Das reale Leben in Russland

Putin ist in Deutschland. Der Mann aus der gelenkten Demokratie. Dem Land, in dem Journalisten umgebracht werden, zum Beispiel in Fahrstühlen. Dem Land, von dem Europa – und natürlich besonders Deutschland – energiepolitisch abhängig ist wie von keinem anderen einzelnen Land der Welt. Da sprudeln natürlich kritische Worte und Mahnungen in Hülle und Fülle aus dem werten Mund unserer Bundeskanzlerin, etwa dieser Art: Sie gehe davon aus, dass alle Anstrengungen unternommen würden, um den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja aufzuklären.

„Opfer unbedeutend“ überschrieb die FR ihren Beitrag zum Thema auf Seite 1. Und diese Überschrift kommt bei manchen Leserinnen und Lesern gar nicht gut an. So bei Gerhard Willem aus Hamburg, der mir schreibt:

„Eine populistischere Überschrift hätte man wahrlich nicht ausdenken können. Kein sehr hohes Niveau!“

Mike Nöll aus Eschborn findet:

„Wie kann man in der Überschrift schreiben „Opfer unbedeutend“, wenn im Text deutlich wird, dass der Mord als Gräueltat bezeichnet wird, allerdings der „Einfluss der Redakteurin […] unbedeutend und ohne Auswirkungen auf das reale politische Leben in Russland gewesen“ sei? Ist das eine Überschrift der Bild-Zeitung oder handelt es sich um die Frankfurter Rundschau? Hoffentlich achten Sie zukünftig auch bei der Wahl der Überschrift wieder auf einen korrekten Kontext.“

Zu beiden Zuschriften möchte ich anmerken, dass es sich bei der Überschrift um ein zusammengezogenes Zitat handelt. Putin hatte gesagt, dass der Einfluss der ermordeten Journalistin unbedeutend und ohne Auswirkungen auf das reale politische Leben in Russland gewesen sei. Soll heißen, das Ausland spielt die Geschichte in Putins Augen unangemessen hoch. Damit sagt er mehr oder weniger unverblümt, dass er die Journalistin für unbedeutend hält. Ob das nur eine Pose ist oder ob er das wirklich glaubt, dies sei dahingestellt; es kommt – für diese Überschrift – nur darauf an, dass er das gesagt hat. Diese Aussage haben wir verdichtet und in Anführungszeichen gesetzt: Achtung, Zitat!

Na ja, ich gebe zu, dass das vielleicht nicht die beste Überschrift ist, die wir jemals gemacht haben. Im ersten Moment ist sie ein wenig missverständlich, sie erschließt sich erst richtig, wenn man den ersten Satz des Artikels gelesen hat. Aber der Kontext, Herr Nöll, stimmt schon. Und man muss auch nicht gleich mit der Springer-Peitsche kommen, wie Gunther Schirmer aus Leipzig:

„In Springer-Manier knallen Sie eine Headline hin, die einen ganz falschen Eindruck erweckt. Putin sagte, der politische Einfluß der Arbeit dieser Journalistin war in Russland unbedeutend. Er sagte nicht, die Person wäre unbedeutend. Natürlich ist dieses Verbrechen ganz furchtbar. Aber gerade eine Zeitung wie die FR sollte schon darauf achten, wie sie ihre Artikel aufmacht.“

Das tun wir auch!

Was auch immer Putin als das reale Leben in Russland ansieht – von deutscher Seite scheint man ihm da nicht reinreden zu wollen. Das kommentiert Herold Binsack aus Oberursel wie folgt:

„Der Mord an einer Journalistin, von dem die Mehrheit der westlichen Presse ausgeht, dass er auf das Konto des Kremls geht, hindert Deutschland nicht daran, seine „Strategische Partnerschaft“ (vgl. FR in derselben Ausgabe) mit demselben Kreml, just auch noch zum selben Zeitpunkt, zu untermauern. Das klingt nicht unähnlich unzähligen Treueverlautbarungen US-amerikanischer Regierungen gegenüber etlichen Militärdiktaturen, jeweils kurz nachdem in der Weltpresse die aktuellsten Verbrechen eben jener Regimes an ihren eigenen Völkern besprochen worden waren. Wie naiv darf man eigentlich sein, um zu übersehen, dass das eine direkte Aufforderung zum „Weiter so!“ ist?“

