Erdogan-Besuch: Weg von den europäischen Werten

Recep Tayyip Erdogan hat sich verzockt, als er seinerzeit Stimmung gegen Deutschland machte, indem er uns Deutsche, aber vor allem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Nazivergleichen überzog. Das mag den Türkinnen und Türken gefallen haben (gewiss nicht allen), und es mag ihm kurzfristig dabei geholfen haben, die Menschen hinter sich zu scharen, aber er hat dabei vergessen, dass er uns Deutsche braucht. Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei, und der Tourismus als wichtiger Wirtschaftszweig in der Türkei braucht deutsche Gäste. Auch die Verhaftungen kritischer Journalisten unter dem Vorwand des Terrorismus kamen alles andere als gut an.

Inzwischen hat Erdogan sich die Machtposition verschafft, die er haben wollte: Er ist Präsident und Ministerpräsident mit einer Machtfülle, die kein türkischer Politiker seit Gründung der Republik besessen hat, doch er hat bereits die Grenzen seiner Macht zu spüren bekommen. Die Beziehungen zu den USA sind auf Talfahrt, weil die Türkei den evangelikalen US-Prediger Andrew Brunson festhält. Die türkische Wirtschaft verzeichnet zwar offiziell ein Wachstum von sieben Prozent, aber zugleich liegt die Inflation bei 19 Prozent. Die türkische Währung Lira steht massiv unter Druck, und zeitweise konnte man den Eindruck haben, dass die türkische Zentralbank nicht unabhängig handeln konnte.

In dieser Situation kann Erdogan Freunde gut brauchen. Da hat er sich wieder an uns Deutsche erinnert und kam zu einem Staatsbesuch nach Berlin. Der fiel zwar reichlich unterkühlt aus, wird aber trotzdem als Erfolg für den türkischen Autokraten gewertet, der bei der Community der Deutschtürken eigenartig populär ist. Vor allem die Eröffnung der neuen Großmoschee in Köln hat ihm die gewünschten Bilder geliefert. Musste das sein? Immerhin: Ihm konnte schwerlich entgehen, dass er in Deutschland von vielen Menschen nicht gern gesehen ist. Vielleicht lässt ihn diese Erfahrung künftig Abstand nehmen vom Radikalverbalismus früherer Tage.

Richtig ist, dass man mit Erdogan reden muss, dass man den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen darf. Und richtig ist auch, an der Verbesserung der Beziehungen zu arbeiten. Falsch ist, Erdogan die Möglichkeit zu bieten, sich zu stilisieren. Die Frage bleibt also, ob dieser Staatsbesuch nötig war.

Balken 4Leserbriefe

Patrick Libuda aus Frankfurt meint:

„Herr Erdogan  ist eine Mischung aus Westentaschen-Putin und asiatischem Möchtegern-Despot. Eigentlich gehört er eher in den Knast als in einen Präsidentenpalast – oder glaubt wirklich irgendjemand, er sei auf ehrlichem Wege zu seinem Vermögen gekommen und ihm sei etwas wie Nepotismus völlig fremd? Von daher ist es traurig, dass so viele der hier in Deutschland lebenden TürkInnen ihn wählen und/oder gewählt haben. Für den Fall, dass einige unserer türkisch-stämmigen und türkischen MitbürgerInnen dies hier nicht gerne lesen und mir eventuell eine anti-türkische Einstellung andichten möchten, kann ich die Betreffenden beruhigen. Meine Eltern waren seinerzeit (Mitte der 1970er) die ersten in unserer Gegend (eine Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets), wo auch die türkischen Freunde willkommen waren. Auch in der Schule habe ich mich teilweise alles andere als beliebt gemacht (Realschule – nicht das Gymnasium hinterher, wo ich mein Abi gebaut habe), wenn ich gesagt habe, dass ich türkische Freunde hatte.
Es ist halt sehr einfach, wenn man selbst in einem demokratischen Rechtsstaat lebt, jemanden wie Erdogan fern der Heimat zu unterstützen. Wenn er wirklich so toll ist, warum leben die Betreffenden dann hier und nicht in der Türkei? Weil sie hier in Deutschland nicht aufgrund von abenteuerlichen und abstrusen Verdächtigungen auf (nicht) absehbare Zeit hinter Gittern verschwinden.
Ich gebe zu, dass sich die deutschen Behörden in puncto NSU nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben, und das ist noch ziemlich höflich ausgedrückt.  Dennoch fehlt mir halt jedes Verständnis für die Unterstützung, die jemand hierzulande genießt, der eigentlich nichts anderes ist als ein Faschist. Zudem muss ich dazu auch sagen, dass sich mir in den vergangenen Jahren nicht alle Gedankengänge meiner türkischen Freunde rationell wirklich erschlossen haben – Stichwort Nationalismus oder Kurdenfrage. Gerade mit letzterem Thema konnte man teilweise jahrealte Freundschaften aufs Spiel setzen!“

