Vermutlich Patientenverwechslung

Selten genug kommt es vor, dass ich einen Leserbrief anonymisiert veröffentliche. In diesem Fall habe ich der Bitte eines Lesers zugestimmt, so zu verfahren, weil er sich in einem Rechtsstreit zur Sache befindet. Es geht um ein altes Problem, das immer wieder hochkocht: fehlbehandelte Patienten und ihre Entschädigung. Opfer von „Kunstfehlern“ haben es bislang schwer, ihre Ansprüche durchzusetzen. Das geltende Patientenrechtegesetz hat ihre Position gegenüber Medizinern und Krankenhäusern kaum verbessert. Deswegen wird nun über einen Fonds diskutiert, der Geschädigten aus Steuermitteln hilft — ein Ansatz, der unseren Leser entsetzt. Von diesem Gastbeitrag erschien eine gekürzte Fassung im Print-Leserforum der FR am 28. November 2016.

Vermutlich Patientenverwechslung

Mit Empörung habe ich den Bericht über einen Entschädigungsfonds für fehlbehandelte Patienten gelesen. Nicht die beabsichtigte Entschädigung ist es, die mich empört, sondern das Konzept. Soll tatsächlich der Steuerzahler und die Gemeinschaft der Krankenkassenbeitragszahler zahlen für Fehler, die von Medizinern und Krankenhäusern begangen wurden? Gegen die sie ohnehin versichert sind und auch versichert sein müssen? Muss zu guter Letzt der fehlbehandelte Patient selbst in einen Fonds einzahlen, damit er im Falle eines Behandlungsfehlers eine Entschädigung bekommt?

Es geht in der Medizin längst nicht mehr um „notwendige“ Operationen und Therapien. Viele der Operationen werden dem Patienten „verkauft“ obwohl es dafür keine medizinische Indikation gibt. Nicht alle Rücken-, Hüft- und Knieoperationen sind medizinisch notwendig. Bei Zahnimplantaten liegen häufig nicht einmal die elementaren Voraussetzungen für eine Implantation vor, nämlich gesunder Knochen und gesundes Zahnfleisch. Auch viele augenärztliche Eingriffe sind medizinisch nicht notwendig, z. B. LASIK und refraktive Chirurgie, die nur durchgeführt werden um eine Brille zu ersetzen oder um die Altersweitsichtigkeit zu korrigieren (Ausnahmen gibt es). Und wie viele Katarakt-Operationen werden Patienten „angedreht“, obwohl die Betroffenen zu ihrem Erstaunen nach dem chirurgischen Linsenaustausch feststellen müssen, dass sie schlechter sehen als davor. 800.000 Augen sind es, die in Deutschland jährlich an Katarakt operiert, so viele wie nirgends auf der Welt. Eine Katarakt-OP zieht einen Nachstar nach sich, sie beschleunigt die Glaskörperdestruktion, die wiederum Netzhautschäden nach sich zieht. Hier geht es in vielen Fällen um das Verkaufen von Risiken auf den Rücken der – meist ahnungslosen – Patienten.

Diese Beispiele zeigen, dass Operationen häufig nur durchgeführt werden um Umsatz und Gewinn zu steigern. Wie viele Patienten aus diesen Operationen geschädigt rauskommen, wird nicht erfasst. Aber wen kümmert es? Die Beweislast liegt beim Patienten. An fehlender Rückendeckung seitens der Justiz mangelt es der Medizinbranche nicht.

Deshalb leuchtet mir nicht ein, weshalb der Steuerzahler, später die gesetzlich und privat Krankenversicherten in einen Fonds einzahlen sollen, um Geschädigten von medizinisch häufig unnötigen Operationen entschädigen zu können. Wenn der Schadensverursacher nicht für den verursachten Schaden gerade stehen muss, wird sich der Fehler wiederholen, für die andere Patienten wiederum mit einem Gesundheitsschaden zahlen müssen. Sollte es diesen Fonds einmal geben, gibt es nur einen Gewinner und das werden die Versicherungen der Berufshaftpflicht sein. Zu erwarten ist, dass es in Zukunft kaum noch jemanden gelingen wird, einen Zusammenhang zwischen Fehlbehandlung und Schaden nachzuweisen.

Ich bin Opfer einer Fehlbehandlung geworden Mir wurden in der Augenklinik eines großen Krankenhausbetreibers beide Augen schwer geschädigt durch die Verabreichung von Augentropfen, die ärztlich nicht verordnet waren. Vermutlich Patientenverwechslung. Die Klinik war personalmäßig hoffnungslos unterbesetzt. Nein, ich möchte keine Entschädigung aus einem Entschädigungsfond, in dem der Steuerzahler und andere Patienten eingezahlt haben. Ich möchte, dass der Krankenhausbetreiber zur Rechnung gezogen wird. Weil er durch eine ausreichende Personalbesetzung den Fehler hätte vermeiden können. Weil das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Grundgesetz verankert ist.

Dazu müssen die Gesetze aus dem neuen Patientenrechtegesetz von 2013 bereits in der ersten Instanz angewendet werden. Es gibt die Dokumentationspflicht, allerdings gibt es kaum eine leserliche Patientenakte, aus der einen Behandlungsverlauf rekonstruiert werden kann. Dieses Gekritzel und Geschmiere wird bei einer gerichtlichen Auseinandersetzung als Grundlage für die Beweisführung genommen. Doch weder Ärzte noch Krankenhausbetreiber brauchen etwas zu befürchten: eine mangelhaft geführte Patientenakte, in der aufgetretene Komplikationen nachweislich nicht eingetragen sind, wird noch immer nicht als Verstoß gegen die Dokumentationspflicht gesehen. Wozu brauchen wir Gesetze, wenn sie keine Anwendung finden? Bei so viel Verständnis seitens der Gerichte ist es nicht verwunderlich, dass Behandlungsfehler nicht nachgewiesen werden können. Und deshalb brauchen wir keinen Entschädigungsfonds, sondern Kontrolle der Gerichte und ihrer käuflichen Gutachter. Gerichtliche Gutachter sollen offenlegen, ob sie bei der selben Versicherung des Beklagten haftpflichtversichert sind – Interessenkonflikt –, ob sie im Laufe der Gutachtenerstellung Kontakt hatten mit der Versicherung der beklagten Mediziner bzw. Krankenhäuser oder mit der Beklagtenpartei selbst. Es sollte geprüft werden, ob Zuwendungen fließen oder geflossen sind, auch ob die erstellten Gerichtsgutachten den wissenschaftlichen Mindestanforderungen genügen. Das alleine würde schon reichen, um den Nachweis eines Behandlungsfehlers deutlich zu erleichtern.

Daniel Bahr hat Recht: wenn – sagen wir – 70 % der Ärzte bzw. Krankenhäuser grundsätzlich ordentlich und verantwortungsvoll arbeiten, dann gibt es immer noch 30 %, die es nicht tun. Für diese Gruppe muss der Druck aufrecht gehalten werden. Denn sonst gäbe es am Ende noch mehr Behandlungsfehler als es jetzt ohnehin schon gibt.

Anonymisiert (Autor ist der Redaktion bekannt)

Verwandte Themen