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6 Kommentare zu “Das reale Leben in Russland

  1. Ich finde es im Prinzip gut, wenn von der Redaktion der Frankfurter Rundschau so was wie eine Selbstkritik geleistet wird, insofern sie zugibt, dass diese Überschrift nicht gerade eine „Glanzleistung“ gewesen sei, allerdings meine ich – und das war auch der Grund für meinen so verärgerten Kommentar – ist eben Putins Bemerkung mit einem gewissen Zynismus behaftet, allerdings nur, wenn man den eigentlichen Kontext dabei beachtet, von dem ja nun mal auch die westliche Presse auszugehen scheint, nämlich, dass dieser Mord aufs Konto des Kreml selbst geht, und daher der eigentliche Zynismus sich vor allem durch eine dementsprechende Heuchelei und weniger durch den Mangel an Empathie für das Opfer auszeichnet. Genau ein solcher Kontext kommt aber leider auch nicht in dem benannten Rundschau-Artikel genügend klar herüber, hingegen ein jenes etwas schnoddrig daherkommend zu scheinende „Wortspiel“, was dann wiederum das ganze Ausmaß eben dieses Zynismus eher verharmlost. Eine Selbstkritik der Redaktion müsste daher konsequenterweise, aus meiner Sicht, genau diesen – und auch in der ganzen westlichen Presse eben nicht genug hervorgehobenen – Aspekt betonen. Daher bleibe ich bei meiner Behauptung, dass der Kreml sich durch diese und jene Berichterstattung – auch und gerade – aus dem Westen, eher motiviert als durchschaut fühlen muss, und dies ganz besonders natürlich durch jene „Strategische Partnerschaft“, welche ihm genau zu diesem Zeitpunkt von hier aus geschmackloserweise signalisiert wird.

  2. @ Herold Binsack:

    Da sind wir bei einem Kernproblem seriöser journalistischer Arbeit: Wovon auch immer die „westliche Presse auszugehen scheint“, welchen Verdacht auch immer man hegen mag – es hat in einem anständigen Nachrichtentext nix zu suchen. Über einen Auftragsmord, gar mit dem Kreml als Auftraggeber, lässt sich trefflich spekulieren, aber hier geht es zunächst um Information und nicht um Tendenz. Sowas gehört allenfalls auf die Meinungsseiten. So lange es aber auch nicht den Hauch eines Verdachtsmoments gibt, haben wir uns zurückzuhalten.

