Auf einer Stufe mit Gefängnissen

Pflegeheime in Deutschland müssen sich bald auf zusätzliche Kontrollen einstellen: Experten der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter sollen nach dem Willen der Justizminister auch die 12.000 Pflegeheime hierzulande ins Visier nehmen. Bislang überprüft die Anti-Folter-Stelle aus Wiesbaden stichprobenartig lediglich Gefängnisse, Polizeistationen oder geschlossene Abteilungen der Psychiatrie. Jetzt soll der Auftrag ausgeweitet werden. Dazu meint Harald Dollansky aus Frankfurt, der seit nunmehr 18 Jahren in der Altenhilfe tätig ist:

Auf einer Stufe mit Gefängnissen

„Sie wundern sich, dass bei vielen Heimbetreibern Unmut über die Einrichtung dieser Stelle herrscht. Seien Sie versichert, diesen Unmut teilen auch Betreiber von freigemeinnützigen Pflegeheimen. Und insbesondere die Menschen die täglich dort arbeiten und unterschwierigen Bedingungen versuchen einen guten Job zu machen, fühlen sich von solchen Ideen wahrlich nicht in ihrem Tun unterstützt.

Welches Gefühl mag wohl bei den Mitarbeitenden von Pflegeheimen ausgelöst werden, wenn man auf eine Stufe gestellt wird mit Gefängnissen, Polizeistationen und geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie? Wer möchte wohl in Einrichtungen arbeiten, denen man per se Folter und menschenverachtende Praktiken unterstellt? Sollen sich Mitarbeitende von Pflegeheimen beim Treffen mit Freunden fragen lassen, ob in ihrem Haus eher mit Waterboarding, oder lieber mit Elektroschocks gearbeitet wird?

Dass der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn die Aufregung nicht versteht, braucht hingegen niemand zu verwundern, denn Kompetenz in seinem Amt hat er bisher eher selten nur gezeigt. Seine Argumentation geht völlig am Thema vorbei!

Was in dem Artikel völlig fehlt, ist auch nur ansatzweise der Versuch, sich mit den Ursachen der Missstände in Pflegeheimen zu beschäftigen.

Seit Jahren ist bekannt, dass wir einen Mangel an qualifizierten Fachkräften in der Pflege haben. Derzeit versucht man in Hessen das Problem durch das Anwerben spanischer Fachkräfte zu lösen. Ob das funktioniert wird die Zukunft zeigen, die ersten sind nach einigen Wochen wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt. Pflege bedarf neben aller Fachlichkeit auch eine hohe Sprachkompetenz, und ob sich diese nach einigen Wochen Sprachkurs einstellt, kann man zumindest bezweifeln. Welche Länder in Südeuropa oder Fernost wird man als nächstes ins Visier nehmen, um den Mangel an Fachkräften zu beheben? Es gibt noch eine ganze Menge zu entdecken. Aber die Frage ist doch: Wo bleiben denn die einheimischen Pflegekräfte? Warum haben wir ein Nachwuchsproblem in der Ausbildung zur Altenpflege?

Könnte es sein, dass das Ansehen dieses Berufes nicht eben das Beste ist? Könnte es sein, dass die Bezahlung für einen sehr harten Job nicht sonderlich attraktiv ist? Eine Pflegefachkraft im ersten Berufsjahr verdient ca. 2300,– € in einer Vollzeitstelle, eine Pflegehilfskraft ca. 2000,– €, wohlgemerkt sind dies Bruttogehälter, was davon Netto übrigbleibt hängt von den persönlichen Verhältnissen ab. In einer Stadt wie Frankfurt mit ihren üppigen Mieten ist das nicht viel!

Vielleicht sollten Sie sich aber auch mal mit der Arbeitssituation in der Pflege beschäftigen. Mit der Arbeitsverdichtung und der Personalausstattung, die sehr genau geregelt ist. Lesen Sie im Rahmenvertrag über die vollstationäre pflegerische Versorgung gemäß § 75 Abs. 15GB XI für das Land Hessen nach, wie der Personalrichtwert eines Pflegeheims berechnet wird, nämlich aus Personalanhaltswert dividiert durch pflegeheimbezogene Pflegekennziffer (PKZ).

