen, die nicht nur anlässlich der Insolvenzen ihr unfreiwilliges Ausscheiden bedingten, sondern heute in vergleichsweise jungen Jahren in einer hochgradigen Pflegebedürftigkeit gipfeln, noch bevor sie in Altersrente gekommen sind. Aufgrund dessen scheint mir mein Austritt aus der IG Metall gerechtfertigt zu sein, wenn selbst der seinerzeitige 1. Bevollmächtigte, der immer noch SPD-Mitglied ist, illegitim vereint mit der Mehrheit der dortigen Betriebsräte sich dazu anschickt, buchstäblich über Leichen zu gehen. In einem Gespräch mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ bezeichnete der Jenaer Wirtschaftssoziologe Klaus Dörre die in Rede stehenden Betriebsräte jüngst als die gefährlichsten. Für die deutsche Sozialdemokratie sind sie demnach keine Bereicherung.

  5. zu @ Ralf Rath
    Sorry, ich kann trotz des von ihnen beschriebenen sicher nicht einfachen Falls nicht erkennen warum das grundsätzlich gegen das spricht was ich geschrieben habe. Natürlich menschelt es überall und es werden auch Fehler gemacht, aber wo soll denn eine Arbeitnehmerpartei die das auch sein will ihren Nachwuchs her bekommen wenn nicht von gewählten Arbeitnehmervertretern? Diese müssen dann allerdings auch aus den Reihen der Arbeitnehmer kommen wenn das funktionieren soll.

  6. @hans
    Wenn ihnen gesagt wird, wo gleichsam der Hammer hängt, obwohl sie das längst wissen, nimmt es nicht wunder, dass Herr Steinkühler als seines Zeichens ehemaliger Erster Vorsitzender der IG Metall ausgepfiffen wird. Als Ortsjugendausschuss (OJA) haben wir das vor Jahrzehnten an einem früheren Tag der Arbeit (1. Mai) schon beispielgebend mit dem örtlichen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter Einsatz von Trillerpfeifen praktiziert. Inzwischen ist die besagte Protestform quer durch die Organisationen der Arbeiterbewegung zum Allgemeingut geworden. Seinen Tod lastet uns aber bis heute niemand an. Dessen Bruder ermordeten allerdings die Nationalsozialisten im Zuge der so genannten Vernichtung unwerten Lebens.

  7. zu @ Ralf Rath
    Meine Frage haben sie nicht beantwortet. Wo sollen denn die Leute herkommen die eine akzeptable Arbeitnehmerpartei bilden können? Wenn man das was sie schreiben weiter denkt kommt man zu dem Schluss das es eine solche Partei nie geben kann weil linksdenkende Menschen sofort korrupt werden wenn sie an der Macht sind und sie besser nicht an die Macht kommen sollten. War die DDR ein Naturgesetz? Bitte verstehen sie mich nicht falsch. Meine Betriebsratstätigkeit endete mit einer Betriebsschließung der bei mir persönlich ein Jahr Arbeitslosigkeit, drei Jahre befristete und Leiharbeit folgte. Inzwischen bin ich seit zwei Jahren wieder in einem normalen Arbeitsverhältnis und die Rolle der IGM in der ganzen Geschichte war auch nicht immer das was ich mir vorgestellt habe. Die Rolle der SPD vor Ort ist mit lächerlich passend beschrieben. Die örtliche SPD Fraktion setze sich mit dem Betriebsrat, einen Tag nach dem dieser beschließen durfte die Firma zu schließen, in Verbindung mit der Frage ob sie uns helfen können. Ich habe herzhaft gelacht als ich das gehört habe. Das alles ist Grund genug sie zu verstehen aber kann doch kein Grund sein Arbeitnehmerparteien grundsätzlich abzulehnen?

  8. Die CSU wird mit ihrer Kampagne keine AfD-Wähler für sich gewinnen, die wählen lieber das Original, wenn auch Seehofer, Söder & Co. meinen, mit ihren Sprüchen, die absolute Mehrheit zu verteidigen.

    Das Schlimme an der Sache ist, dass die kleinste Koalitionspartei sich als führend aufspielt, natürlich dabei auch die Rechten der CDU, wie z.B. Spahn, auf ihrer Seite hat, und sowohl die Kanzlerin, die lt. GG die Richtlinien der Politik zu bestimmen hat, sich dies bieten lässt, es welchen Gründen auch immer. Vielleicht hat sie auch keine Lust mehr.

    Traurig dabei ist jedoch dabei, dass die SPD, wie bereits in der letzten Wahlperiode, dem Ganzen untätig zuschaut. Damals hat Dobrindt die große Geige mit PKW-Maut und ÖPP gespielt, die SPD hat lammfromm zugestimmt, ohne aufzumucken. Und die eigenen Vorschläge der SPD wurden insbesondere von der CSU torpediert.

    Dass die SPD mit solchen Leuten sichnun in eine neue Koalition eingelassen hat, wird ihr, insbesondere weil man nichts von ihr hört, natürlich sowohl von den Mitgliedern, insbesondere von denen, die – trotz der negativen Erfahrungen – der Koalition zugestimmt haben, wie auch von den Wählern übel genommen. Die kritischen Stimmen in der Partei sehen sich dagegen in ihrer Ablehnung voll bestätigt.

    Aber die Parteiführung scheint dies alles nicht zu interessieren, im Einklang mit der Union wird im Schnellverfahren die Erhöhung der Parteienfinanzierung als Quasi-Entschädigung für die Stimmenverluste bei der Wahl beschlossen. Und wie derzeit überall üblich, muss die Digitalisierung als Rechtfertigung dafür herhalten. Dass auch dies nicht gut ankommt, wird ebenfalls ignoriert.

    Um wieder Fuß zu fassen, sollte die Partei endlich, statt teure Papiere über Erneuerung in Auftrag zu geben, endlich auf ihre Wähler und Mitglieder hören und eine glaubwürdige Politik betreiben!

  9. SPD und Markenkern „Soziale Gerechtigkeit“. Inzwischen eine vergebene Liebesmüh‘ ihr damit hinterher zu hecheln …

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