  3. O.K., aber dann sähe ich mich versucht – mit Radio Eriwan zu antworten: Im Prinzip Ja…, aber dann hätten die obigen Kritiker darin recht, wenn sie der FR eben genau jene Unseriösität vorwerfen, die in dieser „Verdichtung“ (Bronski) – im Wortspiel getarnt – auf etwas anspielt, was in einer „seriösen Berichterstattung“ – da solchermaßen unbewiesen – nichts zu suchen gehabt hätte. Ein solcher Schlagabtausch, der sich eigentlich nur um Formalien drehte, würde aber der Angelegenheit und damit besonders der Tragik der Ermordung einer Journalistin – unter den bekannten politischen Verhältnissen in Russland – nicht gerecht werden. Die gestern Abend in ARTE ausgestrahlte Sendung, mit einem Vertreter von Reporter ohne Grenzen und Andre Glucksmann, hat mir deutlich gemacht, dass zu dem Zynismus eines Putin noch eine unverschämte Lüge hinzukommt, wenn er behauptet, dass Anna Politkova eine unbedeutende Person gewesen sei – und eben genau diese Aussage verrät nicht nur den vermutlichen Killer, sondern eben auch das Motiv, falls wir vom Gegenteil genau jener Behauptung überzeugt seien. Sie war bedeutend – nicht nur angesichts der Ohnmacht einer quasi gleichgeschalteten (inländischen) Presse, sondern auch wegen des fehlenden Mutes der internationalen Presse und nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Bücher, in denen sie sich auch direkt mit Putins Rolle auseinandersetzte. Wir können und müssen nicht beweisen, dass eben genau jene politischen Verhältnisse für diesen Mord verantwortlich zu machen sind. Und so ganz nebenbei ist das nicht der erste politische Mord nach diesem Strickmuster, wofür auch ganz subjektiv eben dieses autokratische Putin-Regime verantwortlich zu machen ist. Nicht im Sinne einer subjektiven Zuweisung – das würde dieser Tat ehe nicht gerecht werden -, sondern in der Subsumierung unter politische Verhältnisse, die für einen solchen Mord das Motiv, die Gelegenheit und reichlich Täter liefern, sehe ich das Regime in die Verantwortung genommen. Die Kaprizierung auf eine – und womöglich kaum zu beweisende – Verschwörung, würde aus dem politischen Verbrechen doch nur ein gewöhnliches machen; und genau das würde nicht nur den Ruf der Ermordeten nachträglich schädigen, sondern der Absicht des Regimes Anna Politkova zum Opfer eben eines solchen zu machen, sehr entgegen (von wegen: unbedeutend) kommen. Nun, eine Zeitung kann nicht nur Bericht erstatten, sondern auch Meinung bilden. Und diese Meinungsbildung sollte sich wohl aus Fakten begründen, aber sich nicht auf diese beschränken, oder sich mit harmlosen Anspielungen zufrieden geben (dann würde eine dpa-Meldung oder manche Bildzeitungsüberschrift wirklich genügen). Der Leser weiß es zu schätzen, wenn er eben genau darin zwischen den Medien zu unterscheiden hat. Wenn eine Frankfurter Rundschau sich in zentralen Themen (und Meinungen) nicht mehr von einer Frankfurter Neuen Presse (nicht etwa von einer Bild, das wäre dann nur noch peinlich!) unterscheidet, dann verliert der Leser das Interesse an solchen Medien und liest dann vielleicht wirklich nur noch dpa-Meldungen (oder gar die Bild). Und ich finde, dass der Mord an Anna Politkova unbedingt für eine Wende in der öffentlichen Meinungs- und Haltungsbildung genutzt werden sollte, wenn die zentrale Aussage der gestrigen ARTE-Runde sich nicht allzu bald und ganz fürchterlich bestätigen sollte, nämlich, dass von diesem Russland auch für Europa eine Riesengefahr ausginge, was so nebenbei auch Anna Politkovas Botschaft war, wofür sie vielleicht auch gemordet wurde.

  4. „Wir können und müssen nicht beweisen, dass eben genau jene politischen Verhältnisse für diesen Mord verantwortlich zu machen sind.“

    Nicht die Verhältnisse sind für den Mord verantwortlich, sondern die Auftraggeber des Mordes, die offenbar bestimmte Verhältnisse herstellen wollen. Niemand bestreitet, dass der Mord aus politischen Motiven begangen worden sein könnte. Nur beweisen lässt sich das bisher nicht. Würden Sie denn einer Zeitung trauen, die Unterstellungen mit Fakten mischt? Ich sage noch einmal, das ist für uns völlig ausgeschlossen.

    Aber ein anderes Wort fiel in diesem Zusammenhang: Zynismus. Tatsächlich ist Putins Statement über Politkowskaja zynisch. Genauso zynisch ist die verdichtete Überschrift, die wir daraus gemacht haben. Sie gibt also in treffender Weise Putins Einstellung wider.

    Ich bitte doch, gerecht zu bleiben. Es ist ja nicht so, dass wir den Mord nicht einzuordnen versucht hätten. Hier dazu der Kommentar von Karl Grobe.