Machen Sie eine Musterrechnung (ich unterstütze Sie gerne!) für ein durchschnittliches Heim mit 100 Plätzen, dann ergibt das ca. 35 Stellen für Pflege und Betreuung. Damit muss dann ein kompletter Dienstplan für 365 Tage mit 24 Stunden abgedeckt werden. Dann wundern Sie sich vielleicht, dass die Pflegeheime mit dieser Personalausstattung doch noch so gute Arbeit leisten. Was in dieser Rechnung völlig fehlt, ist der zeitliche Aufwand für die Dokumentation, der mittlerweile eine Dimension erreicht hat, der nur schwer an Außenstehende zu vermitteln ist.

Sie schreiben, dass der MDK in seinem jüngsten Bericht feststellt, dass nur vier von fünf Betroffenen die benötigte Hilfe beim Essen oder Trinken bekämen. Schreibt der MDK auch, dass das eine Frage der Personalbesetzung ist? Wenn Sie in einer Wohngruppe von 30 Bewohnern 10 Menschen haben, die das Essen angereicht bekommen müssen, dann haben Sie ein Problem mit der Personalbesetzung. Davon erfährt man in Ihrem Artikel leider nichts.

Sie schreiben, dass Experten davon ausgehen, dass jährlich rund 14 000 Heimbewohner ohne richterlichen Beschluss in ihren Betten fixiert werden. Welche Experten aufgrund welcher Datengrundlage kommen zu dieser Zahl? Zumindest für die Frankfurter Verhältnisse lässt sich feststellen, dass Anträge auf freiheitsentziehende Maßnahmen sehr genau begründet werden müssen, um eine Genehmigung zu erhalten. Regelhaft werden auch weniger einschränkende Maßnahmen vorgezogen. Und das ist auch richtig so, aber die Pflegeheime müssen auch in die Lage versetzt werden, angemessen mit psychisch veränderten Menschen umzugehen. Und auch hier kommt man ganz schnell auf die Personalfrage.

Wenn man von Pflegeheimen sehr viel einfordert, um den dort lebenden Menschen ein würdiges Leben im Alter zu ermöglichen, dann muss man den Heimen auch die Mittel dazu geben. Diese Frage muss gestellt werden, wie viel Geld der Gesellschaft der alte Mensch wert ist? Solange diese Frage nicht beantwortet ist, können Sie noch viele ähnliche Artikel schreiben, ohne dass sich viel ändern wird.“

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16 Kommentare zu “Auf einer Stufe mit Gefängnissen

  1. Unverschämtheit!

    Ja, kommt und kommt zuhauf, kontrolliert uns und stellt die Mißstände fest!
    Wir können sie euch alle nennen!
    Dann schafft das Geld herbei, um sie abzustellen oder haltet das Maul, wie ihr es seit Jahrzehnten getan habt, als wir an eure Türen klopften.
    Aber treibt keinen Keil zwischen Pflegende und Patienten!
    Ihr seid die Folterer!
    Wenn ihr nicht den Mut habt, euren „Vorgesetzten“ entgegenzutreten, können wir auf euren Mut gut verzichten.
    Wir, die Pflegenden, und wir, die Patienten, sind die, die eure Unfähigkeit seit Jahrzehnten ertragen haben.
    Wir sind diejenigen, die eure Folter ertragen haben, wir sind die, die ihr zu unterstützen habt!

    Wenn ihr das nicht fertigbringt, verzichten wir gerne auf euch. Kontrolleure sind auch Ressourcenverbraucher.

  2. Leider ist dies nicht der erste Artikel in der Frankfurter Rundschau, bei dem ich den Eindruck habe, hier geht es nur darum, auf billige Weise ein vermeintliches Skandalthema aufzubringen, in das die Stammtische dann gerne einstimmen. Wie lange haben denn die Autoren tatsächlich mal in einem Pflegeheim gesessen und wenigstens den Versuch unternommen, ein Gefühl dafür zu bekommen, welchen Belastungen die Menschen ausgesetzt sind, die dort arbeiten? Investigativer Journalismus sieht anders aus. Da reicht es nicht, mal einen Vormittag im Internet zu verbringen. Der Umgang Ihrer Zeitung mit diesem Thema ist sehr enttäuschend. Es ist nicht mehr als Effekthascherei.

