Der Patient als Konsument von Gesundheitsdienstleistungen

Wie sieht die Medizin der Zukunft aus? Blutzucker messen, Herzschlag kontrollieren, Sehschärfe testen, an Arzttermine oder Medikamenteneinnahme erinnern – es gibt Tausende von Gesundheits- und Medizin-Apps, die die Gesundheitsvorsorge einfacher und transparenter machen sollen, wie FR-Autorin Melanie Reinsch in ihrem Artikel „Gesundheits-Check per Handy“ schreibt: „Sie können den medizinischen Alltag verbessern und unterstützen. Doch in Deutschland gehören sie nicht zur Regelversorgung: Sie werden weder vom Arzt verschrieben noch von der Krankenkasse bezahlt.“ Ich empfehle, zuerst den Artikel zu lesen und dann folgenden Gastbeitrag von Hermann Roth aus Frankfurt, einem Arzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Der Leserbrief wurde gekürzt im Print-Leserforum vom 28.10.2016 veröffentlicht. Hier erfolgt die Veröffentlichung der ungekürzten Fassung.

Der Patient als Konsument von Gesundheitsdienstleistungen

von Hermann Roth

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In der FR vom 19. Oktober wird kurz berichtet, dass laut einer seriösen Studie hochgerechnet 91 000 Europäer pro Jahr an Krankenhausinfektionen sterben. Allein für Deutschland wird mit jährlich 500 000 Infektionen und rund 15 000 Todesfällen gerechnet. Bis zu einem Drittel dieser Infektionen wären durch verbesserte Hygienemaßnahmen zu vermeiden. Es geht hier also um das Leben vieler Menschen und deshalb wäre es dringend geboten, dieses Problem ernster zu nehmen und die personelle Ausstattung der Kliniken zu verbessern, Ärzte und Pflegepersonal zu entlasten und somit deutlich mehr Geld für eine verbesserte Patientenversorgung auszugeben.

Stattdessen werden Milliarden für die vollständige Digitalisierung des Gesundheitswesens (das „weltweit größte IT-Projekt“) investiert, „ein riesiger Verlust an finanziellen Ressourcen für das Gesundheitswesen“, wie es Bernd Hontschik kürzlich in der FR kommentierte. Im Beitrag von Melanie Reinsch hingegen ist vom schwierigen Alltag in Kliniken und Praxen, von fehlenden Ressourcen und  überlastetem Personal nichts zu lesen. Stattdessen werden die Segnungen der schönen neuen elektronischen Gesundheitswelt relativ unkritisch beschrieben. Natürlich gibt es elektronische Anwendungen („Medizin-Apps“), die sinnvoll und nützlich sein können, natürlich schreitet die Digitalisierung und Technisierung im Gesundheitswesen weiter voran. Aber umso wichtiger ist es, diese Prozesse kritisch zu begleiten und die Motive der beteiligten Akteure, insbesondere der politischen Akteure, aber auch der Krankenkassen und der Gesundheitsindustrie genauer zu hinterfragen.

Ich sehe die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens im Kontext der zunehmenden Ökonomisierung und Deregulierung. Der zum „Kunden“ umbenannte frühere Patient soll sich angeblich „vom passiven Leistungsempfänger zum aktiven Patienten“ entwickeln, wird aber vermutlich eher als Konsument von Gesundheitsdienstleistungen für die Steigerung der Gewinne diverser Gesundheitsindustrien benötigt. Der wirklich aktive Patient braucht neben Aufklärung und angemessenen Informationen menschliche Zuwendung, Unterstützung und Wertschätzung in einer lebendigen Beziehung. Dies geht aber nicht mit Fernbehandlungen, Online-Sprechstunden oder digitalen Armbändern. Selbst eine hilfreiche App zur Messung des Blutzuckers bleibt ohne Verständnis für die Individualität eines an Diabetes erkrankten Menschen nur Stückwerk.

Krankheitsprozesse sind wesentlich komplexer als es Messdaten suggerieren. Ein ganzheitliches Verständnis des Menschen braucht mehr als nur seine Laborwerte. So hoffe ich auch, dass zukünftige Arztgenerationen nicht primär in die „elektronische Patientenakte“ schauen werden, sondern sich zunächst ihren Patienten zuwenden werden.

Es sind weiterhin kritische Fragen zur Datensicherheit und den angeblichen Vorteilen (weniger Mehrfachuntersuchungen?) der elektronischen Patientenakte zu stellen. Es sollte bedacht werden, dass alle Diagnosen und auch alle Fehldiagnosen(!) ein Leben lang gespeichert werden, und dass es schwierig wird zu kontrollieren, was mit all diesen Daten geschieht und vor allem was zukünftige Regierungen und ihre Bürokratien, was Firmen und Versicherungen damit eines Tages anfangen könnten. Darüber müsste die gesellschaftliche Debatte dringend geführt werden, aber leider scheint die naive Begeisterung für alles „Digitale“ wesentliche Großhirnfunktionen lahmzulegen. Die Einführung eines Systems, das möglicherweise nie richtig funktionieren wird, wird Milliarden verschlingen, aber kaum wirkliche Vorteile für die Patienten bringen. Diese Milliarden werden von den Versicherten bezahlt und fehlen letztlich für eine wirklich patientengerechte und humane Medizin.

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