  5. Die Auftraggeber eines solchen Mordes, welcher vermutlich niemals aufgeklärt werden wird (!), sind hauptverantwortlich auch für jene politischen Verhältnisse, die wiederum der Hintergrund für eben diesen Mord bilden. Und somit kann festgestellt werden, dass die politischen Verhältnisse verantwortlich zu machen sind für einen Mord, welcher den Tätern eben niemals nachzuweisen sein wird; aber die politischen Verhältnisse sind ihnen nachzuweisen! Und will man solche Morde in Zukunft verunmöglichen, dann nur, wenn man diese politischen Verhältnisse offen angreift und sich nicht mit ihnen arrangiert! Das und nichts anderes ist die Erfahrung, die die Welt auch mit dem Hitlerfaschismus gemacht hat. Und wenn ich Karl Grobe richtig verstehe, dann meint er auch nichts anderes, wenn er schreibt, dass der „an ihr verübte Mord (…) ein Symbol (ist) für eine beklagenswerte gesellschaftliche Entwicklung. Ich kannte den Artikel von Karl Grobe, und gerade dieser war es, der mich in meiner Meinung über die „Gefahr aus Moskau“ bestärkt hat. Selten habe ich aus einer freien und legalen (sich also nicht im Untergrund befindende) Zeitung soviel „Äsopische Sprache“ vernommen, wie gerade in diesem Beitrag! Was um Gotteswillen sind „zivilgesellschaftliche Gruppen“, und wem oder was sollen sie entgegengestellt sein? Ich behaupte nicht, dass hier die Angst vor Putins langer Arm die Sprache diktiert (noch nicht!), aber eine Angst wird deutlich, dass jene – bisher nur angedeuteten – Abhängigkeitsverhältnisse, sich durch offenes Aussprechen womöglich grausam offenbaren könnten. Und eine mythische Besetztheit dieser Angst scheint mir auch offenkundig: Die Gefahr bloß nicht beim Namen nennen und dann bleibt sie vielleicht aus! Aber natürlich wird es Winter und wir befürchten, dass es uns so ergehen könnte wie den Ukrainern!? Wenn nicht gar mehr dahintersteckt, nämlich die Angst, nicht nur auf unsere wohlige Winterwärme, sondern auch auf einen „strategischen Verbündeten“ (Merkel, die das bis Dresden angeblich nicht so gehabt haben wollte) verzichten zu müssen. Dieser Mord, und die nette Art unserer Kanzlerin das zu erwähnen, und dieser (in mancher Hinsicht vielleicht nicht schlechte) Beitrag von Karl Grobe, markieren eine Richtung in der Beziehung zu Russland, die durch Schröders Vorsitz in einem Aufsichtsrat voller „Paten“ längst symbolisch begangen worden war (und das ist vielleicht der eigentliche Skandal um unseren Ex-Kanzler). Putin darf nun registrieren, dass seine Politik der Erpressung und der Umschmeichelung mehr als erfolgreich gewesen war! Und das ist so nebenbei die postmortale Verhöhnung schlechthin für alle bisher und eben wegen solcher Wahrheiten Gemordete – und somit auch für Anna Politkowskaja.
    Es wird vielleicht noch mehr solcher Morde geben, aber schlimmer wäre es beinahe, wenn sie in Zukunft gar nicht mehr nötig wären, weil eben eine so „diskrete Gazprom“ (Karl Grobe) den zivilen Gehorsam aller auf Gas Angewiesener dann garantiere. Und ich erwarte von den „zivilgesellschaftlichen Gruppen“ im bisher vielleicht noch „freien Westen“, dass sie diese Gefahr beim Namen nennen (und wer soll es denn sonst tun?), denn dann wird die befürchtete Gefahr vielleicht nicht volle Wirklichkeit, aber auf jeden Fall, würde somit auch Anna Politkowskaja die Ehre erwiesen, die sie verdient hat.

  6. @ Herr Binsack:

    Ich widerspreche Ihnen inhaltlich ja gar nicht. Nehmen Sie unsere Kommentierung in Ihrer Gesamtheit, und Sie werden genau diese Sorge exakt wiederfinden. Gerade Karl Grobe hat den Putismus und die „gelenkte Demokratie“ mehrfach scharf analysiert.

    Hier geht es doch erstmal nur um ein formales Problem: Solche Mutmaßungen – so plausibel, ja zwingend sie auch sein mögen – haben in einem nachrichtlichen Text nichts zu suchen. Sowas gehört auf die Meinungsseiten, in die Kommentare oder in Interviews, und genau dort finden Sie das auch in der FR. Es gehört nicht in einen nachrichtlichen Text, der sich auf die reine Information zu beschränken hat.

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