  3. Habe mich heute den ganzen Tag noch ordentlich über diese Sache geärgert.

    Aber die Erfahrung ist alt:
    Kontrolle ist billiger als Verbesserung. Erstens deshalb, weil sie nicht durchführbar ist, zweitens deshalb, weil die notwendigen Folgerungen aus den Kontrollen ohnehin nicht umgesetzt werden. Es werden nur einfach ein paar wehrlose und bald ausgebrannte Kontrolleure zwischen die Probleme und die Entscheider geschoben.

    Einfaches Motto:
    Wenn Du’s Problem nicht lösen kannst,
    schaff‘ eine weitere Instanz…

  4. Ich verstehe die Aufregung von Herrn Dollansky nicht so ganz.
    Da beschreibt er kompetent die Schwierigkeiten, mit denen in Pflegeheimen gekämpft wird: Das Personal ist überlastet und unterbezahlt und weil sich unter diesen Bedingungen qualifizierte Leute nicht gerade drängeln, versucht man auf (noch geringer bezahlte) Menschen mit schlechterer Qualifikation auszuweichen.

    Ich weiß auch, dass die sich alle redlich bemühen und die Heime eigentlich anerkannte Institutionen in diesem Lande sind. Aber: Das sind Polizeistationen, Gefängnisse und die geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie aus der Sicht des Personales und seiner Aufgaben trotz des anderen Klientels auch. Wer diesen Vergleich als beleidigend beklagt, sagt damit nichts anderes, als dass es sich bei Polizisten, Justizvollzugsbeamten und die Pfleger! in der Psychiatrie um ein derart minderwertiges Gesocks handelt, dass der Vergleich eine Beleidigung darstellt. Ich weiß nicht so recht, ob uns mit dieser Empörung wirklich geholfen ist. Ich weiß auch nicht, ob uns mit der Einrichtung dieser Anti-Folter-Stelle wirklich geholfen ist, was ich daran aber gar nicht schlecht finde, ist, dass sie eine Fokussierung staatlicher Aufsicht auf den möglichen Problemfall Pflegeheim zeigt.

    Was sind denn die Parallelen, die eine gemeinsame Behandlung unter einer gemeinsamen Blickrichtung begründen könnten? Mir fällt da sofort etwas ein: Es handelt sich in allen diesen Fällen (eigentlich fehlen mir Kinderheime) um Einrichtungen, in denen Menschen sehr viel Macht über andere Menschen haben. Und die Geschichte zeigt, dass relativ regelmäßig Menschen in diesen Einrichtungen aktiv sind, die da eigentlich nicht hingehören, besonders, wenn man die guten durch Überlastung und Unterbezahlung vergrault. Wir haben uns in der Berichterstattung über Kinderheime inzwischen sogar daran gewöhnt, dass es Übeltäter sogar in kirchlichen Einrichtungen gibt, die doch der göttlichen Liebe verpflichtet sind.

    Wofür man sinnvollerweise kämpfen kann, ist also nicht eine Aufhebung dieser neu geschaffenen Stellen, sondern im Gegenteil eine Erweiterung ihres Auftrages: Sie sollten in allen Häusern unabhängig davon, ob sie Folter finden, die Belastung des jeweiligen Personals präzise protokollieren. Das gäbe nicht nur ein dünnes Folter, ja oder nein, sondern einen Zustandsbericht der ganzen Branche, der Basis für weiteres Handeln sein könnte. Ich bin mir aber sicher, dass auch das Unmut bei vielen Heimbetreibern auslösen würde. Aber manchmal kann Unmut auch eine ganz positive Stimulanz sein.

  5. Daß Stichproben-Kontrollen natürlich die Absicht haben, Fälle von Mißhandlungen aufzudecken, stimmt. Aber diese Tatsache an sich führt dazu, daß die Pflegeheimbetreiber (und zwar alle, nicht nur die kontrollierten) schon ein wenig mehr unter Druck kommen, ihre eigenen Qualitätskontrollen zu verbessern… denn sie können ja nicht ausschließen, einmal selber kontrolliert zu werden. Hierzu müsste aber das Auffinden von Mißständen durch die Kontrolleure auch mit ernsteren Konsequenzen behaftet sein.