Hanspeter Maier aus Mörfelden:

„Alles richtig. Aber das wichtigste hat Arno Widmann vergessen zu erwähnen: Es ist verhängnisvoll, narzisstische Autokraten in einem Anfall von Überheblichkeit zu verhöhnen. Da haben die Berater von Angela Merkel versagt. Nachdem die Regierungen Kohl und Schröder der Türkei die Aufnahme in die EU in Aussicht gestellt hatten, kam die schwarz/gelbe Koalition 2005 auf Druck der CSU auf die Idee der „privilegierten Partnerschaft“, eine Beleidigung der damals eifrig um Anpassung bemühten Türkei. Von da an nahm das Verhängnis seinen Lauf: Die Türkei entwickelte sich in Umkehrung der Anpassung von europäischen Werten weg. Und wir hatten teuer zu bezahlen, die Deutschen mit viel Geld, z.B. für die Abriegelung der Flüchtlinge und die Kanzlerin mit Demutsgesten. Und das geht so lange weiter, bis wir der Türkei den Teppich in die EU ausgerollt haben werden.
Noch eine Anmerkung zum Nationalfeiertag. Da gibt es eine Parallele. Beim Anschluss der DDR wurde Gorbatschow versprochen, auf eine Erweiterung der Nato zu verzichten, was dann nicht eingehalten wurde. Und Russland bzw. Putin musste zusehen. Dann nannte Obama Russland eine „Regionalmacht, ebenfalls eine überhebliche Entgleisung gegenüber einem narzisstischen Autokraten. Im Syrienkrieg sah Putin die Chance, Rache zu nehmen und Obama als Hampelmann erscheinen zu lassen. Leider mussten (an der Beleidigung) Unbeteiligte dafür bezahlen.
Politiker sollten einen Grundkurs in Psychologie absolvieren, bevor man sie zur Wahl zulässt.“

Konrad Böhle aus Münster:

„Eindrucksvoll und wie selten sonst nötig sind z.Zt. die vielen öffentlichen Protestakte gegen den peinlichen wie gefährlichen, neo-osmanischen Pseudo-Diktator T.E. (hatte seine Mama dem kleinen Pascha wirklich so extrem jeden Dreck durchgehen lassen und dazu noch ganz entzückt applaudiert?); denn gegen ihn nehmen sich zeitgleich die Orbans, Kaczynskis und analogen Aufblasmannsbilder fast schon semidemokratisch aus. Unter alltäglichen Umständen würden im Falle einer solchen hypertrophen Paranoia weiße Männer mit Tatütata und einer superstabilen Schnürweste wegen grobschlächtiger Dauerangriffe auf die ganze (europäische) Zivilität intervenieren müssen.
Zum aufklärerischen/rationalen/modernen historischen Projekt der Aufklärung zählen wesentliche Momente wie die Dienfunktion der Politik für das Gemeinwohl, diverse Systeme von checks and balances, selbstreflexive Kritik und Kontrolle, das strukturelle Lob auf die Diversität der Haltungen/Werte/Meinungen, der Machtrücktritt bei grobem Kompetenzversagen, keinerlei Mißbrauch des staatlichen Gewaltmonopols, das Verbot einer gewaltförmig dressierten (identitären) Sozialität, et cetera. Durch die Bank alles davon verhöhnt dieses kleinasiatische Großmaul in wahnwitzigen (eben paranoischen) Manieren: Nepotismus, Kleptokratie, in kabarettreifer binärer Option: Tourist versus Terrorist, Kult um seine Blasphemie (sozusagen ein Islam ohne Gottesbezug, wohl mit Götzenselfie), die Monopolisierung inzwischen von fast 100% aller Medien unter der Ägide seiner Chargen – nicht zuletzt dies: die manische Übergriffigkeit seiner Spione u.a. bis in unser Land hinein, ohne ein Haltmachen vor Grenze/Souveränität/Autonomie. Wie und warum bitte optiert so jemand bis dato für eine Mitgliedschaft in der EU (als wenn auch fragiler Repräsentanz von kontinentaler Zivilität)? Das naiv-brutale Machogehabe (etwa auch mit Bezug auf die totale Leugnung von Scham und Schuld dem Genozid an Armeniern gegenüber) wird zentral offenkundig an der Ignoranz gegen jedes Quentchen von Umkehr/Selbstkritik/Kompromiß (abseits taktisch-ökonomischer Vorteilsspielchen)/Maßhalten (ich lehne die neoliberale Großlobbieskanzlerin samt Etikettenschwindel zur Klimakatastrophe etc. ab, aber sie und ganz Deutschland als faschistische Figur und Nation grund-los zu beleidigen und auch hier in nichts sich zu entschuldigen, stellt nichts als eine unfreiwillige Selbstentlarvung dar). Xenophobie muß unstreitig als Tabu gelten, aber wenn seine Meinungsmonopole und -diktate sich bei seiner Zweidrittelmasse im hiesigen Türkenanhang alltäglich wie medial fast nur in grenzdebilen Abklatschsätzen (totales Eigenlob, unfähig zum Diskurs und Dissens, Verweigerung jeder Art von Alterität, also von Austausch und Hinzulernen sowie Neugier auf Zentraleuropa) zeitigen, spricht derlei auch Bände über einseitige Desintegrationen. Nicht zuletzt umgekehrt dies: es gibt diese faszinierende, andere Türkei (eine anmutige, eigenartige Filmpoesie, die freisinnige Exilliteratur, die selbstlose Massenhilfe für Flüchtlinge in größter Not, die urige Herzlichkeit der einfachen, unverdorbenen Leute vor Ort, ein Vermittlungsstatus zwischen den Kulturen dies- und jenseits des >Bosporus<, usw.).“

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2 Kommentare zu “Erdogan-Besuch: Weg von den europäischen Werten

