Der Gaucksche Desillusionsprozess

Die Ära Gauck ist vorbei. Der Bundespräsident, der von den Userinnen und Usern des FR-Blogs nie gemocht worden ist, wurde kürzlich mit einem „Großen Zapfenstreich“ aus dem Amt verabschiedet. Ehre, wem Ehre gebührt. Umfragen sagen, die Deutschen hätten Gauck dann doch irgendwie gemocht. Natürlich hat auch die FR das Wirken des Präsidenten gewürdigt und kommentiert. Leser Ulrich Pollack aus Wenden hat das aufgezeichnet. Sein Leserbrief — gekürzt im Print-Leserforum, in voller Länge als Gastbeitrag im FR-Blog — dokumentiert und kommentiert nicht nur Zeitgeschichte, sondern auch Medienwirkung.

Der Gaucksche Desillusionsprozess

Von Ulrich Pollack

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Leitartikler Stephan Hebel sei es gedankt: Fünf Jahre lang hat er sich selbst bei der Einschätzung Gauckscher Präsidentenqualitäten einem Desillusionsprozess unterzogen, der überzeugender nicht hätte ausfallen können. Im Februar 2012 Hebels Überschrift für sein fulminantes Gauck-Porträt: „Ein Antiautoritärer – Warum Joachim Gauck gerade auch für die Linke der Richtige ist. Verteidigungsrede eines Andersdenkenden.“ Schon nach halber Amtszeit sodann Hebels Abgesang auf Gaucks propagiertes Freiheitspathos. Titel: „Gaucks verlorene Freiheit ( 18.3.2014)“, hatte sich dieser Präsident doch als sprachloser Zuschauer beim regierungsamtlichen Abbau des bundesdeutschen Sozialstaats-Modells gezeigt; bedenklich, weil doch gerade eine soziale Sicherheit Grundlage für alle Freiheit ist. Dieses Credo nun auch in seinem aktuellen Leitartikel festzuklopfen, spricht Hebel vom „blinden Fleck“ in Gaucks Freiheitspathos.

Für mich ist noch ein zweiter „blinder Fleck“ bedeutsam, nämlich Gaucks Plädoyer für ein stärkeres militärisches Engagement zur weltweiten Verteidigung von Menschenrechten, so in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014 in die Öffentlichkeit getragen. Ich weiß, dass ich nicht der einzige bin, der sich daraufhin Luft verschaffen musste, ich selbst in Form eines sechsseitigen persönlichen Briefes ans Präsidenten-Büro: Warum fast zweihundert mandatierte Auslandseinsätze der Bundeswehr in 2014 nicht ausreichten! Wie man denn den Erschöpfungszustand der Soldaten nicht wahrhaben wolle, ebenso auch nicht mangelhafte und veraltete Ausrüstung! Wie man da laut über ein Nochmehr nachdenken könne! Ob nicht Kenntnis bestehe über etliche intelligent und aufrüttelnd geschriebene Soldaten-Bestseller wie z. B. „Ein schöner Tag zum Sterben“ der Oberstabsärztin Heike Groos ( Afghanistan-Einsätze; 6. Aufl. 2009 ) oder 2010 das Buch des Oberstleutnants Andreas Timmermann-Levanas: „Die reden Wir sterben – Wie unsere Soldaten zu Opfern der deutschen Politik werden.“ Warum nicht mal öffentlich Gebrauch machen vom weltweit bekannten Bestseller eines Ahmed Rashid über die afghanische Kriegstragödie: „Descent ( Abstieg ) into Chaos“ oder von Peter Scholl-Latours „Zwischen den Fronten“ ( Nato-Einsatz am Hindukusch sinnlos!)!

Warum in aller Herrgottswelt als ehemaliger Pastor nicht mal friedensstiftende Impulse aufnehmen vom investigativ-journalistisch durch die Kriegsgebiete dieser Welt reisenden Jürgen Todenhöfer, dazu z. B. in der FR das zweiseitige Dossier v. 16. 09. 09 zu finden und zu nutzen: „Der Herr von Tora Bora – Jürgen Todenhöfer hat im afghanischen Hinterland den dritthöchsten Führer der Taliban getroffen. Ein Bericht über wahre und gekaufte Widerstandskämpfer, die Hoffnung auf Frieden und die Verantwortung des Westens“, so der FR-Titel, hatte doch der Taliban-Führer Mulla Nusrat Todenhöfer gegenüber die Bereitschaft der afghanischen Taliban zu einem Dialog und zur Kooperation erklärt. Warum bloß immer dieser vermiefte Gleichschritt mit der übermächtig dastehenden deutschen Regierung! Der Kernsatz im präsidialen Antwortschreiben: „Der Bundespräsident bedauert, dass Ihnen Teile seiner Rede nicht gefallen haben.“

Konnte man anderes erwarten? War mir doch Gaucks 2012 erschienenes, winziges Büchlein „Freiheit – Ein Plädoyer“ bekannt. Darin schier Unbegreifliches zum Thema ‚Deutsche Entspannungspolitik‘ in den Siebzigern, nämlich nichts als ironische Häme und Ignoranz der von Brandt und Bahr freigekämpften Fundamente für die Freiheit aller Deutschen, so auch für diejenige des einstigen Pfarrers Joachim Gauck, sich frei für eine präsidiale Amtsübernahme zu entscheiden. Da heißt es doch tasächlich: “…sie ( gemeint sind „viele meiner protestantischen Freunde im Westen“ und „unsere evangelischen Akademien und Studentengemeinden“ ) waren trotz eines Kommunismus mit imperialen Absichten bereit, den demokratischen Westen mental und militärisch abzurüsten. War das nicht die Fortführung einer Appeasement-Politik, deren Gefährlichkeit uns in Europa bewusst sein sollte? ( S. 45).“ Und schon war es passiert: Mit dem Denken der Fünfziger 60 Jahre später im Sessel des Bundespräsidenten.

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