    Was den Geldmangel angeht, so weiß ich nicht, wie die Preisfindung bei Pflegeheimplätzen funktioniert, aber das Naheliegenste wäre doch, die Preise zu erhöhen? Mehr als die Hälfte der Ausgaben für die vollstationäre Pflege einer Person werden durch eigene Renten, Vermögen oder Einkommen oder Vermögen des Ehepartners oder naher Verwandter bestritten. Warum sollen die geschont werden… damit mehr vererbt werden kann? Pflegt der Bürger hier etwa auch eine ALDI-Mentalität, nicht nur beim Essen? Dann kriegt er halt das, was er auch gewollt hat.

    Ergänzend wäre dann sicher auch eine Erhöhung der Beitragssätze der Pflegeversicherung nötig, denn die kommt für ca. ein Drittel der Gesamtkosten auf. Je nachdem, in welchem Ausmaß die Politik gesamtwirtschaftliche Auswirkungen vermeiden will, könnten die Erhöhungen zwischen Versicherten und Arbeitgeber verteilt werden (sie sind ja schon heute nicht gleichverteilt).

  6. @Frank Wohlgemuth

    Nicht so sehr Sie, aber viele andere mißverstehen, daß die Menschen, die diesen Beruf gewählt haben, eben nicht auf das Geld aus sind, sondern sich dafür entschieden haben, bedürftigen, bedrohten und vernachlässigten Menschen zu helfen, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob dies gut der schlecht bezahlt ist, ob es Anerkennnung oder wertlose Medallien dafür gibt. Wir bezahlen dieses rational und emotional begründete Engagement, welches der kant’schen Pflicht sehr nahesteht, mit Hohn, Spott, Diskriminierung und Verdächtigung, aber der, der sich mit den Gemeinen gemein macht, ist den „Qualifizierten“ durchaus vorzuziehen.

    Die Mehrheit der „Helfenden“, und ich denke es sind weit über 99%, wählen diesen Beruf, um Mißstände auszugleichen oder zu überwinden, welche die „Kontrolleure“ angeblich „aufdecken“ sollen. Dabei gibt es dort nichts „aufzudecken“. Wir, die Pflegenden, weisen seit Jahrzehnten auf die Mißstände hin und es gibt nichts zu „kontrollieren“. Niemand, der diesen Beruf wählt, tut dies in der Absicht, Menschen zu mißhandeln. Er wird durch die Vernachlässigung, die die Gesellschaft den Pflegenden und den Patienten zumutet, dazu gezwungen. In geradezu sträflicher Weise wird die soziale Kontrolle, die innerhalb meines Berufs-„standes“ herrscht, verleugnet und es wird ein Popanz aufgebaut, der Feindbilder streut, um Stellen in der „Kontrollszene“ zu schaffen. Aber auch die Kontrolleure werden bloss hilflose Helfer bleiben, weil auch diesen die Verantwortlichen nicht zuhören und deren dringende Verbesserungsforderungen verschleppen werden.

    Geradezu „pervers“, entschuldigen Sie den Ausdruck, ist die Unterstellung, die Helfer litten unter einem „defizitären Machtsyndrom“, das sie zur Berufswahl veranlasst hätte. Das mag zu undenklichen Zeiten der Fall gewesen sein, in denen alles pervers war. Ich verwahre mich gegen solche Einordnungen. Alle Kollegen, die ich in langjähriger Arbeit kennengelernt habe, fühlten sich den Menschenrechten verpflichtet und haben bis zur Selbstaufgabe versucht, diese durchzusetzen.

    Nicht ohne Grund finden sich in den Reihen der Helfenden mehr Demokraten, Linksdemokraten, Linke und sonstige Vernünftige!