  1. Patrick Libuda (wie viele Bürger*innen und ich auch) kritisiert zu Recht die in Deutschland lebenden türkisch-stämmigen Bürger*innen, die Erdogan wählen bzw. unterstützen. Viele von uns fragen sich, wie Menschen, die schon lange in Deutschland leben, viele von ihnen hier geboren, sozialisiert, integriert sind, einen autokratischen Herrscher unterstützen können, der die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Gewaltenteilung / die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter einschränkt, Minderheiten unterdrückt und sich und seinen Clan bereichert, um nur einige wesentliche Punkte zu nennen. Es gab in den letzten Monaten viele Untersuchungen und Berichte, in denen die möglichen „Ursachen“ dafür erfasst und analysiert wurden. Es heißt u.a.: Sie fühlen sich nicht zur deutschen Gesellschaft „dazugehörig“. Sie fühlen sich hier nicht als gleichberechtigte Bürger*innen „angenommen“. Es herrscht nicht immer ein respektvolles Zusammenleben „auf Augenhöhe“. Es besteht immer noch eine starke Identifikation mit / Verbindung zu der Türkei als „ihrer Heimat“, mit der sie stärker verbunden sind. Kritik an Erdogan wird als Kritik an alle Türken wahrgenommen und ruft eine Gegenreaktion hervor. Über diese und viele andere Erklärungsversuche kann und muss diskutiert werden, damit wir daraus lernen und damit die aktuellen Integrationsbemühungen künftig zu besseren und nachhaltigeren Ergebnissen führen.
    Ich springe jetzt zu einem ähnlichen aber viel gravierenderen Ereignis:
    Bei der Abstimmung über die Eröffnung eines Rechtsstaatlichkeitsverfahrens der EU-Kommission gegen Ungarn haben sich alle CSU-Abgeordneten im EU-Parlament – mit Ausnahme von Manfred Weber – auf die Seite von Orban gestellt. Wenn wir zu recht die türkisch-stämmigen Bürger*innen dafür kritisieren, dass sie Erdogan unterstützen, dann müssen wir doch erst recht auch die CSU-Abgeordneten des Europaparlaments fragen, wie sie es rechtfertigen, sich auf die Seite von Viktor Orban zu stellen, dessen Politik und Herrschaft in vielfacher Hinsicht der von Erdogan sehr ähnlich ist. Dazu kommt noch eine tiefe Ausländerfeindlichkeit. Wie stehen diese „Volksvertreter“ zu den europäischen Werten, zu unserem Grundgesetz, zu unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung, zu den Menschenrechten etc., wenn sie einem Herrscher eines EU-Mitgliedslandes (!) beistehen, der diese Werte und Prinzipien mit Füßen tritt? Diese und viele andere wichtige Fragen müssten diesen Abgeordneten gestellt werden. Der CSU-Vorsitzende, der auch unser Bundesinnenminister ist, müsste aufgefordert werden, das Verhalten der von seiner Partei für das Europa-Parlament nominierten Abgeordneten zu erklären. Er hat nämlich mit keinem Wort das Verhalten seiner politische Verantwortung tragenden Parteifreunde kritisiert. Kann ein Politiker als Innenminister die Verantwortung für den Schutz und die Verteidigung unserer freiheitlichen Demokratie und unserer Rechtsstaatlichkeit übernehmen, wenn er und viele seiner Parteifreunde gleichzeitig mit einem Staatschef wie Viktor Urban sympathisieren?
    Abschließend möchte ich die Frage nach der Rolle der Medien ansprechen. Ich habe nur wenige Menschen getroffen, die von diesem Abstimmungsverhalten der CSU-Abgeordneten im Europa-Parlament erfahren haben. Ich frage die Verantwortlichen in den Medien, auch meine seit Jahrzehnten hochgeschätzte Frankfurter Rundschau: Wo bleibt der Aufschrei? Wer stellt diese Fragen und verlangt nach Erklärungen? Die Abgeordneten sind ja keine „Normalbürger“ wie türkisch-stämmigen oder ungarn-stämmige Mitbürger, sie sind „Volksvertreter“. Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, wie sie handeln und wie sie ihr Handeln begründen, insbesondere wenn es sich um Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht.

  2. @Yousif S. Toma

    Gehe auch mit Ihnen im wesentlichen d’accord :-). Es ist wirklich traurig, dass es ausgerechnet Polen und Ungarn sind, bei denen die politische Führung in den vergangenen Jahren – sprich die Parteien, die momentan am Ruder sind – eine Richtung eingeschlagen hat, die man eigentlich nur noch als neofaschistisch bezeichnen kann. Eigentlich müsste man beide Länder aus der EU rausschmeißen! Nun ja, Herr Putin würde sich wahrscheinlich freuen, weswegen es wohl doch keine so gute Idee wäre…

    Patrick Libuda
    Frankfurt am Main

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