Das Gesundheitssystem ist grundsätzlich unethisch

Mancher Chefarzt bekommt mehr Geld, wenn er mehr operieren lässt – für Patienten ist das eine Gefahr. Jetzt will die Regierung für mehr Transparenz sorgen. Die FR berichtete unter anderem online im Artikel „Regierung prangert Operations-Boni an„. Dazu erreicht mit folgender Leserbrief von Manfred Fiedler aus Castrop-Rauxel, den ich hier als Gastbeitrag veröffentliche:

Das Gesundheitssystem ist grundsätzlich unethisch

Ich selbst habe, als ehemaliger Krankenhausgeschäftsführer, Verträge mit variabler Vergütung mit leitenden Ärzten abgeschlossen. Aus meiner Sicht war keiner dieser Verträge unethisch. Diese Verträge wurden grundsätzlich mit Neuverträglern abgeschlossen. Allerdings stand es auch Altverträglern offen, auf diesen neuen Vertrag zu wechseln. Davon haben auch Einzelne Gebrauch gemacht. Ein Chefarzt gab zu, dass er nun froh sei, keinen Unterschied mehr zwischen Privat- und Kassenpatienten machen zu müssen, sich nicht mehr fragen müsse, wer ihm mehr Einkommen beschere. In den Altverträgen hat der Arzt für fünf bis zehn Prozent der Erlöse bis zu 90 % seines Einkommens erzielt. Der Hauptjob war (und ist) damit nur die Eintrittskarte zu diesem lukrativen ‚Nebenerwerb‘. Ethisch bedenklich sind solche Altverträge nicht weniger, nur anders.

Überhaupt ist immer noch der geringste Teil der Verträge mit den inkriminierten Passi versehen. Sie erklären also nicht den sprunghaften Anstieg der Krankenhausfälle ab 2005. Es ist auch ohne neuen Arbeitsvertrag möglich, mit jedem leitenden Arzt Zielvereinbarungen abzuschließen. Für das Krankenhaus ist dieses sogar zwingende betriebliche Notwendigkeit. Und auch gibt es andere Möglichkeiten die Relevanz von Zielvereinbarungen zu erhöhen, als unmittelbar am Einkommen anzusetzen. Die einfachste Möglichkeit ist es, Ergebnisse der einzelnen Fachabteilungen innerbetrieblich zu veröffentlichen, das heißt als Sanktion das Bloßstellen oder das öffentliche Loben, des ärztlichen Abteilungsleiters. Auch kann man einem Chefarzt zusätzliches Personal gewähren, zum Beispiel für die Ambulanz oder für die klinische Forschung, oder eben streichen, wenn seine betrieblichen Ergebnisse entsprechend ausfallen. Auch besteht die Möglichkeit der jeweiligen Abteilung bei guten Ergebnissen zusätzliche Gelder für die Investitionen in medizintechnische Geräte auszuloben, vice versa. Und schließlich nehmen verantwortungsbewusste Menschen den Systemdruck auch ohne geldliche Be-lohnung an.

Die Arbeitsverträge mit variabler Vergütung erleichtern die Verknüpfung des Individualinteresses des einzelnen Arztes mit den Zielen des Krankenhauses, sind aber nicht die Ursache der Fallzahlausweitung. Es sind die wirtschaftlichen Zwänge und unternehmerischen Ziele, die aus dem politisch gewollten leistungsorientierten Vergütungssystem resultieren oder ermöglicht werden, dass just zu dem Zeitpunkt eingeführt wurde, als die Fallzahlen nach oben gingen.

Jeder, der sich mit Vergütungen im Gesundheitssystem befasst hat, hätte wissen können dass wirt-schaftliche Anreize zur Leistungsausweitung in der Regel auf fruchtbaren Boden fallen, schließlich bestimmt im Gesundheitssystem das Angebot die Nachfrage. Man hätte nur auf jahrzehntelange Erfahrungen mit der Einzelleistungsvergütung bei den niedergelassenen Ärzten schauen müssen. Für die Beteiligten m Gesundheitssystem ist ein zu ethisches Verhalten betriebswirtschaftlich und damit existenziell schädlich. Dies gilt verstärkt in Krankenhäusern, da ein großer Teil der Kosten kurz- bis mittelfristig fix sind, hingegen die Ausgleichsregelungen für Minderleistungen und Tarifabschlüsse durch den Gesetzgeber massiv verschärft worden sind. Hinzu kommt, dass in den letzten zehn bis 15 Jahren Investitionen in Krankenhausneubauten und-teilneubauten, in Medizingeräte und so weiter zunehmend durch Kredite oder Eigenmittel finanziert werden müssen. Dieses bedeutet, dass Krankenhäuser durch ihre Leistungen die Finanzierungskosten, Abschreibungen und Zinsen, aus dem Erlösbudget finanzieren müssen. Diese Anforderung erhöht die Last der fixen Kosten. Die Auslastung der Einrichtungen und Geräte ist nun, politisch gewollt, relevant für deren Refinanzierung. Auch dieses ist keine wirklich überraschende Erkenntnis.

Auf diese Bedingungen müssen Zielvereinbarungen reagieren. Die neuen Verträge erleichtern das nur, weil sie unmittelbar beim einzelnen Arzt ansetzen. Das ethisch Fragwürdige resultiert aber aus dem Krankenhausfinanzierungssystem und nicht aus den Arbeitsverträgen. Dies dürfen Funktionäre allerdings nicht sagen, sie müssen das System gut finden. Bestimmte, nämlich die der privaten Krankenhäuser, brauchen dabei noch nicht mal lügen. 80 Prozent der Fallzahlsteigerung zwischen 2005 und 2010 haben schließlich bei privaten Krankenhausträgern stattgefunden, wenn auch etwa 60 Prozent davon aus dem Aufkauf von Krankenhäusern resultieren. Das derzeitige Recht der Krankenhausfinanzierung fördert sowohl die Privatisierung/Kommerzialisierung als auch die Leistungsausweitung. Das System ist damit grundsätzlich unethisch, da wirtschaftliche Anforderungen medizinische Entscheidungen bestimmen. Die Zielvereinbarungen zwingen, mit oder ohne neuen Arbeitsvertrag, auch solche Ärzte in das System, die vorher ihr persönliches Einkommensinteresse hinter die Ethik medizinischen Handelns zurückgestellt haben. Die Diskussion um die neuen Arbeitsverträge ist die Diskussion um den Schwanz, der mit dem Hund wackelt.

Die Leistungsausweitungen sind ohne jeden Zweifel systembedingt. Wer, wie die herrschende gesundheitsökonomische Denkrichtung und dem folgend die aktuelle Gesundheitspolitik, mit ökonomischen Mitteln an den Egoismus der Beteiligten appelliert, darf sich nicht wundern, wenn die Beteiligten dann auch so handeln. Und er ist verlogen, wenn er es im Nachhinein beklagt.

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Dieser Leserbrief wurde in gekürzter Fassung auch in der Print-FR veröffentlicht.

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2 Kommentare zu “Das Gesundheitssystem ist grundsätzlich unethisch

  1. Kommt alles nur von der Diskreditierung des Gewissens.
    Wer diesen Satz nicht versteht, ist Teil des Problems.

  2. Herr Fiedler hat das herbei“reformierte“ – politisch gewollte – Gesundheitssystem nur zu genau beschrieben.

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