  7. Mit großem Bedauern muss ich feststellen, dass es eine permanente offene aber auch unterschwellige Verunglimpfung der Pflege gibt, die in keiner Weise mehr der Sache dient. Rudolf Hauke, Vorstandsmitglied der KKH Kaufmännische Krankenkasse, gibt einen Aspekt zu bedenken: „Was wir brauchen, ist eine zielgerichtete Qualitätsoffensive. Immer wieder kommt es beispielsweise vor, dass Pflegeheimbewohner stürzen, zu viele oder falsche Medikamente erhalten oder mit schmerzhaften Druckgeschwüren stationär behandelt werden müssen. Wenn wir es schaffen, diese Folgekosten aufgrund von Pflegemängeln einzudämmen, steht das Geld für die Pflegebedürftigen an anderer Stelle wieder zur Verfügung.“ (CareInvest 14.6.2013)
    Diese und ähnliche Äußerungen sollen zum Ausdruck bringen, dass Stürze in einem Pflegeheim ein Pflegemangel sind. Damit ein Mensch, der möglicherweise etwas unsicher auf den Beinen ist, nicht fällt, muss man ihn fixieren, alternativ mit Medikamenten ruhig stellen.
    Gleichzeitig wollen die Justizminister der Länder die Anti-Folterstellen ermächtigen, in Zukunft auch Heime zu kontrollieren. Unsensibler, oberflächlicher und schizophrener geht es nun wirklich nicht mehr.
    Was ist Qualität in der Pflege, wie wertvoll ist uns die Freiheit (Menschenrechte) pflegebedürftiger Menschen, mit welchen finanziellen Mitteln ist was und wie viel in der Pflege zu leisten?
    Wer fühlt sich eigentlich heute alles dazu berufen, über einen hochsensiblen, sehr vielschichtigen, durch eine übermäßige Vorgabe von Gesetzen und eine Fülle von Kontrollen beeinflussten, schwierigen Aufgabenbereich zu urteilen?
    Der Sturz eines Menschen im Pflegeheim ist nicht automatisch ein Versagen der Mitarbeiter. Pflegekräfte sind keine Folterknechte, und mit der Finanzierung eines Kleinwagens kann ich nicht die Mittelklasse fahren. Es ist so einfach, auf einer Branche rumzuhauen. Die oben zitierten Aussagen führen auf jeden Fall mit Sicherheit in die Irre und machen die Arbeit weder besser noch leichter, noch motivieren sie junge Menschen, in diese Aufgabe einzusteigen.
    Sehr geehrte Damen und Herren Politiker, stellen Sie sich endlich der Realität und geben über 800 000 Menschen in Deutschland eine wirkliche Chance, in Würde und Freiheit und mit fachlicher Kompetenz in Heimen gepflegt zu werden, was sie sicher nicht mit noch mehr Kontrollen erreichen

  8. Wenn das alles so einfach wäre! Als meine Mutter im Sterben lag, bat ich im Pflegeheim um ein Bettgitter: Sie war sehr unruhig und wäre beinahe aus dem Bett gefallen. Ein Gitter wäre ihr auch zum Festhalten und Umdrehen angenehm gewesen. Antwort: Das dürfen wir nicht, auch die Unterschrift eines bevollmächtigten Angehörigen reiche nicht. Zum Essen brauchte sie jeweils etwa eine Stunde, und diese vier Stunden Individualpflege pro Tag können Heime mit ihrem Personalschlüssel nicht leisten. Außerdem: Darf man Menschen zwingen zu essen, die das nicht mehr wollen? – Meine Freundin, todkrank, bekam im Klinikum gegen Durchliegen so eine Art Wasserbett mit Gummiauflage, auf der sie sich überhaupt nicht wohl gefühlt hat. Ihrem Willen entsprach das nicht, aber der zählte nicht.
    Andererseits: Im Klinikum Marburg-Gießen werden Patienten überhaupt nicht gefüttert, sondern Angehörige aufgefordert, dies zu tun.

  9. Der Beruf Pflegefachkraft muss dringend verbessert werden, was die Arbeitsumstände betrifft. Erst dann kann den Pfelgebedürftigen geholfen werden, denn die leiden genauso, wenn nicht sogar mehr darunter.
    Grüße,
    Lisa von
    Pflege Fachkraft

  10. @Regina Neumann

    Vieles hat mit Vorschriften zu tun, von denen nicht bekannt ist, wann und wie sie angewendet werden sollen und wann sie übergangen oder interpretiert werden können.

    Klassisches Beispiel sind die Bettgitter. Ein Bettgitter ist kein Problem, wenn der Patient dies wünscht oder braucht und wenn er über hochstellen und tiefstellen des Gitters selbst bestimmen kann (oder ein Berechtigter dies in Vertretung für ihn tut).
    Das bedeutet, daß, wenn jemand erreichbar ist, der das Bettgitter auf Verlangen herunterstellt, der Tatbestand der Freiheitsberaubung, der durch die Hirne geistert, überhaupt nicht gegeben ist.

    Allein die Unterstellung der Kontrolleure (und der Öffentlichkeit), daß Bettgitter per se eine Freiheitsberaubung darstellen, gepaart mit der Unterstellung, daß das Personal die Bettgitter zur eigenen Bequemlichkeit und Absicherung anwendet und nicht im Sinne des Patienten, führt zu den absurden „Grundsatzentscheidungen“ und Situationen im Alltag.

    Als Beispiel:
    Die pauschale Aussage „Bettgitter sind Freiheitsberaubung“, die immer wieder durch die Presse geistert, ist schierer Blödsinn. Es sind eine Menge Faktoren zu berücksichtigen, die zu berücksichtigen man dem Personal in den Pflegeeinrichtungen durchaus zutrauen kann.

    Nicht zuletzt ist die Beobachtung wichtig, ob hinter dem Bettgitter überhaupt jemand liegt.
    „Live“ erlebt bei der Kontrolle eines frischen Bettes, desinfiziert und neu bestückt, zur Aufnahme eines OP-Patienten bereitgestellt und per interner Absprache durch hochgezogene Bettgitter gekennzeichnet. Es gab eine lange Diskussion über das Bettgitter, hinter dem niemand lag.

    Ich denke innerlich gern an Loriot:

    „Das Gitter darf nicht hochgezogen sein!“
    „Es liegt aber doch keiner drin! Frau Müller ist noch im OP“
    „Wenn jedoch jemand darin läge, so wäre das Hochziehen des Bettgitters, nach §12zich eine Freiheitsberaubung. Können Sie mir hier und jetzt versichern, daß hinter diesem Bettgitter niemand, auch kein Anderer, im Falle weiblichen Geschlechts auch keine Andere liegen wird?“
    „Die Frau Müller ist … weiblich.“
    „Wollen Sie sagen, daß, wenn der Patient männlich ist, das Gitter nicht, im Falle weiblichen Geschlechts des Patienten jedoch hochgezogen wird?“
    „Nein.“
    „Sie ziehen das Gitter also weder dann hoch, wenn der Patient ein Mann ist, noch wenn er (sie) eine Frau ist?“
    „Ja?“
    „Wie erklären Sie mir dann daß das Gitter HOCHGEZOGEN ist?“
    „Es liegt niemand drin.“
    „Das können sie nicht wissen.“

  11. Vielleicht auch noch mal nachdenken:
    Was würden sie eigentlich empfinden, wenn Sie pflegebedürftig sind und bei Ihnen zu Hause mal der Richter vom Amtsgericht, mal der MDK, oder die Heimaufsicht, mal das Gesundheitsamt, mal die Brandschutzbehörde und jetzt noch die Anti-Folter-Stelle aufschlägt? Einfach mal so, unangemeldet und immer mit halbem Blick unter ihre Bettdecke?
    Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf zu erfahren, welche Qualität in der Pflege vorherrscht. Aber hat sie wirklich das Recht dazu, die Betroffenen zu einem permanenten Untersuchungsobjekt zu machen?
    Warum kann nicht die Betreuungs- und Pflegeaufsicht nach dem Rechten sehen? (tut sie doch sowieso!)
    Der MDK kostet uns jedes Jahr Millionen Euros, jede andere Behörde erhöht diesen Betrag. Hört auf, das Geld für Kontrolle auszugeben, gebt es den Pflegenden und macht Supervision und Fortbildung verpflichtend.

  12. zu BvG 21.6.
    Wenn jemand – wie meine Mutter – zu schwach zum Sitzen, geschweige denn zum Stehen ist, besteht die Einschränkung in ihrer Schwäche, ihrem Alter, ihrer Todesnähe. Alternativ zum Bettgitter soll man wohl – so habe ich es gehört – den Patienten tiefer legen, so dass ein Sturz aus dem Bett nicht so schlimm wäre. Ist das richtig? Dann ist das zynisch/ weltfremd! Dann liegt der alte Mensch quasi auf dem Fußboden. Und wie geht dann das Füttern und Bettenmachen?

  13. @Regina Neumann

    Ja , es gibt die tollsten Gerüchte über meinen „Beruf“.

    Vermutlich hat sich jemand, mangels anderer Möglichkeiten, wenigstens die Lösung einfallen lassen, die Sturzfolgen zu minimieren, indem er die Fallhöhe reduziert hat. Flugs wurde daraus, was immer aus Mücken wird.

    Es ist zum Beispiel eine kluge Handlung, einen Patienten, der fällt und den man nicht halten kann, langsam zu Boden gleiten zu lassen, dort zu sichern und liegen zu lassen und Hilfe zu holen.

    In der Gerüchteküche wird dann daraus: Die lassen die Leute einfach fallen, was liegt liegt.

    Allgemein kann man sagen, daß in der Praxis weit mehr differenziert und nachgedacht wird, als in der öffentlichen Diskussion und in den Köpfen der (mancher) Kontrolleure wahrnehmbar wird. Ein Gitter ist eben nicht immer eine Einschränkung, sondern manchmal eine Hilfe, und ein einmal angebrachtes Gitter wird auch nicht festgeschweißt, ein zum Transport in den Rollstuhl gesetzter Patient bleibt nicht darin sitzen. Auch wird man oft zu Zwischenlösungen gezwungen, die man selbst kaum gut findet. Es wird aber häufig ganz ohne Nachfrage aus dem Augenschein heraus geurteilt und unterstellt, daß wir das, was manchmal in den Heimen und Krankenhäusern passiert, auch selbst in Ordnung fänden.

    Vergleichbar wäre die Unterstellung, daß die Feuerwehr großen Spass daran hat, Gebäude unter Wasser zu setzten.

    Wie weiter oben schon gesagt, sind wir(das Personal) die ersten, die um Qualität kämpfen, aber sie wird uns verwehrt. Auch deshalb ist diese Kontrolleritis zu empörend.

  14. noch mal zu bvg
    Ich wollte nicht dem Pflegepersonal am Zeug flicken! Manche Pflegebedürftigen bräuchten eine 24-Stunden-Betreuung – ich weiß, wovon ich rede! Das kann das derzeitige System nicht leisten: Weder ein Pflegeheim noch die Angehörigen. Seien wir doch ehrlich: Wer will für eine unbestimmte Zeit völlig „auf sich“ verzichten? Da bin ich für Pflegedienste/ Heime sehr dankbar. Wenn dann Idealzustände gefordert werden, die niemand leisten kann/ will, lügt man sich in die Tasche. Man muss bestimmte Standards setzen, auf der anderen Seite aber auch feststellen, dass in bestimmten Situationen absolute Selbstbestimmung nicht möglich ist – weil ich eben schwach und todesnah bin. Alle Kontrolle wird das Sterben in Würde oder Unwürde nicht verhindern können.
    Es gibt ein altes Lied „Was ist die größte Kunst auf Erden? Mit frohem Herzen alt zu werden.“ (Im Internet)
    Wir sind im Alter eben alt und schwach. Darauf muss Pflege reagieren (können) – mehr nicht.

  15. @Regina Neumann
    „Ich wollte nicht dem Pflegepersonal am Zeug flicken!“
    Hatte ich auch nicht so aufgefasst.

    Der Satz „Alle Kontrolle wird das Sterben in Würde oder Unwürde nicht verhindern können.“

    wird eindrücklich im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ dargestellt, als Phil unbedingt den alten Mann retten will, es ihm nicht gelingt und die Krankenschweseter zu ihm sagt: „Manchmal sterben Menschen einfach.“

    Wir leben mit der täglichen Erfahrung, daß man oft einfach nichts mehr „richtig“ machen kann. Vor dieser Not drücken sich die Kontrollfreaks.

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